Deutschland wird doch nicht Weltmeisterin …

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Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
Hochbegabung

… da hat das entscheidende Quäntchen Glück dann doch gefehlt! – Das Glück – oder fassen wir es allgemeiner: der Zufall – spielt übrigens auch eine gar nicht so unwichtige Rolle bei der Frage, wie es dazu kommt, dass manche es schaffen, etwas aus ihrer Begabung zu machen, andere hingegen nicht. In einem klassischen (Hoch-)Begabungsmodell, dem Differentiated Model of Giftedness and Talent (DMGT) von Françoys Gagné, wird er unter dem Namen “chance” sogar als explizite Komponente angeführt. Das Modell ist recht allgemein gehalten und nicht allein auf die intellektuelle Hochbegabung beschränkt; deshalb lässt es sich auch am Beispiel Fußball schön illustrieren (wo intellektuelle Qualitäten ja oft nicht unbedingt sooo groß geschrieben werden – ich sage nur, Hauptsache Italien). Wie auch im hierzulande vermutlich etwas bekannteren Münchner Hochbegabungsmodell geht es bei Gagné darum, ein vorhandenes Potenzial in Leistung umzusetzen. Dieser Prozess wird von diversen so genannten “Katalysatorvariablen” beeinflusst. Zum einen sind dies Merkmale der Persönlichkeit, die nicht direkt mit der Begabung zu tun haben, aber unterstützend wirken können. Wenn ein Fußballspieler oder eine Fußballspielerin beispielsweise Angst vor dem Elfmeter hat, kann dies die Torwahrscheinlichkeit empfindlich beeinflussen. Zum anderen fallen diverse Umweltvariablen darunter, etwa Eltern, die dem begabten Kind zuerst einen Fußball kaufen und es später dann auch bei einem Fußballverein anmelden. Und natürlich (das ist nun der Punkt, wo Gagné über das Münchner Modell hinausgeht) der Zufall.

Hier muss ich ein bisschen in der Fußballhistorie zurückgehen. Frauenfußball liefert derzeit allerlei Anlass zu erhitzten feministischen Debatten – im Großen und Ganzen kann man aber sagen, dass sich insbesondere die jüngere Mädchengeneration in diesem Sport allmählich ihren Platz erobert. Zur Zeit des Wunders von Bern hätten Mädchen auf dem Fußballplatz hingegen allenfalls für Ver-Wunderung gesorgt – bekanntlich öffnete sich der DFB ja erst 1970 für den Frauenfußball (mit diversen Auflagen, und das auch nur deshalb, weil eine Abspaltung zu befürchten war; aber das ist noch mal ein anderes Thema.) Da konnte man als Mädchen die Jungs noch so sehr an die Wand spielen; das soziale Umfeld hatte andere Vorstellungen davon, was und wie Mädchen spielen sollten … wie viele weibliche Balltalente da wohl untergegangen sind? Hier waren also die Umweltbedingungen sehr ungünstig; und auch Persönlichkeitseigenschaften wie Ausdauer oder Trainingsdisziplin, die als nicht direkt begabungsbezogene Persönlichkeitseigenschaften dazu beitragen könnten, etwas aus den guten Anlagen zu machen, hätten unter solchen Umständen nicht viel gebracht. Ein böser Zufall, wenn so viele Hindernisse zusammenkommen – da hat es die Generation unserer Kinder doch deutlich besser! Aber auch heute reichen ein günstiges Umfeld und förderliche Personmerkmale nicht unbedingt aus, es in die Nationalmannschaft zu schaffen. Und auch hier kommt nun wieder der Zufallsfaktor ins Spiel: Begabung will auch entdeckt werden, um zum Durchbruch zu gelangen. Wenn die Spitzenstürmerin oder der Topverteidiger gerade an dem Tag mit Grippe im Bett liegt, an dem die Talentsucher dem Dorfverein einen Besuch abstatten, fällt das definitiv unter die Rubrik PP – persönliches Pech. (Immerhin betreiben die größeren Vereine gezielte Förderung junger Talente, damit der Einfluss des Zufalls nicht allzu groß wird.) Oder wenn eine begabte und toll trainierte Mannschaft nicht ins Halbfinale einzieht, weil die Gegnerinnen ein so unglaubliches Duseltor schießen!

Vielleicht ist es ja nur eine Frage der Zeit, bis Mädchen und Frauen im Fußball etwas so Normales geworden sind, dass man mit Schmunzeln an die ferne Epoche zurückdenkt, als noch zwischen “Fußball” und “Frauenfußball” unterschieden wurde. Unabhängig vom Geschlecht sollte vorhandene Begabung aber auf jeden Fall gefördert werden – ob das nun Mädchen sind, die gerne Tore schießen, oder auch Jungen, die gerne Ballett tanzen wollen. Letzten Endes profitieren beide Geschlechter von einer Erweiterung des Möglichkeitsspektrums; und jedes Kind verdient es, in seinen Begabungen und Interessen ernst genommen und unterstützt zu werden.

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Dr. rer. nat. Tanja Gabriele Baudson ist Diplom-Psychologin und Literaturwissenschaftlerin. Seit Oktober 2017 vertritt sie die Professur für Entwicklungspsychologie an der Universität Luxemburg und ist als freie Wissenschaftlerin mit dem Institute for Globally Distributed Open Research and Education (IGDORE) assoziiert. Ihre Forschung befasst sich mit der Identifikation von Begabung und der Frage, warum das gar nicht so einfach ist. Vorurteile gegenüber Hochbegabten spielen hierbei eine besondere Rolle - nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auf das Selbstbild Hochbegabter auswirken. Zu diesen Themen hat sie eine Reihe von Studien in internationalen Fachzeitschriften publiziert. Sie ist außerdem Entwicklerin zweier Intelligenztests. Als Initiatorin und Koordinatorin der deutschen „Marches for Science“ wurde sie vom Deutschen Hochschulverband als Hochschullehrerin des Jahres ausgezeichnet. Im April 2016 erhielt sie außerdem den SciLogs-Preis "Wissenschaftsblog des Jahres".

1 Kommentar

  1. sympathisch, wenn wissenschaftler …

    … vom zufall sprechen.
    aber komplexität oder unberechenbarkeit wäre mir doch lieber – auch wenn das nicht so gut klingt wie glück oder zufall 😉

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