Alphabet

BLOG: Hochbegabung

Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
Hochbegabung

Seit dem 31.10. läuft der Film “Alphabet” in den deutschen Kinos, und gestern habe ich’s endlich geschafft, ihn mir auch anzuschauen. Erwin Wagenhofer, der sich schon mit Dokumentarfilmen wie “We Feed the World” und “Let’s Make Money” einen Namen gemacht hat, nimmt sich in seinem interessanten neuen Werk nun unser Bildungssystem vor.

“Alphabet” ist der letzte Film einer Trilogie, die mit der kapitalistischen Orientierung unserer Gesellschaft scharf ins Gericht geht. Wann kippte das Ganze eigentlich so stark hin zur Messbarkeit von Leistung, wann verlor das nicht ganz so leicht Messbare – Kreativität, Glück (wozu es natürlich einiges an Messverfahren gibt; aber Leistung ist deutlich einfacher in Zahlen zu übersetzen) – an Bedeutung? Wenn Stunden in der Schule gekürzt werden, sind es in der Regel die musischen und psychomotorischen Fächer, nicht die “wichtigen” wie Mathematik, Fremdsprachen oder Deutsch. Aber sind musische Fächer tatsächlich so unwichtig? Und überhaupt, was ist mit so zweckfreien Aktivitäten – beispielsweise Spiel, was in der Entwicklungspsychologie doch als eine der Hauptaufgaben der Kindheit gesehen wird? Zur Sprache kommen:

  • der Bildungsexperte Sir Ken Robinson
  • Arno Stern, Kunsterziehungsexperte der UNESCO
  • sein Sohn André, der ohne Schule glücklich aufgewachsen ist, als Musiker und Instrumentenbauer tätig ist und Vorträge an Unis hält
  • Yang Dongping, Professor in der Abteilung Bildung und Pädagogik des Beijing Institute of Technology
  • “Mr. Pisa” Andreas Schleicher
  • Thomas Sattelberger, bis 2012 Personalvorstand bei der Telekom
  • Gerald Hüther, der die Hirnforschung vermutlich auf ein voraussetzungsärmeres Niveau heruntergekürzt hat, als das jemals jemandem zuvor gelungen ist
  • Pablo Pineda Ferrer, der erste Europäer mit Down-Syndrom, der ein Universitätsstudium abgeschlossen hat (die Hauptpersonen sind bislang alles Männer, wie Ihnen vielleicht nicht aufgefallen ist 😉 – bei den McKinsey-Wettbewerbsteilnehmenden sind anfangs noch ein paar Frauen dabei, die Mutter eines chinesischen Mathematik-Cracks präsentiert stolz den Stapel Urkunden, die ihr Sohn gewonnen hat, die Entwicklungspsychologin hinter der Wand ist auch weiblich, und die Frau und Enkelin und Arno Stern sowie einige Mütter der Säuglinge, die an der Studie teilnehmen, sieht man immerhin im Bild. Dennoch eher Bechdel-Fail.)
  • die Schülerin Yakamoz Karakurt, die als Neuntklässlerin 2008 mit ihrem offenen Brief an die ZEIT (“Mein Kopf ist voll”) bekannt wurde und bereits einige Wettbewerbe gewonnen hat.

Allesamt also Leute, die es “gepackt” haben – selbst “Alternative” wie André Stern werden noch dadurch als “seriös” zertifiziert, dass sie Vorträge an Universitäten halten. Und die großenteils trotzdem nicht glücklich sind. Das gibt auf jeden Fall zu denken, wenn selbst Erfolgreiche das System kritisieren. Zumal im Grunde ja alle erfolgreich sein könnten, wie die zitierte Längsschnittstudie zu divergentem Denken zeigt, der zufolge 98% aller 3-5-Jährigen auf “genialem” Niveau liegen, bei der erwachsenen Kontrollgruppe (wodurch man Generationeneffekte nicht ausschließen kann) jedoch nur noch 2%. Ich bin seit gestern abend noch nicht an das Buch herangekommen und kann daher auch noch nicht ins Detail dieser Studie gehen; also nur einige Anmerkungen zu dem, was ich im Zuge meiner Recherchen gefunden habe, und einige Fragen, die sich mir stellten:

  • “Divergent Thinking” mit “unangepasstem Denken” zu übersetzen, leitet m.E. übrigens irre, wie ich finde. Im Wesentlichen ist divergentes Denken nämlich auch Produktion, beispielsweise innerhalb einer begrenzten Zeitspanne so viele Wörter wie möglich zu generieren, die mit der Silbe “-ung” enden, die dazu noch möglichst unterschiedlich und originell sein sollen (wobei in der Regel nur die ersten beiden Aspekte gemessen werden). Wesentlich näher kommen wir an Kreativität leider noch nicht heran, wenn wir sie, ausgehend vom psychometrischen Paradigma, messbar machen wollen. Was gemessen werden kann, ist in der Forschung zwar anschlussfähig und publizierbar; ob es den Kern der Sache trifft, ist jedoch die Frage.
  • Massiv vereinfacht wird daraus “98% aller Kinder sind hochbegabt, bevor sie in die Schule kommen – danach sind es nur noch 2%”, also just die Zahl, die als ungefähre Grenze für Hochbegabung im Sinne psychometrischer Intelligenz immer angegeben wird und mit der einige im interessierten Laienpublikum vermutlich etwas anfangen können. Welches Kriterium liegt dem Niveau “genial” zugrunde?
  • Und, vielleicht noch wichtiger, was sind die Konsequenzen daraus? Dass Seltenheit ein Kriterium von Hochbegabung ist, darüber sind sich sowohl Laien- als auch Expertentheorien einig (vgl. bereits Sternberg, 1985). Über das Problem multipler “Intelligenzen” habe ich mich ja an anderer Stelle schon ausgelassen. Warum braucht es dann doch wieder solche Labels, wenn es doch einfach darum geht, Kindern eine gute und individualisierte Entwicklungsumgebung zu bieten? (Auch Hochbegabung ist eine völlig “normale” Ausprägung von Begabung, nichts Abnormes!)
  • Auch wenn (im Film schön am chinesischen Beispiel illustriert) alle Eltern versuchen, ihr Kind bestmöglich zu unterstützen und das Beste (oder doch das Meiste?) aus ihm herauszuholen: Gerade optimale Förderung führt dazu, dass die Schere zwischen unterschiedlich Befähigten immer weiter klafft. Weil Hochbegabte von Anfang an mehr an Potenzial mitbringen, können sie dieses gewinnbringend investieren. Der “Reichtum” akkumuliert sich also deutlich schneller (vgl. Cattells Investmenttheorie, die bei Wikipedia knapp beschrieben wird).
  • Und das ist auch gut so! Wer seine eigene Begabung unterdrückt, wird nämlich dadurch nicht glücklicher. Das Kernproblem ist die Wertigkeit, die unterschiedlichen Fähigkeitsniveaus in einer Leistungsgesellschaft zugeschrieben wird. Und das ist dann wiederum das Paradoxe: dass markige Sätze wie “alle Kinder sind hochbegabt” (Randbemerkung: Was ist übrigens mit den armen 2%, die das nicht sind?) letzten Endes dann doch wieder das System Leistungsgesellschaft bestätigen. Jeder hat die Hoffnung, hochbegabt, Elite, genial, wählen Sie einen beliebigen Begriff aus dem semantischen Feld, sein zu können – aber sobald alle Elite sind, ist es keiner mehr. Ich finde, es darf nicht darum gehen, dass alle oben mitspielen dürfen – sondern darum, zu hinterfragen, was denn dieses “Oben” überhaupt ist, wie vielfältig es sein darf – und warum wir solche hierarchischen Strukturen immer wieder zu brauchen scheinen. Ist das vielleicht auch ein Motiv der gezeigten Eltern, die ihre Kinder zu Höchstleistungen im Mathematikwettbewerb pushen? Wir wissen es nicht, aber auszuschließen ist es nicht.

Kurzum: Der Film ist sehenswert (wenn Sie noch mehr darüber wissen wollen, geht’s hier zur offiziellen Website, wo Sie sich auch den Trailer anschauen können), auch wenn er streckenweise an der Einseitigkeit der Darstellung etwas krankt (zumal die Im-System-Mitschwimmer eher stereotyp dargestellt werden – die Möchtegern-McKinseyaner, die beim Wettbewerb “CEO of the Year” mitmachen, sind eher vom Typus unternehmensberatender Unsympath, eine Rolle, die sie zugegebenermaßen echt gut ausfüllen). Auf jeden Fall regt er zum Nachdenken an, und das tut ja beileibe nicht jeder Film, der in den Kinos läuft.

Wenn Sie kommentieren mögen: Ich weiß nicht, inwieweit das bei den SciLogs inzwischen klappt. Im Zweifelsfall rufen Sie diesen Beitrag einfach über das Fachportal Hochbegabung auf, da läuft’s auf jeden Fall.

Literatur:

  • Cattell, R. B. (1963). Theory of fluid and crystallized intelligence: A critical experiment. Journal of Educational Psychology, 54, 1–22.
  • Land, G. & Jarman, B. (1998). Breakpoint and Beyond. Leadership 2000 Inc.
  • Schweizer, K. & Koch, W. (2002). A revision of Cattell’s Investment Theory: Cognitive properties influencing learning. Learning and Individual Differences, 13, 57–82.
  • Sternberg, R. J. (1993). The concept of “giftedness”: A pentagonal implicit theory. In: The origins and development of high ability (pp. 5–21, einschließlich Diskussion). CIBA Foundation Symposium.

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Dr. rer. nat. Tanja Gabriele Baudson ist Diplom-Psychologin und Literaturwissenschaftlerin. Seit Oktober 2017 vertritt sie die Professur für Entwicklungspsychologie an der Universität Luxemburg und ist als freie Wissenschaftlerin mit dem Institute for Globally Distributed Open Research and Education (IGDORE) assoziiert. Ihre Forschung befasst sich mit der Identifikation von Begabung und der Frage, warum das gar nicht so einfach ist. Vorurteile gegenüber Hochbegabten spielen hierbei eine besondere Rolle - nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auf das Selbstbild Hochbegabter auswirken. Zu diesen Themen hat sie eine Reihe von Studien in internationalen Fachzeitschriften publiziert. Sie ist außerdem Entwicklerin zweier Intelligenztests. Als Initiatorin und Koordinatorin der deutschen „Marches for Science“ wurde sie vom Deutschen Hochschulverband als Hochschullehrerin des Jahres ausgezeichnet. Im April 2016 erhielt sie außerdem den SciLogs-Preis "Wissenschaftsblog des Jahres".

3 Kommentare

  1. Ich hab’ Fragen: Warum muss optimale Förderung dazu führen, dass die Unterschiede größer werden? Wenn z. B. durch die Verbesserung der Lebensumstände und der medizinischen Versorgung die Säuglingssterblichkeit zurückgeht, nimmt die Varianz der Lebenserwartung ab. Hat man in Gesellschaften, in denen die Leistungen in IQ-Tests in den letzten Jahrzehnten absolut gesehen zunahmen – als Indiz für verbesserte Förderung – eine Zunahme der Unterschiede beobachtet?
    Ist Seltenheit nicht ein problematisches Kriterium? Nach dem Flynn-Effekt wäre der Durchschnitts-Hochbegabte von 1950 mit seiner Testleistung heute nicht mehr hochbegabt. Nun könnte es aber auch heute Menschen geben, die unter insgesamt genauso förderlichen oder widrigen Umständen aufwachsen, wie sie einige Durchschnitts-Hochbegabte von 1950 erfahren haben – und sie könnten, absolut gesehen, dieselbe Testleistung erbringen. Was machte die einen zu Hochbegabten und macht die anderen heute nicht mehr dazu?

  2. Hallo Herr Machandel,

    danke für Ihre spannenden Fragen! 🙂 Ich fange mal von hinten an: Ich finde schon, dass Seltenheit ein ganz sinnvolles Kriterium ist. Der Begriff “Hoch-Begabung” impliziert ja auch, dass die Begabung das durchschnittliche Maß an Begabung übersteigt (analog zu Hochwasser, was mir auf der Suche nach einer Analogie gerade einfiel); und ich finde es interessant, dass das auch bei der Befragung von Laien so herauskommt. Ich glaube, allein schon, dass es einen gesonderten Begriff dafür gibt, zeigt auch ein Stück weit, dass das Phänomen als etwas Besonderes (was folglich auch eine eigene Bezeichnung erfordert) wahrgenommen wird. Vielleicht kann man sich das anhand von “Reichtum” verdeutlichen: Der eine Millionär unter Normalverbrauchern ist auf jeden Fall reich; wenn jetzt aber auf einmal alle eine Million haben, ist er auch nur noch einer von vielen Normalverbrauchern (weil die Million dann komplett im Durchschnitt liegt und nichts Besonderes mehr ist). Mit anderen Worten: Ich glaube, um einen Begriff wie “hochbegabt” definieren zu können, brauchen wir die Abgrenzung zur Mehrheit der “einfach nur so Begabten”, die schon dadurch die Norm darstellen, dass sie so viele sind. Dass IQ-Tests immer wieder neu normiert werden, unterstreicht das auch noch mal: Wenn alle hochbegabt sind, ist letztlich keiner mehr “hoch” begabt, sondern doch wieder nur alle durchschnittlich begabt.

    Was Ihre erste Frage betrifft: Dahinter steckt zum einen, dass diejenigen, die von vornherein ein gutes Potenzial zum Lernen mitbringen, unter optimalen Umständen in derselben Zeit auch viel mehr lernen können. Leta Hollingworth hat schon 1942 gesagt (ich zitiere aus dem Gedächtnis, nageln Sie mich bitte nicht auf die exakten Zahlen fest), dass ein Kind mit einem IQ von 140 die Hälfte seiner Schulzeit verschwendet, und wenn man sich anschaut, wie Begabtenförderung so abläuft und welche Erfolge sie hat (dazu gibt es ein Übersichtswerk von Vock, Preckel und Holling), kann man sich das lebhaft vorstellen. Das Wissen, was man dadurch erwirbt, ist nun wiederum eine sehr gute Grundlage dafür, noch mehr Wissen zu erwerben, weil das neue Wissen viel mehr Möglichkeiten hat, an das vorhandene “anzudocken”. Es ist sozusagen ein sich selbst verstärkender Kreislauf, bei dem die Obergrenze im Gegensatz zur Lebenserwartung einfach sehr, sehr weit weg ist – bei der Vielzahl von Nervenzellen sind einfach extrem viele Verknüpfungen möglich. Ich denke, das ist der zentrale Unterschied.

    Viele Grüße
    Tanja Gabriele Baudson

  3. Sie bringen ja einige Kritikpunkte am Film und werfen einige wichtige Fragen auf. Richtig so.
    Da frage ich mich allerdings, was macht den Film dennoch sehenswert? Hat er wirklich seriösen Informationswert oder ist er nur eine Plattform mehr für Menschen, die nicht wirklich brauchbare Informationen im Bestreben um die notwendige Bildungsreform abliefern, aber dennoch viel darüber reden.

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