Noch ein Versuch zur Klärung in 3 Teilen – Teil 2: Wie wir den Begriff „Medizin“ verstehen und warum (und worüber wir arbeiten)

BLOG: Indische Medizin im Wandel

Der Forschungsblog
Indische Medizin im Wandel

Im letzten Teil dieses Klärungsversuches habe ich ausgeführt, daß und warum Medizin Teil menschlicher Kultur und damit ein möglicher Untersuchungsgegenstand für Kulturwissenschaftler ist. Freilich untersucht ein Kulturwissenschaftler die Medizin nicht mit Blick auf naturwissenschaftliche Fragen wie objektive Wirksamkeit von Therapien, Korrektheit von Versuchsaufstellungen, Gültigkeit der Ergebnisse von Experimenten etc. Dazu haben Kulturwissenschaftler nämlich nicht die passenden Methoden, und das ist auch nicht ihr professionelles Interesse.

Folglich gehört es auch NICHT zum Geschäft des Kulturwissenschaftlers, den naturwissenschaftlichen Status dieser oder jener Form von Medizin zu bewerten oder Hierarchien zwischen Medizinformen festzulegen.

Ein Kulturwissenschaftler kann die Medizin nur in ihrer Eigenschaft als Bestandteil einer Kultur beschreiben, analysieren und interpretieren. Dabei geht es um Fragen wie:

  • „Welches Bild von der Welt und vom Menschen liegt medizinischen Äußerungen zugrunde?“
  • „Wie werden Körper und körperliche Prozesse beschrieben?“
  • „Wie werden Gesundheit, Krankheit und Heilung definiert?“
  • „Wie verhält sich das Welt- und Menschenbild der Medizin zu Welt- und Menschenbildern anderer Wissensgebiete und gesellschaftlicher Sektoren?“
  • „Welche Art von Medizin bevorzugen Patienten und Mediziner wann und warum?“
  • „Welchen Stellenwert und welche Bedeutung haben Medizin und Mediziner in der untersuchten Gesellschaft und welche Funktionen erfüllen sie abgesehen vom Heilen?“
  • „Was sagt uns das über das Denken und Fühlen von Menschen in einer anderen Kultur und Zeit?“
  • und so weiter

Wir versuchen also herauszufinden und zu beschreiben, wie die innere Logik der „Unani Medicine“ funktioniert bzw. wie die ihrer historischen Vorläufer funktioniert hat und welche Bedeutung sie für die Kultur(en) und Gesellschaft(en) hat/hatte(n), in denen sie praktiziert wird bzw. wurde(n).

Das bedeutet aber NICHT, daß wir die „Unani Medicine“ als wirkungsvolles Heilungsverfahren empfehlen würden. Das ist nämlich nicht unsere Aufgabe, sondern die Aufgabe der Vertreter der „Unani Medicine“.Unsere Aufgabe ist allenfalls zu untersuchen, wie SIE für die „Unani Medicine“ argumentieren. Wir werden das also allenfalls BESCHREIBEN. Das heißt aber nicht, daß wir dem ZUSTIMMEN.

Aus unseren Fragestellungen und der Situation, die wir in einer gegebenen Gesellschaft und Zeit vorfinden, erklärt sich auch, wie wir den Begriff „Medizin“ verstehen. Kira Schmidt Stiedenroth hat dazu eine Stelle aus medizinethnologischer Literatur zitiert, die ein sehr viel weiter gefaßtes Verständnis von “Medizin” spiegelt als die Alltagssprache (s. ihren Kommentar “Erklärungen” zu ihrem letzten Blogbeitrag). Aber man kann auch hier die im DUDEN angegebene allgemeinsprachliche Bedeutung von „Medizin“ heranziehen, um auf der Ebene allgemein akzeptierter Sprachkonventionen zu bleiben:

„1. Wissenschaft vom gesunden und kranken Organismus des Menschen, von seinen Krankheiten, ihrer Verhütung und Heilung“ (http://www.duden.de/rechtschreibung/Medizin, zuletzt eingesehen am 10.02.2013)

Nun mag der eine oder andere behaupten, der wichtige Punkt in dieser Definition sei der Begriff „Wissenschaft“ und den könne man nicht auf jede Art der Heilkunde oder Heilkunst anwenden. Der Einwand ist auch nicht ganz falsch. Nur besteht hier das Problem, daß unser heutiges Verständnis von (Natur-)Wissenschaft wiederum spezifisch europäisch und modern ist. Um diese breite Diskussion hier nicht auch noch aufzumachen (ein paar Worte werde ich darüber in einem meiner nächsten Beiträge verlieren), sei hier nur darauf hingewiesen, daß man dann diesen Einwand auch für das europäische Mittelalter geltend machen müßte. Da dürfte man dann auch nicht von „Medizin“ sprechen. Tut man aber. Sagen wir also, unser Medizinbegriff für die historische Arbeit ist wie folgt definiert:

„Wissensgebiet, das sich mit dem gesunden und kranken Organismus des Menschen, seinen Krankheiten, ihrer Verhütung und Heilung befaßt“.

Dagegen wurde in der Diskussion auf diesem Blog mehr oder weniger vehement die Auffassung vertreten, die Bezeichnung „Medizin“ dürfe nur für die moderne Schulmedizin/evidenzbasierte Medizin verwendet werden, was eben auch dem üblichen Gebrauch des Wortes in der Medizingeschichte widerspricht. Als wesentlich für das, was man „Medizin“ nennen dürfe, wurde die Übereinstimmung von Erklärungen mit den heute bekannten naturwissenschaftlichen (insbesondere physikalischen) Grundlagen markiert. Zugleich wurden Stimmen laut, wir müßten in unserer Darstellung die wissenschaftliche Überlegenheit der modernen Schulmedizin/evidenzbasierten Medizin gegenüber der „Unani Medicine“ und anderen Heilverfahren zur Geltung bringen. Deshalb sollten wir eine Bewertung vornehmen, die letztlich der privilegierten Position der modernen Schulmedizin/evidenzbasierten Medizin in unserer Gesellschaft Rechnung tragen würde.

Nun gibt es zum einen keinen vernünftigen Grund, sich in dieser Weise von den Begriffen der Medizingeschichte abzuwenden, wenn man historisch, also über Geschichte, arbeitet. Und es gibt auch keinen Grund, etablierte Begrifflichkeiten und Methoden der Ethnologie über Bord zu werfen, wenn man ethnologisch arbeitet. Zum anderen sind diese Vorschläge für unsere Arbeit zusätzlich noch sinnlos oder sogar schädlich.

Die Kollegin Kira Schmidt Stiedenroth ist Ethnologin und befaßt sich mit der „Unani Medicine“, wie sie heute in Indien vertreten wird. Dort teilt sich die „Unani Medicine“ das Feld der Heilung von Krankheiten und Erhaltung von Gesundheit nicht nur mit der modernen Schulmedizin/evidenzbasierten Medizin, sondern auch mit Ayurveda, Siddha und Homöopathie. All diese Angebote sind dort gleichermaßen staatlich anerkannt. Das muß nicht bedeuten, daß man sie in Indien alle gleich bewertet. Aber wenn die Kollegin herausfinden will, wie solche Bewertungen in Indien aussehen, wann und warum Patienten und Heiler zu Mitteln aus dem einen oder anderen Angebot greifen und welche Perspektive sie auf diese Angebote haben, dann ist es schädlich, von vornherein die in unserer Gesellschaft übliche Sichtweise auf Indien zu übertragen. Dort ist die Situation nämlich schon auf den ersten Blick ganz anders.

Diese andere Situation muß einem deutschen Mediziner nicht gefallen, aber er muß gleichwohl zur Kenntnis nehmen, daß sie existiert und sich nicht angemessen verstehen und beschreiben läßt, wenn man ihr unsere Sichtweise überstülpt. Dabei geht es gar nicht darum, was unsere ethnologische Kollegin selbst für medizinisch richtig oder falsch, besser oder schlechter hält. Es geht dabei um eine professionelle ethnologische Vorgehensweise, die ihrem Gegenstand angemessen ist.

Wir drei übrigen Autorinnen des Blogs sind historisch arbeitende Islamwissenschaftlerinnen. Das bedeutet, daß wir nicht nur eine andere Kultur oder Gesellschaft, sondern auch eine andere Zeit untersuchen. Wenn man auf diesem historischen Arbeitsfeld den Begriff „Medizin“ so eng fassen wollte, daß er nur auf die moderne Schulmedizin/evidenzbasierte Medizin anwendbar wäre, dann wäre der Begriff völlig sinnlos und überhaupt nicht mehr benutzbar. Dann gab es eben nie und nirgendwo „Medizin“ außer in Europa seit dem 19. Jahrhundert und überall dort, wohin „Medizin“ dann exportiert wurde. Wir müssen dann einen anderen Begriff erfinden oder einsetzen. Das ist aber ebenso umständlich wie unnötig, weil der Begriff „Medizin“ schon viel älter ist als die moderne Schulmedizin/evidenzbasierte Medizin und daher immer schon zur Bezeichnung des Wissens vom Körper, von Gesundheit, Krankheit und Heilung verwendet wurde. Wir sehen daher keinen Grund, diese in UNSEREM Arbeitsbereich ebenso unberechtigte wie unnütze Einengung zu übernehmen.

Als Abgrenzungsstrategie im aktuellen Streit um Heilverfahren mag sie aus Sicht der deutschen Mediziner berechtigt und nützlich sein, aber das gilt eben NICHT für medizinhistorische und medizinethnologische Forschung.

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Veröffentlicht von

Dr. Susanne Kurz hat in Tübingen Islamwissenschaft und Religionswissenschaft studiert und beschäftigt sich vor allem mit der Geschichte und Kultur des persischsprachigen Raumes vom 11. bis 19. Jahrhundert. Sie interessiert sich besonders für humoristische Literatur und Geschichtsschreibung und hat sich seit 2008 auch der medizinischen Literatur in persischer Sprache zugewandt.

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