Adventskalender, Tag 24: 24 Gedanken und Wünsche für Hochbegabte

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Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
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Das letzte Türchen – mit einem lachenden und weinenden Auge blicke ich auf die letzten 24 Tage zurück, die so viele schöne, traurige, in jedem Fall aber nachdenkenswerte Erfahrungen und Gedanken vieler Hochbegabter mit sich brachten. Mit einen lachenden aber auch deshalb, weil ich mich über Ihre Kommentare sehr gefreut habe – es ist toll, mit den Lesern Gedanken weiterzuführen! Und lachend ist das Auge auch deshalb, weil heute Heiligabend ist, worauf ich mich schon seit Tagen freue – und Sie hoffentlich auch! 🙂

Das letzte Türchen beinhaltet einen ganz besonderen Text. Er kommt von Ellen, einer jungen Lehrerin, die ich sehr bewundere, weil sie so viel von dem mitbringt, was gute Lehrkräfte ausmacht – die Fähigkeit, sich immer wieder selbst zu hinterfragen, und die große Motivation, es jeden Tag aufs Neue zu versuchen, es immer wieder ein bisschen besser zu machen. Und die dabei auch die Herausforderungen hellsichtig analysiert. Hier sind ihre Gedanken:

Begabtenförderung aus Sicht einer Lehrerin

Wir müssen uns von der Illusion verabschieden, dass es homogene Lerngruppen gibt. Wenn in meiner Klasse 27 Schüler sitzen, sind das 27 Individuen, die sich nur im Alter ähneln und ansonsten nach dem Zufallsprinzip zusammengewürfelt wurden. Jedes dieser Kinder bringt andere Voraussetzungen mit – Familie, Gesundheit, Interessen, Ängste, Wünsche, Träume und Erfahrungen. Auch (Schul-)Erfolg bedeutet für jedes dieser Kinder etwas anderes. Deswegen muss es darum gehen, Kinder da abzuholen, wo sie sind und entsprechend zu fördern. Dabei ist es gleichgültig, ob sie eine lesbare Schrift entwickeln, selbstständig Projekte durchführen oder eine Sprache lernen sollen. Wenn JEDES Kind gemäß seinen Bedürfnissen gefördert wird, passiert Begabtenförderung von alleine.

Damit aber das geht, muss man als Lehrer das einzelne Kind sehen. Es braucht Zeit, ein Kind wirklich wahrzunehmen. Diese Zeit fehlt im Alltag: Große Gruppen, hohe Lehrverpflichtung, vielfältige Erziehungsaufgaben – die eigentlich die Eltern erledigen sollten –, viele administrative Aufgaben rauben mir die Zeit, das Wesentliche zu tun: Jedes einzelne Kind sehen und entsprechend fördern. Die eigentliche Förderung ist dann Handwerk – es gibt mehr als genug Fördermaßnahmen auf beiden Seiten des Spektrums: für Schüler mit Lernschwierigkeiten ebenso wie für besonders begabte Schüler.

Ich habe auch einzelne sehr kleine Gruppen, in denen ich gute Arbeit leisten kann: Aufgaben auf verschiedenen Niveaus, Projektarbeit für manche, für andere das Einüben von Grundlagen. Einzelförderung durch mich oder durch Mitschüler. Idealerweise kommt das dann in der Klassenarbeit tatsächlich wieder alles zusammen. In diesen kleinen Gruppen ist es zudem ruhiger, und ich kann einen wirklich guten Raum schaffen, in dem die Schüler adäquat lernen können. Hier lernt tatsächlich so ziemlich jeder gerne. Niemand fällt hintenüber, niemand langweilt sich.

Um diese Form der Förderung wirklich umsetzen zu können, müssen wir Bildung anders denken. Wir brauchen mehr Räume, damit die Gruppen auch tatsächlich Platz haben und wir brauchen mehr Lehrerstellen, damit der Einzelne weniger unterrichten muss. Lehrer dürfen außerdem nicht länger als “faule Säcke, die nur halbtags arbeiten, vierzehn Wochen Ferien haben und dafür unverschämt gut bezahlt werden” gelten. Denn solange Lehrer und Schule als „Feind“ gesehen werden, können wir das nicht schaffen, und der Teufelskreis bleibt bestehen.

Was wäre das für eine Welt, wenn jedes Kind einfach nur den Raum hätte, in dem es gerne lernen würde.

Da steckt so viel Wahres drin – und ich finde diesen Text auch deshalb so gut, weil er zeigt, wie sich die schulische Situation für jemanden darstellt, der tatsächlich seinen Job gut machen und ihn verantwortungsvoll ausfüllen will. Wie frustrierend es ist, gegen künstliche Feindbilder anlaufen zu müssen – und wie man es trotzdem versucht, es jeden Tag aufs Neue wieder so gut zu machen, wie es geht. Solche Lehrkräfte zu bestärken und ihnen zu zeigen, dass man mit ihnen an einem Strang zieht, hilft auch der kindlichen Entwicklung.

“Wenn JEDES Kind gemäß seinen Bedürfnissen gefördert wird, passiert Begabtenförderung von alleine.” Ich glaube, das ist ein würdiger Schlusssatz für diese 24 Tage. Und ich wünsche allen Kindern (und auch ihren Eltern!), dass sie solche Lehrkräfte finden mögen.

Ihnen allen danke ich fürs Lesen und Kommentieren – hoffe, es hat Ihnen Spaß gemacht und Sie vielleicht ab und an zum Nach- und Weiterdenken angeregt. Und jetzt wünsche ich Ihnen schöne Festtage 🙂

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Dr. rer. nat. Tanja Gabriele Baudson ist Diplom-Psychologin und Literaturwissenschaftlerin. Seit Oktober 2017 vertritt sie die Professur für Entwicklungspsychologie an der Universität Luxemburg und ist als freie Wissenschaftlerin mit dem Institute for Globally Distributed Open Research and Education (IGDORE) assoziiert. Ihre Forschung befasst sich mit der Identifikation von Begabung und der Frage, warum das gar nicht so einfach ist. Vorurteile gegenüber Hochbegabten spielen hierbei eine besondere Rolle - nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auf das Selbstbild Hochbegabter auswirken. Zu diesen Themen hat sie eine Reihe von Studien in internationalen Fachzeitschriften publiziert. Sie ist außerdem Entwicklerin zweier Intelligenztests. Als Initiatorin und Koordinatorin der deutschen „Marches for Science“ wurde sie vom Deutschen Hochschulverband als Hochschullehrerin des Jahres ausgezeichnet. Im April 2016 erhielt sie außerdem den SciLogs-Preis "Wissenschaftsblog des Jahres".

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