Begabung alla Bolognese, oder: Warum die Bachelorstudierenden so viel besser als ihr Ruf sind

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Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
Hochbegabung

Ach, der Bolognaprozess. Hörnse mir uff. Mal abgesehen von dem ganzen bürokratischen Wahnsinn, den das für die Unis nach sich zieht, wirkt sich die Verschulung, Modularisierung etc. auch auf das Studierverhalten aus. Der Plan war ja eigentlich wohl mal, dass man international studieren kann, dann zu Hause seine Credit Points angerechnet bekommt und dann ohne Zeitverlust seinen Abschluss machen kann. In der Praxis funktioniert das eher bedingt: Im Gegenteil stehen die Studierenden unter einem irrwitzigen Zeitdruck, Klausuren müssen geschrieben, Hausarbeiten abgegeben werden, und das in einem Tempo, dass man mit den Ohren schlackert. Die Studierenden selbst fügen sich nahtlos in das System ein: Ab in die Stromlinie, ja nicht kritisch denken, weil das ja ablenkt, und sich selbst dann möglichst schnell dem ökonomischen Verwertungsprozess zuführen. Könnte man meinen, wenn man die Vorurteile mal hört. Die Wahrheit liegt aber ganz woanders.

 

Ich persönlich bin Fan von Bachelorstudierenden, seit ich meinen ersten Kurs unterrichtet habe. Als experimentierfreudige Dozentin hatte ich mir zum Thema “Kreativität” überlegt, kein “klassisches” Seminar zu halten (wöchentlich nachmittags von zwei bis vier, mit anderthalbstündigen Powerpoint-Präsentationen und garantiertem Postprandialkoma), sondern das Ganze als Blockseminar am Wochenende zu veranstalten. Kreativität ist ja bekanntlich ein weites Feld. Mir war wichtig, die Studierenden dieses Feld auf eigene Faust erkunden zu lassen: Neugier und intrinsische Motivation halte ich für sehr gute Lernvoraussetzungen, und damit auch letzteres genug Raum erhält, habe ich versucht, jeder/m ein Thema zu geben, das sie/ihn wirklich fasziniert. Diese waren in der Regel weit gefasst (z.B. “interkulturelle Unterschiede”, “Kreativitätstechniken”, “Genie und Wahnsinn”), sodass eine Teilaufgabe war, das, was man präsentieren wollte, erst mal zu umzingeln. Die Präsentationszeit hatte ich nämlich auf 10-15 Minuten begrenzt, ich Schelm 😉 — Damit sich die Leute aber auch im Vorfeld der eigentlichen Seminarsitzung schon mit dem Thema auseinandersetzen, hatten wir ein kollektives Blog ins Leben gerufen: zunächst pro Woche, später alle zwei Wochen ein obligatorischer Eintrag (die Anpassung war nötig, weil die TeilnehmerInnen die Beiträge der anderen gerne mehr kommentieren wollten – war mir recht). Leitfragen: mein Thema; meine eigene Kreativität; beobachtete Kreativität im Alltag. Das Ganze fand auch noch auf englisch statt – und ich war hin und weg über das Niveau der Reflexionen, die da zum Ausdruck kam. Überlegungen, die schon renommierte Forscher angestellt hatten, und auf die diese Drittsemester von selbst kamen; Parallelen, die mir so gar nicht aufgefallen wären; witzige Beobachtungen … klasse, echt. Das Seminar selbst war äußerst kurzweilig und trotz des anstrengenden Wochenendtermins (wo einige noch vorher ein anderes Seminar gehabt hatten) eine ganz tolle Erfahrung. Die Präsentationen deckten eine breite Themenspanne ab: von der Erläuterung des Big C-Pro C-Small c-mini c-Konzepts anhand eines eigenen Kreativprojekts über selbst entwickelte Fragebögen, heißen Diskussionen zur Kreativität von Computern und allerhand mehr ging es echt ab.

Was mich sehr zum Nachdenken angeregt hat, war, wie hungrig die Studis die ihnen gegebene Freiheit angenommen haben – und wie engagiert sie etwas daraus gemacht haben. Das Seminar war sicherlich nicht wenig arbeitsintensiv, und das bei all den anderen Anforderungen des Studiums; um so beeindruckender das Ergebnis. Ich glaube, wenn wir Potenzial zur Blüte bringen wollen, ist eine solche Einzäunung des Geistes, wie sie durch die Verschulung der Uni stattfindet, der falsche Weg. Studierende sind intelligente Menschen; sie wollen selbstständig denken und sind dazu auch ganz klar in der Lage – diese Erfahrung nehme ich aus dem Seminar mit. Und werde im nächsten Semester schauen, was man an dem Konzept noch verbessern kann. Den Kolleginnen und Kollegen kann ich auf jeden Fall nur empfehlen, einfach mal den Versuch zu wagen, im Rahmen der Möglichkeiten aus dem curricularen Korsett auszubrechen. Es lohnt sich definitiv – für alle Beteiligten.

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Dr. rer. nat. Tanja Gabriele Baudson ist Diplom-Psychologin und Literaturwissenschaftlerin. Seit Oktober 2017 vertritt sie die Professur für Entwicklungspsychologie an der Universität Luxemburg und ist als freie Wissenschaftlerin mit dem Institute for Globally Distributed Open Research and Education (IGDORE) assoziiert. Ihre Forschung befasst sich mit der Identifikation von Begabung und der Frage, warum das gar nicht so einfach ist. Vorurteile gegenüber Hochbegabten spielen hierbei eine besondere Rolle - nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auf das Selbstbild Hochbegabter auswirken. Zu diesen Themen hat sie eine Reihe von Studien in internationalen Fachzeitschriften publiziert. Sie ist außerdem Entwicklerin zweier Intelligenztests. Als Initiatorin und Koordinatorin der deutschen „Marches for Science“ wurde sie vom Deutschen Hochschulverband als Hochschullehrerin des Jahres ausgezeichnet. Im April 2016 erhielt sie außerdem den SciLogs-Preis "Wissenschaftsblog des Jahres".

19 Kommentare

  1. @T.

    Hallo, da frage ich mal meine Studis, ob es ihnen recht ist, wenn ich das hier publik mache 🙂 Liefere den Link ggf. nach.

  2. Kreativität

    Vielen Dank für den Hinweis zum Blog. Das ist ganz spannend die von Ihnen dargestellten Themen mal im Original nachzulesen.

  3. Aber echt – als ob es etwas anderes wäre

    Ich finde das Gerede über Bachelor und so auch echt für die Katz! Als ob die schlechter wären – meist ist ja einfach nur ein Praxissemester weniger…

  4. “Ich glaube, wenn wir Potenzial zur Blüte bringen wollen, ist eine solche Einzäunung des Geistes, wie sie durch die Verschulung der Uni stattfindet, der falsche Weg.” Da haben Sie in der Tat den Nagel auf den Kopf getroffen.

    Allerdings scheint mir Ihre Erfahrung kein Beleg pro Bologna (oder eher contra contra): Denn mit einer solchen Veranstaltung ziehen Sie wahrlich nicht jeden an, schon aufgrund der Arbeitsbelastung, und bieten etwas Außergewöhnliches, gleich ob unter Bologna oder klassischen Bedingungen. Bologna ist wie die Sommerzeit: In dreißig Jahren wird man überrascht feststellen, daß die erhofften Ergebnisse nicht eingetroffen sind, und doch auf ewig daran festhalten.

    Und jede Verschulung ist nun einmal eine Einzäunung; jede Abschichtklausur fördert kaum Neugier und weitgreifende Perspektiven, sondern eher blindes Auswendiglernen; und Veranstaltungen wie die hier erwähnte sind einfach viel zu selten. Die Frage ist also, da wir Bologna nicht wieder loswerden werden: Wie bekommen wir mehr von solchen Kreativitätskitzelkursen? (Extra-Credits, für Studis wie für Dozenten???)

  5. ein passender New Scientist – Artikel:

    Hier über paradoxe Nebenwirkungen der fashionablen Bewertungsaktionismen im Bildungs- und Human Resources-Milieu.

  6. Problem sind die Master Absolventen

    Das Problem sind für mich die Masterstudenten. Es sollte ja eigentlich so sein, dass das Master für die Forschung vorgesehen ist. Da aber fast alle Master machen, verliert das Bachelor an Wert, was sicherlich nicht Ziel der einführung war. Jetzt studieren fast alle 10 Semester, was wiederum mehr Zeit als das Diplom bedeutet.

  7. Was macht man mit einem Bachelor?

    @Julian, ich würde sagen, das ergibt sich aus dem Problem, dass gar nicht klar ist, wozu ein Bachelorabschluss überhaupt qualifiziert. Um ein reiner Datenknecht zu werden, braucht man keinen Abschluss; dazu reicht auch eine Ausbildung als psychologisch-technischer Assistent … Ich glaube, das ist wirklich eine Folge der Unsicherheit der Studis (lieber einen Master draufsatteln, dann bleiben erst mal alle Möglichkeiten offen).

    @T, leider muss man sich für den Artikel registrieren! Haben Sie Lust, uns die Essenz zukommen zu lassen? Würde mich freuen! 🙂

    @Natalie, ich mag den Vergleich! (Was habe ich dieses Jahr mit jetlagbedingter Migräne wieder über diese §$%&/( Zeitumstellung geflucht …) Stimmt vermutlich schon, dass ein solches Seminar (noch dazu auf englisch) eher die ohnehin ambitionierten Studierenden anzieht, die sich so etwas auch zutrauen. Ich versuche, die Hemmschwelle niedrig zu halten — niemand muss perfekt englisch können, es geht darum, etwas zu lernen –, aber Selektionseffekte lassen sich dadurch wohl trotzdem nicht vermeiden. Als Dozentin finde ich es super angenehm 😉 (hatte grade die erste Sitzung des zweiten Seminars in diesem Stil) und werde diese Art von Seminar auch erst mal beibehalten (solange man mich lässt B-)) — die Kombination aus Gefordertsein und intrinsischer Motivation bringt den Studis vermutlich deutlich mehr als das reine Auswendigpauken, das ja zum Quasistandard geworden ist 🙁

    Ich glaube, ein Problem ist echt in den Köpfen der Dozenten: Warum “muss” ein Seminar immer gleich aussehen? Jede Stunde ein Referat, Definition, Modelle, ausgewählte Problembereiche. Bei Kreativität bietet es sich echt an, diese Struktur mal aufzubrechen – das wäre für mich sonst ein Widerspruch in sich 😉

  8. Blog

    Hallo,
    sehr schön das hier mal zu lesen. Ich selbst habe nur einen Bachelorabschluss und bin danach gleich in die Wirtschaft. Habe bei einer UB gearbeitet und überall wird man komisch angeschaut, wenn man sagt, dass man einen BA hat. Echt schade. Das System, wie es in den USA üblich ist erst Undergrad, dann 5-10 Jahre arbeiten und dann einen MBA läuft hier leider nicht an.

  9. @Mirko

    Geduld 🙂 Letzten Endes wird, denke ich, die Leistung überzeugen. Aktuell gibt es da vermutlich noch viele (durch Diplominhaber geschürte?) Vorurteile gegen die Bachelors, (und dass der Master quasi der neue Standardabschluss wird, ist irgendwie auch nicht ganz im Sinne des Erfinders :-/) — aber ich glaube, das ändert sich mittelfristig auch, wenn die Unternehmen erst mal mit den Bachelors konfrontiert sind (und sehen können, was die alles mitbringen!). Unwissenheit schafft zunächst vermutlich Berührungsängste; insofern würde ich versuchen, diese den Kollegen zu nehmen, indem man erzählt, was man so gemacht hat, wie sich die Unilandschaft aktuell ändert, welche Nach-, aber auch, welche Vorteile das mit sich bringt. Denke, da können alle Beteiligten voneinander lernen.

  10. Probleme in den Köpfen

    Ich glaube, ein Problem ist echt in den Köpfen der Dozenten: Warum “muss” ein Seminar immer gleich aussehen? Jede Stunde ein Referat, Definition, Modelle, ausgewählte Problembereiche. Bei Kreativität bietet es sich echt an, diese Struktur mal aufzubrechen – das wäre für mich sonst ein Widerspruch in sich 😉

    Aber schon Studenten denken doch oft so: Sie halten Referate, die genauso ablaufen und genauso langweilig sind wie die, die sie ständig hören – und unter denen sie ständig leiden. Dabei liegt es doch eigentlich in der Natur des Menschen, sich zu fragen: Gefällt mir das oder nicht, warum oder warum nicht – und was könnte man besser machen?

    Wer ist nun die Henne und wer das Ei? 😉

  11. @Tanja:

    “wenn die Unternehmen erst mal mit den Bachelors konfrontiert sind”: Vor ein paar Tagen gab es so einen Vorfall, der sich für das Unternehmen aber ziemlich entäuschend erwies: Ein sehr großer Konzern hatte für die Ebene unmittelbar unter dem CEO aus ca. 100 Bachelors ca. ein Dutzend herausgefiltert und mit diesen eine mehrwöchige Trainings- und Auswahlphase begonnen. Die bisherigen Eindrücke sind ausgesprochen mies: Die Leute verhalten sich wie lobotomisierte Musterschüler-Imitate, haben aber enorme Schwierigkeiten, strukturiert zu arbeiten, Texte und Themen inhaltlich selbständig zu erfassen und darunter zu selektieren und bewerten sowie zusammenzufassen, schliesslich scheinen alle narzistische Beeinträchtigungen zu haben, als hätten sie durchs ständige schielen nach Lehrerbewertungen eine Art mentaler Genickstarre bekommen. Die darauf folgenden Erörterungen glitten fast sofort in neurologische Spekulationen ab, z.B. ob wir es hier mit einem Hochbildungsäquivalent analoger Ausfälle im Niedrigbildungssektor zu tun haben.

  12. @Natalie, @T.

    Ich finde, gerade das, was Sie beide schreiben, unterstreicht doch die Notwendigkeit, die Studierenden zu fordern! 🙂 Ich als Dozentin sehe mich da schon in der Verantwortung. Das Problem langweiliger Referate ist doch irgendwo ein Teufelskreis: Man sieht nie was anderes, denkt deshalb, es müsse so sein, und macht es deshalb genauso. (Die meisten Dozenten sind gegenüber kreativen Ideen sehr aufgeschlossen; sie kommen halt nur selbst nicht unbedingt drauf, weil sie wiederum auch in einem solchen System sozialisiert wurden …)

    Ich sehe da zwei Probleme: einerseits die völlige Unterschätzung der Didaktik, andererseits die Unterminierung intrinsischer Motivation. Zum ersten Punkt: Fakten zu referieren ist nicht sooo schwer, da packt man ein paar Powerpointfolien ordentlich voll ;), und dann klappt das schon. Lernstoff didaktisch aufzubereiten — das wird (außer in den Lehramtsstudiengängen, und auch da nicht immer in dem Ausmaß, wie es nötig wäre) viel zu wenig vermittelt, vermutlich auch deshalb, weil die Dozenten selbst zu wenig darüber wissen. Zur Motivation: Klar gibt es Theorien, Modelle, Personen, die muss man einfach kennen. Die Frage ist hier halt eben auch, wie man das vermittelt. Bei den Kreativitätsseminaren merke ich, wie schnell die Studierenden an die ungelösten Kernfragen des Forschungsbereichs kommen! Und ich finde, man kann in jedem Themenbereich etwas finden, was man selbst spannend findet, oder, um es pädagogisch zu sagen, wo man seinen lebensweltlichen Bezug identifiziert. Das erfordert wiederum, dass man in die Materie einsteigt und sich selbst die Frage stellt, was daran eigentlich so spannend ist.

    Hier wiederum ist der Dozent gefragt: einerseits durch gute Auswahl der Materialien, andererseits dadurch, dass er einfach mal in den Raum stellt, warum dieses Thema eigentlich relevant ist (und von den Studierenden auch eine derartige Reflexion einfordert)! Wenn sich Lehre darauf beschränkt, dass man einem Studenten einfach nur einen relevanten Artikel in die Hand drückt mit dem Auftrag, die Inhalte zu referieren, fördert das kein strukturiertes Denken. Ich finde es toll zu beobachten, wie die Studierenden ein Thema nach und nach umzingeln: Exploration eines breiten Feldes, versuchen, dieses zu systematisieren und nach und nach herausfinden, welche Aspekte man spannend und berichtenswert findet. Intrinsisches Interesse ist meines Erachtens der Knackpunkt; und wenn ich finde, dass ein wichtiger Grundlagenbereich nicht ausreichend abgedeckt ist, übernehme ich den halt selbst. Kreativität ist natürlich auch ein dankbares Thema ;), aber grundsätzlich bin ich der Meinung, dass man allein schon durch Exploration des Vorwissens auf ganz viele der grundlegenden Fragen eines Bereichs stoßen kann. (Zumindest in den anwendungsbezogenen Fächern; wie das in Mathematik o.ä. ist, kann ich jetzt nicht beurteilen, aber ich würde vermuten, diejenigen, die das studieren, bringen ohnehin eine spezielle Motivation mit ;))

  13. ein Interview:

    Hier wurde ein kurz nach dem Interview verstorbener, bekannter “Kinder- und Jugendtherapeut, Publizist und Sachbuchautor” befragt, seine Eindrücke und Kommentare passen gut zum Umfeld des Themas (link).

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