Noch ein Versuch zur Klärung in 3 Teilen – Teil 3: Was bedeutet „Esoterik“ und weshalb finden wir, daß dieser Begriff die „Unani Medicine“ nicht angemessen beschreibt?

BLOG: Indische Medizin im Wandel

Der Forschungsblog
Indische Medizin im Wandel

Nachdem im letzten Teil dieses Klärungsversuchs unsere Verwendung des Medizinbegriffs und die Gründe dafür erklärt wurden, bleibt der letzte Streitpunkt übrig: Einige Diskutanten glaubten offenbar, wenn ich sage, daß mir „Esoterik“ nicht als passende Bescheibungskategorie für die „Unani Medicine“ erscheint, soll das heißen, ich finde „Unani Medicine“ gut. Das ist aber falsch.

Es geht hier nämlich um zwei ganz unterschiedliche Ebenen: die der Beschreibung und die der Bewertung. Wenn ich eine korrekte Beschreibung einer Sache liefern möchte, bedeutet das noch nicht, daß auch gleich eine Bewertung enthalten ist. Die Aussage: „Diese Beschreibung ist falsch“ ist NICHT gleichbedeutend mit der Aussage: „Ich finde den beschriebenen Gegenstand gut“.

Das heißt: Wenn ich den Begriff „Esoterik“ für eine sachlich unzutreffende Beschreibung für die „Unani Medicine“ halte, dann heißt das NICHT, daß ich die „Unani Medicine“ gut fände.

Als Kulturwissenschaftlerinnen können die Autorinnen dieses Blogs selbstverständlich KEINE naturwissenschaftliche Bewertung der „Unani Medicine“ vornehmen. Über eine solche Bewertung können wir im besten Fall private Meinungen mit den Diskutanten austauschen, keine professionellen wissenschaftlichen Standpunkte. Daher haben wir Stellungnahmen zur naturwissenschaftlichen Bewertung der „Unani Medicine“ verweigert. Obwohl die Diskussion auf einem Wissenschaftsblog stattfand, wollten das aber viele Diskutanten offenbar nicht verstehen.

Um die „Esoterik“-Diskussion für diesen Blog endgültig zu beenden, soll jetzt geklärt werden, warum wir „Esoterik“ für eine sachlich unzutreffende Beschreibung der „Unani Medicine“ halten. Dazu ist zunächst zu klären, was „Esoterik“ überhaupt bedeutet. Suchen wir wieder die allgemein akzeptierte Sprachkonvention auf, wie sie der DUDEN verzeichnet. Dieses Mal finden wir zwei Bedeutungen, die wir prüfen müssen:

„1. a. Grenzwissenschaft (2)

b. weltanschauliche Bewegung, Strömung, die durch Heranziehung okkultistischer,  anthroposophischer, metaphysischer u. a. Lehren und Praktiken auf die Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung des Menschen abzielt“ (http://www.duden.de/rechtschreibung/Esoterik, zuletzt eingesehen am 10.02.2013)

Nehmen wir uns zunächst die zweite Bedeutung vor, so müssen wir feststellen, daß es sich bei der „Unani Medicine“ überhaupt nicht um eine Bewegung oder Strömung handelt, die auf die Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung des Menschen abzielt – mit welchen Mitteln auch immer. Es handelt sich vielmehr um ein Wissensgebiet, das sich mit dem menschlichen Körper,  der Erhaltung von Gesundheit und der Bekämpfung von Krankheiten befaßt. Im zweiten Sinne ist es also keine „Esoterik“, weil die Definition schlicht nicht zutrifft.

Die erste Bedeutung müssen wir weiter klären: Was versteht man unter einer Grenzwissenschaft? DUDEN sagt:

„1. Wissenschaft, die sowohl zu dem einen als auch zu dem anderen von zwei benachbarten Wissenschaftsbereichen gehören kann

2. <meist im Plural> wissenschaftliche Beschäftigung mit Phänomenen (aus dem Bereich der Parapsychologie u. a.), die dem rationalen Denken nicht zugänglich sind; Esoterik (3)“ (http://www.duden.de/rechtschreibung/Grenzwissenschaft, zuletzt eingesehen am 10.02.2013)

Die erste Bedeutung zielt augenscheinlich nicht auf einen Zusammenhang mit „Esoterik“ ab, kann hier also außen vor bleiben. Auch die zweite Bedeutung trifft auf die „Unani Medicine“ nicht zu: Ihre Vertreter beschäftigen sich weder mit Parapsychologie noch mit anderen Phänomenen, die dem rationalen Denken nicht zugänglich sind, sondern mit dem menschlichen Körper, mit Gesundheit und Krankheit und der Heilung von Krankheiten. Dabei werden auch in der „Unani Medicine“ Krankheiten durch Wirkstoffe (Heilpflanzen in aufbereiteter Form) oder physikalische Einwirkung auf den Körper (Einrenken, Schröpfen etc.) behandelt.

Für viele Wirkstoffe und physikalische Behandlungen mag es derzeit keinen wissenschaftlichen Nachweis darüber geben, ob sie tatsächlich in der gewünschten Weise wirken und wie das genau vonstatten geht. Aber man kann sie grundsätzlich durchaus wissenschaftlich auf ihre Wirksamkeit hin untersuchen, und zwar nach den Kriterien der modernen Schulmedizin/evidenzbasierten Medizin. Genau das streben viele Vertreter der „Unani Medicine“ heutzutage an. Nichts davon entzieht sich also dem, was wir in unserer Kultur unter rationalem Denken verstehen.

Damit trifft keine der genannten Bedeutungen von „Esoterik“ auf die „Unani Medicine“ zu, und genau deshalb ist die Bezeichnung „Esoterik“ schlicht sachlich falsch. Ob die „Unani Medicine“ der wissenschaftlichen Überprüfung auch standhält, ist eine ganz andere Frage – die wir aber NICHT erforschen können und wollen.

Zugegeben: Uns erscheint es tatsächlich nicht allzu wahrscheinlich, daß sämtliche Wirkstoffe, die über Jahrhunderte hinweg immer wieder angewendet wurden, völlig wirkungslos sind oder ganz anders wirken als behauptet. Denn letzten Endes haben sich auch die historischen Vorläufer der „Unani Medicine“ aufgrund von Beobachtung und Ausprobieren entwickelt, ebenso wie die mittelalterliche europäische Medizin, mit der sie zentrale Texttraditionen teilt. Doch es ist nicht unsere Sache zu überprüfen, ob die Wirkstoffe und sonstigen Therapien der „Unani Medicine“ wirklich heilen oder ob sie besser oder schlechter sind als die Arzneimittel und Therapien der modernen Schulmedizin/evienzbasierten Medizin. Das ist nicht Thema dieses Blogs und wird es auch in Zukunft nicht werden.

Klar ist natürlich, daß die traditionelle Säftelehre nicht mehr haltbar ist. Uns interessiert das aber weniger als die Frage, wie die Vertreter der „Unani Medicine“ damit umgehen, daß sie die Erkenntnisse der modernen Schulmedizin/evidenzbasierten Medizin anerkennen, aber gleichzeitig alte Erklärungsmuster weitertragen. Wie interpretieren sie die Säftelehre vor dem Hintergrund heutiger Erkenntnisse? Oder lassen sie zwei unterschiedliche Konzepte von Körper einfach nebeneinander stehen? Und wenn ja, wieso stören sie sich nicht an den Widersprüchen? Kann man sich heutige Phänomene aus der historischen Entwicklung erklären? Und wie genau ist die Entwicklung abgelaufen? DAS sind die Themen, die uns interessieren.

Jemand hatte in die Diskussion geworfen, es könne uns doch egal sein, ob „Unani Medicine“ als „Esoterik“ bezeichnet werde oder nicht, denn das sei ja keine geisteswissenschaftliche Fragestellung. Ich glaube, der Diskutant meinte damit: Ob die „Unani Medicine“ naturwissenschaftlich nachweisbar wirksam ist, sei keine geisteswissenschaftliche Frage. Damit hat er recht, und das habe ich hoffentlich mit den drei Teilen meines Klärungsversuches deutlich gemacht. Ob „Esoterik“ aber eine wissenschaftlich gerechtfertigte Beschreibung für die „Unani Medicine“ ist, das ist sehr wohl eine geisteswissenschaftliche Frage, weil es dabei um die Frage geht, ob der Begriff der Sache angemessen ist.

Natürlich hatte der Diskutant insofern recht, als „Esoterik“ hier in der Diskussion als Kampfbegriff für „nicht naturwissenschaftlich bewiesene Pseudoheilungsverfahren oder deren Propagierung“ verwendet wird. Solche Polemik mag im Streit um die Wirksamkeit von Heilverfahren von den Vertretern der modernen Schulmedizin/evidenzbasierten Medizin als sinnvolle oder sogar notwendige Methode zur Abgrenzung betrachtet werden. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist es eine unpassende Etikettierung, und daher wäre es aus unserer Sicht unwissenschaftlich, dem nicht zu widersprechen.

Avatar-Foto

Veröffentlicht von

Dr. Susanne Kurz hat in Tübingen Islamwissenschaft und Religionswissenschaft studiert und beschäftigt sich vor allem mit der Geschichte und Kultur des persischsprachigen Raumes vom 11. bis 19. Jahrhundert. Sie interessiert sich besonders für humoristische Literatur und Geschichtsschreibung und hat sich seit 2008 auch der medizinischen Literatur in persischer Sprache zugewandt.

10 Kommentare

  1. Danke!

    Freue mich enorm, dass Ihr wieder “online” seid!

    Und zum Thema: Ganz abgesehen davon, dass die historischen Verflechtungen der Medizintraditionen schon an sich interessant und der Forschung wert sind, kann ich Eurer Unterscheidung von Beschreibung und Bewertung nur zustimmen!

    Es wäre ja in meinem Fach auch nicht in Ordnung, z.B. den sibirischen Schamanismus religionswissenschaftlich als “Aberglauben” zu titulieren. Man kann dieser Auffassung aus einer je religiösen oder weltanschaulichen Sicht sein, doch muss kulturissenschaftlich jede Vor-Urteilung vermieden werden, um empirisch und vergleichend forschen zu können.

    Beste Grüße, Michael

  2. Esoterik falsche Kategorie für Unani

    Esoterik ist ein Begriff aus dem westlichen Kulturraum. Für Unani als Form der traditionellen Medizin in einem ganz anderen Kulturraum ist der Begriff nicht geeignet – ausser man wolle Unani als Alternative zur hier praktizierten Medizin für hier lebende Menschen propagieren. Dann könnte der Begriff Esoterik durchaus angebracht sein.

    In der Diskussion über den Beitrag Unani, Medizin und Esoterik ging es aber im Kern nicht um die Frage ob Unani-Medizin Esoterik sei oder nicht. Sondern es ging um die Relativierung der westlichen, evidenzbasierten Medizin. Und diese Relativierung ist/war offensichtlich.

    Hier noch einmal ein paar gekürzte Zitate um dies aufzuzeigen:
    “..Einer der Gründe dafür [warum bei der Schulmedizin “Wissenschaftlichkeit” wichtig sei] ist unser leistungsorientiertes Gesundheitssystem, das nur für Behandlungen zahlt, deren Effektivität bewiesen ist. Daher wurde es wichtig, beispielsweise die Effektivität von bestimmten Behandlungen, insbesondere mit Blick auf Preis-Leistungsverhältnisse, zu überprüfen, damit sie vom System unterstützt werden.”

    vom System unterstützt werden kann nur jemand schreiben, der nicht viel vom System hält.
    “Heutzutage hat die Schulmedizin in Deutschland eine zweifellos hegemoniale Stellung in unserer Gesellschaft, da unser Gesundheitssystem überwiegend, aber nicht exklusiv, diese spezifische Form von medizinischem Verständnis und Praxis unterstützt.”

    “Hegemoniale Stellung” ist alles andere als ein wertfreier Begriff.

    ” Daher wurde es wichtig, beispielsweise die Effektivität von bestimmten Behandlungen, insbesondere mit Blick auf Preis-Leistungsverhältnisse, zu überprüfen, damit sie vom System unterstützt werden.”

    Das ist nichts anderes als eine negative Bewertung der Schulmedizin.

    “Es ist nicht meine Absicht, hier die Wissenschaftlichkeit der Biomedizin in Frage zu stellen.”

    Biomedizin ist – wie wohl jeder empfindet – ein abwertender Begriff für die Schulmedizin mit dem impliziten Vorwurf, die hier gängige Medizin kümmere sich nur um die Biologie.

    “Vielmehr versuche ich, durch diese Fragen zu verdeutlichen, dass das, was wir als wissenschaftlich begreifen, auch nur Ausdruck eines bestimmten Verständnisses von Gesundheit, Krankheit und Heilung ist, das in unserer Zeit eine dominierende Stellung eingenommen hat und das durch bestimmte Gegebenheiten (z.B. das wirtschaftliche System) geprägt ist.”

    Mit anderen Worten: Der Begriff Wissenschaftlichkeit überdeckt nur die eigentliche Wahrheit: Die tiefere Logik für die Art der medizinischen Behandlung hier ist unser wirtschaftliches System.

    Fazit: Esoterik ist der falsche Begriff aus einer falschen Kategorie für den Untersuchungsgegenstand Unani-Medizin – ausser man propagiert diese Medizin als wirkliche Alternative auch für Menschen, die in unserem System leben. Genau das machte aber der Vorgängerartikel “Unani, Medizin und Esoterik”

  3. Sehr interessant!

    Vielen Dank für diese ausführliche, klare und, wie ich finde, sehr gelungene grundsätzliche Einführung in eure Forschung!

    Ich glaube bzw. ich fürchte, dass manche mit dieser grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Beschreibung und Bewertung nicht vertraut sind; und dass man beispielsweise die historischen, kulturellen und sozialen Aspekte von etwas untersuchen kann, ohne dieses Etwas damit gleich auf- oder abzuwerten.

    An der Universität Witten-Herdecke findet am 1./2. März eine interessante Tagung statt – Was ist Geist? 2. Wittener Kolloquium Humanismus, Medizin und Philosophie –, an der ich leider selbst aus Zeitgründen nicht teilnehmen kann. Das Programm ist vielvesprechend:

    Die naturwissenschaftliche Medizin hat zur gesicherten Erkenntnis geführt, dass es im Menschen keine lebendigen, seelischen und geistigen Prozesse gibt, die nicht durch konkrete materielle Korrelate des Organismus bedingt sind. Ob dieses Bedingtsein allerdings identisch ist mit Verursachtsein, und ob damit dem Geistigen ein eigner Seinswert abgesprochen werden kann, bleibt zu klären. Sicher ist, dass viele Patienten trotz den enormen Erfolgen der modernen Medizin zunehmend unzufrieden sind mit einer medizinischen Auffassung und Praxis, die Gesundheit und Krankheit letztlich rein materiell interpretiert.

  4. Medizin ist Kunst und keine angewandte Wissenschaft, auch wenn dort Wissenschaft angewendet wird und werden sollte. Wenn ein Haus gebaut wird, sollte dies ein in erster Linie ein kultureller Ausdruck und im besten Fall Kunst und nicht angewandte Wissenschaft sein, auch wenn ich nicht in ein Haus treten würde, in dem die Gesetzte der Physik missachtet werden.
    So sollte auch Medizin eine Heilkunst sein. Die Biologie sollte die Wirksamkeit verschiedener Maßnahmen und Behandlungen jedenfalls prüfen und jede Heilkunst, die sich dieser wissenschaftlichen Prüfung verweigert ist bestenfalls fahrlässig, wenn nicht kriminell.
    Trotzdem hat uns die sogenannte alternative Medizin, wenn sie überhaupt Medizin genannt werden dürfte, etwas wichtiges zu sagen, dass nämlich, ein achtungsvoller, ermutigender Dialog und ein würdevoll gestalteter Umgang mit dem Patienten oft wichtiger ist als wirksame Medikamente.
    Ich erwarte von einem Arzt, dass er handwerklich korrekt Arbeitet, also die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigt und alle inneren Organe genau kennt.
    Ich erwarte nicht, dass ein Arzt korrekte wissen­schaftliche Experimente an mir durchführen kann. Das erwarte ich von einem Wissenschaftler, der dem Mediziner zuarbeitet, so dass seine Sachkenntnisse gut begründet und wissenschaftlich fundiert sind.
    Medizin ist wissenschaftlich fundierte Heilkunst, aber eben auch Kunst, Ausdruck der Begegnung von Menschen.

    Evidenz: Auch „alternative Medizin“ kann und muss auf Wirksam­keit geprüft werden.
    Ein prüfbarer Mechanismus ist die beste Form der Bestätigung, aber auch die einfachste Form der Quantifizierung ist schon gut und in jedem Fall als mindeste zu fordern. Diese besteht im einfachsten Fall in der einfachen subjektiven oder objektiven Unter­scheidung „geheilt/nicht-geheilt“ (Null und Eins), durch einem klassischen Doppelt-Null-Versuch.
    Die Methode der Diagnose oder Klassenbildung ist dabei zweitrangig.

    Eine Ethnologische Untersuchung hat mit all dem nichts zu tun. Hier geht es nicht um die Evidenz der Wirksamkeit, sondern um eine kultur-wissen­schaft­liche Frage, wie der warum diese Medizin verbreitet oder auf dem Rückzug ist usw..
    Und in diesem Zusammenhang ist auch die wissenschaftliche Medizin analysierbar: Zum Beispiel könnte die Verknüpfung von Medizinforschung und ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz oder der Einfluss der Pharmaindustrie auf medizinische Erkenntnisse beobachtet werden. Dabei können sich wichtige Erkenntnisse auftun, wie die der Beeinflussung und Kontrolle der Beeinflussung von wissen­schaftlichen Erkenntnissen durch unabhängige oder auch durch interessen-geleitete Organisationen.
    Dieses sind keine naturwissenschaftlichen Fragen, auch wenn das Wissen darum für Naturwissenschaftler wichtig sein könnte, auch wenn diese Verknüpfungen nicht notwendig die Qualität der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse beeinträchtigt. Ob diese Einflüssen als wünschenswert oder verwerflich beurteilt werden, ist wiederum keine kulturwissenschaftliche Frage.

    Relevanz: Aber offensichtlich besteht ein starkes Bedürfnis nach der Frage der Evidenz der Wirksamkeit von Medizin.
    Bei dieser Trennung der Zuständigkeiten Verhalten sich Wissenschaftler nicht immer „wissenschftlich korrekt“. Ich glaube kein Wissenschaftler hält sich immer nur im Bereich seines Faches sozusagen in professioneller Umge­bung auf. Und das ist auch gut so, aber immer problematisch und diskussionswürdig. Dafür leben wir ja über die Relevanz der Ergebnisse zu diskutieren, denn die Relevanz von Ergebnissen berührt immer die Grenzgebiete des eigenen Fachs
    Ich bin kein Ethnologe, soweit ich mich erinnere ist der Terminus „hegemoniale Stellung“ ein Fachbegriff in der Ethnologie, auch wenn nicht auszuschließen ist, dass eine politische und nicht wissenschaftliche Wertung für die Verwendung bestimmend war. Der Begriff „Schulmedizin“ ist soweit ich weiß ein Kampfbegriff in der Esoszene, ich kann mich auch vertun, oder dass dies außerdem ein Fachterminus ist.

  5. Hilfreich

    wäre es jedenfalls Kritik, die nicht konveniert, nicht zu zensieren, sondern dem allgemeinen Diskurs gegenüber offen zu lassen.

    Sollte diese Handhabung abgestellt werden, würde der Schreiber dieser Zeilen gerne die hiesigen Leistungen noch einmal kritisch aufbereiten.

    MFG
    Dr. W

  6. @Herr Holzherr

    Natuerlich hatte ich versucht, die Schulmedizin/evidenzbasierte Medizin in meinem Beitrag zu relativieren, denn es ging mir darum, zu zeigen, dass sie aus ethnologischer Sicht eine gleiche Stellung als Forschungsobjekt wie die „Unani Medicine“ hat und das deshalb „Unani Medicine“ aus unserer Sicht nicht als esoterisch zu betrachten ist. Das war die beabsichtigte Kernaussage meines Beitrags in November.

    >>”Daher wurde es wichtig, beispielsweise die Effektivität von bestimmten Behandlungen, insbesondere mit Blick auf Preis-Leistungsverhältnisse, zu überprüfen, damit sie vom System unterstützt werden.”

  7. @Herr Holzherr

    Wenn Sie diese Aussage als eine negative Bewertung der Schulmedizin/evidenzbasierten Medizin betrachten, dann ist dies Ihre eigene Interpretation, welche nicht unbedingt meiner Ansicht entspricht. Sie wissen ja nicht, ob ich persoenlich diese Vorgehensweise als Nutzerin unseres Gensundheitssystems unterstuetze oder nicht. Hier geht es nicht um persoenliche Meinungen, sondern um eine Beschreibung von Tatsachen. Koennen Sie etwa bestreiten, dass diese Aussage zum groessten Teil auf die Realitaet in Deutschland zutrifft? Die obige Aussage enthaelt keine Wertung, lesen Sie bitte genau!

    Mit „hegemoniale Stellung“ meinte ich eine Vorherrschaft der Schulmedizin/evidenzbasierten Medizin im Deutschen Gesundheitssystem, ebenfalls ohne Anspruch auf eine Wertung. Diese Vorherrschaft oder Vorrangstellung ist heute auch ein Fakt. Dadurch wollte ich verdeutlichen, dass Medizin kulturwissenschaftlich/ethnologisch immer im (kulturellen) Kontext zu analysieren ist.

    Zum Begriff „Biomedizin“: ich hatte bereits in meinem allerersten Blogbeitrag kurz erlaeutert, dass dieser Begriff (biomedicine) sich in der englischspachigen medizinethnologischen und medizinsoziologischen Literatur als moeglichst wertfreier Begriff etabliert hat. Meine Absicht war, die „Schulmedizin/evidenzbasierte Medizin“ moeglichst neutral und keinesfalls abwertend zu bezeichnen. Wenn Sie allerdings eine Abwertung sehen, dann handelt es sich um unterschiedliche Auffassungen des Begriffes aus Ihrer und meiner Sicht, bzw. aus meinem und Ihrem Fach. Deshalb versuche ich hier auf Deutsch nur noch von „Schulmedzin/evidenzbasierter Medizin“ zu sprechen, auch wenn diese Bezeichnung nicht zufriendenstellend ist.

    Nochmal im Klartext: in meinem Blogbeitrag im November ging es einfach darum, zu erklaeren, dass die Schulmedizin/evidenzbasierte Medizin als Gegenstand ethnologischer Forschung nicht „besser“ oder „schlechter“ als die „Unani Medicine“ ist. Um das zu verdeutlichen, wollte ich Beispiele geben, warum Medizin immer auch als ein Gegenstand und Produkt von Kultur und Gesellschaft, Politik und des oekonomischen Systems zu betrachten ist. Und das ganze ohne Wertungen jeglicher Art, sowohl fuer die Schulmedizin/evidenzbasierte Medizin als auch fuer die „Unani Medicine“.

    Ich kann immer noch nicht verstehen, warum Sie, trotz aller Erklaerungen von mir und meinen Kolleginnen, immer noch der Auffasung sind, dass wir (oder ich) die Schulmedizin/evidenzbasierte Medizin im schlechten Licht darstellen wollten und/oder die „Unani Medicine“ zu propagieren versuchten. Ich hoffe, dass wir diese Meinugsunterschiede damit geklaert haben.

    Gruesse aus Indien!

  8. Kulturalismus versus Universalismus

    @Kira Schmidt Stiedenroth

    Danke für die Antwort. Eine Relativierung, gar Herabsetzung der Schulmedizin scheint mir nicht nötig um ihr (Zitat)” eine gleiche Stellung als Forschungsobjekt wie die „Unani Medicine“ “ zu geben.

    Meine Frage dazu wäre:
    Kann man nur ethnologisch forschen, wenn man davon wegkommt, dass es so etwas wie kulturunabhängige Wahrheit gibt?

    Denn genau um das geht es. Unsere Kultur, aber auch die islamische Kultur, haben starke universalistische “Adern”. Mit andern Worten: Was die westliche Kultur aber auch die islamische Kultur in vielen Bereichen anstrebt ist die Suche nach der Wahrheit im Leben und der Wissenschaft. Mit einem Kulturalismus in der Form: Das stimmt für uns unter unseren Lebensbedingungen aber nicht für die Welt an und für sich, würden sich hier viele nie und niemals zufriedengeben.

    Beispiel 1: Galileo Galilei hat das von der Kirche (und Aristoteles) vertretene heliozentrische Weltbild verworfen und es als wissenschaftlich falsch beurteilt. Er wurde für diese Anmassung mit Folter bedroht. Nach einigen hundert Jahren hat aber selbst die Kirche eingesehen, dass das heliozentrische Weltbild falsch ist und sich “entschuldigt”.

    Mir scheint nun, für sie und auch für Susanne Kurz wäre die folgende Haltung möglich und sogar aus ethnologischer Sicht angezeigt: “Die Kirche hatte und hat ihre Wahrheit und Galileo und seine Nachfolger haben ihre andere Wahrheit. Beides ist genau gleich gerechtfertigt”.

    Doch für die meisten (in der Tat praktisch alle) Kommentatoren dieses Blogs liegt hier ein eindeutiger Fall vor, wo jemand zusammen mit ihrer ganzen Tradition durch den wissenschaftlichen Fortschritt ins Unrecht versetzt wurde. Nämlich die katholische Kirche.

    Beispiel 2: Die kriegerische Invasion in Afghanistan durch den Westen ging und geht auch mit einem Kulturtransfer, ja einer kulturellen Hegemonie einher. Es wurden viele Schulen in Afghanistan eröffnet in die auch Mädchen als Schülerinnen aufgenommen wurden. Doch die Taliban und auch viele sonst traditionell eingestellte Afghanen halten nichts von weiblichen Schülern, denn das verstösst gegen die getrennten Geschlechterrollen wie sie ihre Tradition aber in ihrer Auffassung auch der Islam vorsehen. Nach der Auffassung der Meisten hier geht es in diesem Fall um so etwas wie Menschenrechte und diese sind universell und für alle Menschen und damit auch Kulturen gültig.

    So wie sie und auch Susanne Kurz argumentieren, wären aber beide Parteien – die traditionellen Afghanen und Taliban – und die westlichen Invasoren im Recht. Und da der Westen eine offensive Rolle gespielt hat, ist er sogar weniger im Recht als die Taliban.

    Auch die Medizin fällt zwanglos in die Reihe solcher Beispiele. Die universalistische Haltung geht davon aus, dass Begriffe wie Krankheit, Heilung, Verbesserung des Gesundheitszustandes für alle Menschen unabhängig von der Kultur eine sehr ähnliche Bedeutung haben. Dementsprechend ist eine medizinische Behandlung die Krankheiten besser heilt oder gar das Leben verlängert einer Medizin überlegen die das nicht kann.

    Zusammenfassung:
    Ich hoffe ich habe das Problem so dargestellt, dass die meisten Kommentatoren hier, aber auch sie als Ethnologen sehen von wo die Dissonanz in unseren Meinungen und Einschätzungen herrührt. Die Überschrift Kulturalismus versus Universalismus trifft in meinen Augen den Kern der Auseinandersetzung.

  9. @Herr Holzherr

    Ihre Frage beruehrt einen Punkt der offensichtlich noch dringend geklaert werden muss. In der ethnologischen Forschung geht es eben nicht um die Suche nach kulturunabhaengigen, also universellen Wahrheiten, sondern um die Beschreibung und Interpretation von Allem, was kulturabhaengig ist! Kulturelle Aspekte und Konzepte sehen wir in der Ethnologie als empirisch zu erfassende Wahrheiten an, die selbstverstaendlich wissenschaftlich untersucht werden koennen und auch sollten, wenn wir ein besseres Verstaendnis von menschlicher Kultur und Gesellschaften gewinnen moechten.

    Ihre Beispiele fuehren zu einer Diskussion im Bereich der Kulturrelativismus-Debatte. Das finde ich im Kontext unseres Blogs nicht angemessen, denn unsere Forschung beschaeftigt sich mit anderen Themen (ein paar Beispiele hat Susanne Kurz in ihrem Beitrag erlaeutert). Dabei geht es immer um die Suche nach einer emischen Sicht. Das heisst, es geht nicht um darum, was ich als Ethnologin oder persoenlich von „Unani Medicine“ halte, sondern um die Ansichten ihrer Nutzer und Vertreter in Indien. Das ist eine der wichtigsten Grundlagen in der ethnologischen Forschung. Wie Susanne Kurz schon geschrieben hat, sollte man dringend zwischen einer Beschreibung und einer Bewertung unterscheiden. Die Beschreibung einer emischen Sicht bedeutet nicht, dass diese akzeptiert oder „fuer gut geheissen“ wird. Was dabei jedoch akzeptiert werden muss ist die Tatsache, dass diese einer empirischen Wahrheit entspricht. Dabei gibt es keinen Bedarf an einer Wertung, im Gegenteil, sie ist oft schaedlich. Ihre Beispiele sind an dieser Stelle irrefuehrend, weil es eben nicht darum geht zu entscheiden, welche Anschauungsweisen „kulturunabhaengige Wahrheiten“ sind oder wer Recht hat.

  10. „Unani Medicine“ und Esoterik

    So ganz habe ich das immer noch nicht gerafft: Die Aussage vieler Diskutanten war doch, dass das Praktizieren einer „Unani Medicine“ uns Westlern als eine esoterische Praktik erscheint. Weil diese Form der Medizin nicht auf (natur)wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, sondern, zugespitzt formuliert, auf einer überholten „Säftelehre“. Und laut Duden dürfen wir dann von Esoterik reden, wenn es sich um eine „Bewegung“ handelt, die durch „Heranziehung […] metaphysischer u.a. Lehren und Praktiken“ auf die „Selbstverwirklichung [sprich Heilung; meine Einfügung] des Menschen abzielt“.

    Wenn also hierzulande eine auf einer Säftelehre basierende „Medizin“ angeboten oder nachgefragt wird, dann kann man nach meinem Gefühl mit Fug und Recht von einer esoterischen „Bewegung“ sprechen. Dass in einem anderen Kulturkreis diese „Medizin“ als eine anerkannte medizinische Disziplin angesehen wird, ist da nebensächlich.

    Ich kann nicht beurteilen, inwieweit es für die ethnologische Forschung von Bedeutung ist, wenn nach naturwissenschaftlich geprägtem Verständnis das Praktizieren der „Unani Medicine“ als esoterisch eingestuft wird. Das können oder müssen die Ethnologen doch einfach nur als Faktum zur Kenntnis nehmen.

    Wenn man aber anfängt, darüber zu streiten, ob diese Einstufung zu Recht erfolgt, dann ist das eine ganz andere Diskussion.

Schreibe einen Kommentar