Eisiger Rückgang

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Gastkommentar von Dirk Notz

altEs ist beinahe schon zur Routine geworden: Jeden Sommer geht der Blick der Klimainteressierten immer wieder auf die neuesten Daten zur Meereisentwicklung in der Arktis, die täglich z.B. vom amerikanischen National Snow and Ice Datacenter zur Verfügung gestellt werden. Und immer wieder stellt sich zu Beginn des Sommers die Frage, ob der derzeitige Trend der Meereisausdehnung möglicherweise zu einem neuen Rekordminimum führen könnte, die eisbedeckte Fläche im September also kleiner wäre als jene im Rekordsommer 2007.

Bevor hier jedoch näher auf die zukünftige Entwicklung eingegangen wird, erscheint es sinnvoll, noch einmal kurz auf den vergangenen Winter zurückzublicken, auf einen Winter, der wohl den meisten Mitteleuropäern als außergewöhnlich kalt, schnee- und eisreich in Erinnerung bleiben wird. Teilweise wurde aufgrund der anhaltenden Kälte (und der eisbedeckten Gehwege) geäußert, dass die globale Klimaerwärmung wohl nicht so schlimm sein könne, wenn wir immer noch so kalte Winter erleben. Allerdings übersieht eine solche Schlussfolgerung völlig, dass ‘Klima’ (und insbesondere globales Klima) nicht zu den Dingen gehört, die einzelne Personen zu einem bestimmten Zeitpunkt am eigenen Leib erfahren könnten – alles, was wir jemals als Einzelpersonen erleben können, ist Wetter. Klima hingegen lässt sich nur durch langjährige Messungen definieren, da der Begriff ‘Klima’ das mittlere Wetter über einen längeren Zeitraum beschreibt.

Die Schlussfolgerung, dass ein kalter Winter in Mitteleuropa als Indiz gegen die Klimaerwärmung gewertet werden kann, erscheint erst recht voreilig, wenn man die mittlere Temperatur der gesamten Erdoberfläche in den letzten Monaten betrachtet: diese lag permanent nahe Rekordwerten (siehe Heißer Winter und Rekord-April); die abgelaufenen 12 Monate waren laut NASA GISS-Daten die wärmste 12-Monatsperiode seit Beginn der Messungen vor 130 Jahren. Für das Meereis war dabei von Bedeutung, dass insbesondere in der Arktis die Temperaturen zumindest in den ersten Wintermonaten deutlich über dem langjährigen Mittel lagen, wie unsere Arbeitsgruppe im Rahmen eines Feldexperiments an der Westküste Grönlands am eigenen Leib erfahren durfte.

Ziel dieses Experiments war es,  einen ganzen Winter lang die Entstehung und das Wachstum von Meereis detailliert zu untersuchen. Um auch ein genaues Bild über die anfängliche Entwicklung zu erhalten, wollten wir mit den Messungen schon vor dem Beginn der Eisbildung beginnen. Wir hatten daher unsere Messbojen im November im offenen Wasser ausgesetzt und hofften, dass sich anschließend  möglichst schnell im offenen Wasser Meereis bilden würde, welches die sensiblen Messbojen z.B. vor dem Einfluss von Stürmen schützen könnte. Doch bei Temperaturen, die zum Teil mehr als 8°C über dem langjährigen Mittel lagen, ließ das Eis auf sich warten. Selbst im Januar regnete es teilweise tagelang, und erst im Februar bildete sich eine halbwegs stabile Eisdecke aus, die natürlich aufgrund der kurzen Wachstumsperiode relativ dünn blieb und bereits Mitte Mai wieder weitestgehend weggeschmolzen war.  
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Abb.1: Temperaturanomalie in der ersten Januarhälfte 2010 im Vergleich zu den Jahren 1969-1996. Deutlich sind die hohen Temperaturen in der Arktis und in Grönland sowie die niedrigen Temperaturen über Nordeuropa und Teilen Nordamerikas zu erkennen.

Die Tatsache, dass es während dieses Feldexperimentes in Grönland im Winter teilweise wärmer war als in Deutschland, hat uns zunächst sehr überrascht. Neueste Studien deuten jedoch daraufhin, dass eine solche Temperaturverteilung auf der Nordhalbkugel mit ungewöhnlich warmen Temperaturen in Teilen der Arktis und ungewöhnlich kalten Temperaturen z.B. in Nord- und Mitteleuropa in Zukunft häufiger auftreten könnte. Dies liegt daran, dass sich aufgrund des Rückgangs des  Meereises in der Arktis dort im Winter immer häufiger stabile Hochdruckwetterlagen ausbilden können. Durch solche Wetterlagen würden die polaren Windsysteme beeinflusst, so dass es zu vermehrten Kaltluftausbrüchen aus der Arktis in Richtung Süden kommen kann. Es könnte daher durchaus sein, dass die globale Klimaerwärmung und der Rückgang des Meereises in Zukunft dazu führen, dass kleinere Teile der Nordhalbkugel im Winter längere Kältewellen erleben werden. Die mittlere Temperatur der Nordhalbkugel wird allerdings trotz dieser lokalen Effekte weiter ansteigen.
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Abb.2 Entwicklung der Meereisausdehnung in der Arktis von September 2009 bis Mitte Mai 2010. Die blaue Linie zeigt die mittlere Ausdehnung in den Jahren 1979 bis 2000 an, der hellblaue Bereich zeigt die Schwankungsbreite in diesem Zeitraum an (± 2 Standardabweichungen)

Aber zurück zur diesjährigen Entwicklung des Arktischen Meereises: Nachdem dessen Ausdehnung  in den ersten Wintermonaten aufgrund der relativ hohen Temperaturen deutlich unter dem langjährigen Mittel geblieben war, sanken die Lufttemperaturen im März besonders im Bereich der Barentssee und der Beringsee für einige Wochen deutlich ab, so dass sich in diesen Regionen eine dünne Eisdecke ausbilden konnte. Diese dünne Eisdecke führte dazu, dass sich die Gesamtfläche des Eises beinahe auf ihren langjährigen Mittelwert vergrößerte – für die Messung der Eisausdehnung spielt es nämlich keine Rolle, wie dick das Eis ist. Insofern bleibt ein Blick auf die “Erholung” der Eisausdehnung immer etwas oberflächlich, es lässt sich nämlich nicht erkennen, wie dick dieses Eis ist. Deutlich aussagekräftiger für eine Beurteilung des derzeitigen Zustandes der Arktis wäre daher eine Abschätzung des Eisvolumens, wofür zusätzliche Messungen der Eisdicke erforderlich wären. Solche Messungen sind bisher allerdings leider nicht kontinuierlich möglich gewesen. Erst durch den erfolgreichen Start des Europäischen Satelliten Cryosat 2 dürfte sich das in den nächsten Monaten ändern.

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Abb. 3 Entwicklung der Meereisausdehnung in der Arktis seit April 2010 im Vergleich zum Rekordjahr 2007 und dem Vorjahr 2009. Die blaue Linie zeigt die mittlere Ausdehnung in den Jahren 1979 bis 2000 an, der hellblaue Bereich zeigt die Schwankungsbreite in diesem Zeitraum an (± 2 Standardabweichungen)

Aufgrund der sehr geringen Eisdicke großer Teile des Arktischen Meereises  war es nicht wirklich überraschend, dass zum Ende des Winters die Eisausdehnung in der Arktis rasch zurückging und inzwischen eine Ausdehnung erreicht hat, die deutlich unterhalb vom langjährigen Mittel liegt. Die derzeitige Eisausdehnung ist sogar geringer, als im Rekordjahr 2007 zum gleichen Zeitpunkt beobachtet worden war. Allerdings lässt sich aus dieser Tatsache nicht allzu viel über die weitere Entwicklung des Eises ablesen, da sich im Jahr 2007 aufgrund einer sehr stabilen Hochdrucklage der Eisrückgang Ende Juni noch einmal deutlich beschleunigt hatte. Das Meereis in der Arktis ist inzwischen so dünn geworden, dass es sehr sensibel auf das in einem bestimmten Sommer vorherrschende Wetter reagiert (siehe Beitrag “Ende des Schmelzens”). Sollte sich daher im Laufe des Sommers in der Arktis ein ähnlich stabiles Hochdrucksystem ausbilden wie 2007, so könnten wir durchaus ein neues Extremminimum erleben. Wird aber der Sommer ein wenig kälter als in den letzten Jahren, wäre auch eine Eisausdehnung ähnlich jener im Sommer 2009 keine allzu große Überraschung. Es bleibt daher im Moment also nur abzuwarten – und immer wieder den Blick auf die neuesten Messdaten zu werfen.

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Abb.4 Meereisbedeckung des Arktischen Ozeans am 28. Juni 2010. Die orange Linie stellt die mittlere Ausdehnung am 28. Juni in den Jahren 1979 bis 2000 dar.

Dirk Notz leitet die Forschungsgruppe “Meereis im Erdsystem” am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg.

Stefan Rahmstorf ist Klimatologe und Abteilungsleiter am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und Professor für Physik der Ozeane an der Universität Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Klimaänderungen in der Erdgeschichte und der Rolle der Ozeane im Klimageschehen.

6 Kommentare

  1. wirklich?

    hmmm, also weniger Eis zu Winterbeginn soll die Ausbildung von Hochdruckgebieten begünstigen? Als Meteorologe würde ich eher Gegenteiligem zustimmen, aber bitte.

    Ich glaube auch nicht, dass das Min. im Spet. primär von stabilen Hochdruckgebieten über der Arktis beeinflusst wird. Wohl eher durch die Druckverteilung und die daraus resultierenden Winde und Strömungen, welch ua. in der Lage sind, mehr od. weniger Eis in südliche Regionen zu transportieren. Mag sein, dass ein sich im Uhrzeigersinn drehendes Hoch über dem N Pol mehr Eis Richtung S transportiert und auch weniger Bewölkung vulgo mehr Strahlungsgenuss am Boden verursacht.

    Übrigens ist es im Süden Grönlands mehrmals pro Winter deutlich wärmer als in Deutschland, dass ist alles andere als ungewöhlich, man muss nur hin und wieder einen Blick auf die Wetterkarten werfen…

    [Antwort: Der Zusammenhang zwischen dem Eisrückgang und der Bildung
    von Hochdruckgebieten war tatsächlich missverständlich
    ausgedrückt. Der Rückgang des Eises führt nicht lokal zur
    Bildung eines Hochdrucksystem, erhöht aber die
    Wahrscheinlichkeit für stabile Hochdrucksysteme über
    Sibirien. Für Details siehe z.B. “Honda, M. et al.,
    Influence of low Arctic sea‐ice minima on anomalously cold
    Eurasian winters. Geophys. Res. Lett. 36 (2009)
    http://www.agu.org/journals/gl/gl0908/2008GL037079/

    Sie haben Recht, dass die Änderung des vorherrschenden
    Windes im Sommer 2007 zum starken Eisrückgang beigetragen
    hat. Weitaus wichtiger scheint aber tatsächlich das lokale
    Schmelzen gewesen zu sein (siehe z.B. Zhang, J., Lindsay,
    R., Steele, M. & Schweiger, A. What drove the dramatic
    retreat of arctic sea ice during summer 2007? Geophys. Res.
    Lett. 35 (2008) http://www.agu.org/journals/gl/gl0811/2008GL034005/) Dirk Notz]

  2. Veranschaulichung

    Hallo Herr Notz, Darf ich vorschlagen, ein Animationsvideo zur Erklärung des Zusammenhangs zwischen Eisrückgang, immer häufiger stabile Hochdruckwetterlagen im Arktis und vermehrte Kaltlufausbrüche Richtung Süden aufzuschalten?

    Denn einerseits wird das Verständnis hierfür nach ein paar Semestern bei Ihnen wohl im Studium/Forschung vorausgesetzt bloss wäre so eine Animation bei der anstehenden Volksaufklärung für Nichtklimatologen dringend notwendig. Da Sie selber das Problem schon erkannten: der Mensch fühlt das Wetter und nicht das Klima. Und wieviele können die Enstehung von Hoch- und Tiefdruck erst erklären?

    [Antwort: Das ist ein guter Vorschlag, den ich gern in einem weiteren
    Beitrag aufnehmen werde. Dirk Notz]

  3. Arktische Oszillation

    Die warmen Winter-Temperaturen in der Arktis und den kalten Winter in großen Teilen von Europa und der USA hatten wir einem winterlichen Rekordtief der Arktischen Oszillation (AO) zu verdanken.

    http://www.cpc.noaa.gov/…b50.current.ascii.table

    Die AO ist ein natürlicher Faktor, der sich u.a. maßgeblich auf die Meereisbildung in der Arktis auswirkt.

    Die Meereisanomalie in der Arktis ist übrings noch einiges weg vom Rekordminimum im Herbst 2007.

    ftp://ftp-projects.zmaw.de/…ASI_area-anomaly.png

    [Antwort: Der Rückgang von Meereis führt, wie in der erwähnten Studie
    von Honda et al. gezeigt, zu entsprechenden Veränderungen
    z.B. der NAO, die dann wiederum auf unser Wetter rückwirken.
    Es handelt sich also hierbei um eine Rückkopplungsschleife,
    die sich isoliert betrachtet selbst verstärken könnte:
    Weniger Eis führt zu Änderungen in den vorherrschenden
    Drucksystemen, die einen weiteren Rückgang des Eises
    begünstigen können. Dirk Notz]

  4. Crush Ice

    http://ice-map.appspot.com/…yir=2010&day=183

    Auf den Satelittenaufnahmen sieht das Eis, gerade dort wo es sonst am dicksten ist, erheblich ‘krümeliger’ aus als letztes Jahr zur gleichen Zeit.

    Kann es sein, dass der stärkste Effekt womöglich der ist, dass die nun kleineren Eisschollen schneller von den Strömungen und vom Wind in den Atlantik gedrückt werden und dort schmelzen?

  5. Antarktis (2)

    Danke für den Link. Laut Turner et al. (2009) sollen also verstärkte zirkumantarktische Winde für den Zuwachs des antarktischen Meereises verantwortlich sein.

    Wie bereits von den Herren Innerhofer und Notz andiskutiert, spielten verstärkte Winde wohl auch eine große Rolle beim Rückgang des arktischen Meereises 2007. Hierüber finde ich in der zitierten Kopenhagen Diagnose aber seltsamerweise nichts (ich hoffe, ich habe da nichts überlesen).

    [Antwort: Die Copenhagen Diagnosis erläutert in aller Kürze die Klimatrends, aber nicht, wieso nun ein Jahr über oder ein anderes unter der Trendlinie liegt – das ist Wetter. Klima und Wetter werden von Laien leider oft durcheinander gebracht. Stefan Rahmstorf]