Informatik ist Computerwissenschaft ist nicht Informatik

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Während das Deutsche sich mit der Bezeichnung “Informatik” für eine der beiden Hauptdisziplinen des HLF begnügt, wird im Englischen das zugehörige Sprachfeld von zwei unterschiedlichen Begriffen bevölkert: dem der deutschen Version im Schriftbild ähnlichen “Informatics”, und dem wörtlich als Computerwissenschaft übersetzbaren “Computer Science”. Und—wie könnte es, in trauter Erinnerung an die lange Liste falscher Freunde aus dem Englischunterricht, auch anders sein—natürlich ist mit unserer Informatik im allgemeinen Sprachgebrauch (und der öffentlichen Wahrnehmung) im Jahr 2015 in der Regel die Computer Science, und nicht die Informatics, gemeint. Was nicht nur sprachlich manchmal ein wenig schade ist.

Aber zunächst ein kurzer Blick auf den (gar nicht einmal so) kleinen Unterschied zwischen Computerwissenschaft und Informatics: Beschäftigt sich Computer Science mit theoretischen und praktischen Fragen rund um das Konzept der maschinellen Berechnung und Berechenbarkeit, so hat sich die Informatics generell Information zum Forschungsgegenstand gewählt. Computerwissenschaftler versuchen, mit mathematischen, logischen, oder den Ingenieurwissenschaften entlehnten Methoden die Grenzen dessen auszuloten, was mit Hilfe von (zumeist digitalen) Rechenmaschinen verschiedenster Form und Funktion erreicht werden kann. Informatics-Forscher hingegen beschäftigen sich auch mit (unter anderem) biologischer und sozialer Informationsverarbeitung und -übertragung, von Zeichensprache bis zu Computernetzwerken, von der Gerüchteküche auf dem Büroflur bis zu kryptographischen Protokollen im Online-Banking.

Ist Computer Science also “nur” eine Teildisziplin der Informatics? Wissenschaftstheoretisch gesehen vielleicht, in der gelebten Praxis aber mit Sicherheit nicht. Im Gegenteil, während die Computerwissenschaft seit Jahrzehnten (und keinesfalls zu Unrecht) stetig wachsende Aufmerksamkeit und Finanzierung erfährt, ist Informatics zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung mehr und mehr in den Hintergrund getreten. Computer sind inzwischen nahezu allgegenwärtig in verschiedensten Formen und Größen: PCs und Laptops am Arbeitsplatz, das Smartphone in der Tasche (und vielleicht sogar bereits die Smartwatch am Arm), das Fahrerassistenzsystem im Auto, oder das intelligente Haus mit Heizungs- und Beleuchtungssteuerung sind nur einige Beispiele. Das Studium von Kommunikation und Koordination in Bienenvölkern, oder Modelle für Informationskodierung und -kombination in biologischen Strukturen von Eiweißgruppen bis hin zu ganzen Ökosphären, auf der anderen Seite sind Themen, die doch in den allermeisten Fällen auf die Wahrnehmungssphäre des akademischen Elfenbeinturms beschränkt bleiben.

So weit, so gut? Nicht unbedingt. Zwar stellen Computer die vielleicht einflussreichste und lebensweltlich weitreichendste Erfindung der Neuzeit dar, deren tatsächliches Potential bis heute nicht wirklich ganz verstanden, geschweige denn beherrscht oder genutzt, wird. Mit Sicherheit befinden wir uns im Moment erst am Anfang eines tiefgreifenden Veränderungsprozesses, der unvermeidlich gesellschaftliche Realitäten verändern, lange bestehende Paradigmen im privaten wie auch im öffentlichen Bereich obsolet machen, und neue Lebensstile und -formen ermöglichen wird.

Das Forschungsprogramm der Informatics geht jedoch (noch) weiter und zielt auf Fragen, welche nahe am Kern unseres Selbst- und Weltverständnisses liegen. Art und Ablauf von Informationsaustausch und Informationsverarbeitung sind zentrale Charakteristiken jegliches Systems, welches auf Koordination in irgendeiner Form angewiesen ist—und sind somit bezüglich dieser Systeme notwendige Schritte für Verständnis und kontrollierte Interaktion. Bakterienkolonien, Schwärme von Glühwürmchen, unser soziales Umfeld, der Amazonas-Regenwald, Kontinente überspannende Klimazonen, all dies sind Beispiele für Systeme mit komplexen internen und auch nach außen gerichteten Informationsdynamiken, welche wir im Moment allenfalls beginnen, zu erkennen (von verstehen kann in den meisten Fällen überhaupt noch nicht die Rede sein).

Ganz klar, die direkte praktische Relevanz und Anwendbarkeit von Ergebnissen ist häufig in der Computer Science höher denn in der (nicht-computerwissenschaftlichen) Informatics, allein schon aufgrund der angesprochenen Allgegenwart von Computern im 21. Jahrhundert. Dennoch, der Informatics-Wissenschaftler ist häufig dem Bild des Naturforschers bei weitem näher denn viele seiner ingenieursinspirierten Kollegen in der Computer Science—insofern wäre ein Vergleich allein aufgrund der direkten technologischen oder ökonomischen Auswirkungen der jeweiligen Forschungsergebnisse überaus einseitig und kurzsichtig. Die Motivation, (wieder) mehr Aufmerksamkeit auch auf Informatics jenseits der maschinellen Domäne zu lenken, sollte vielmehr aus dem Potential der jeweiligen Forschungsresultate kommen, welche sich als Schlüsselergebnisse auf dem Weg zu Erklärungen für viele uns noch unverständliche Phänomene in unserer Welt erweisen werden. Als solche könnten diese sogar noch weitreichendere Auswirkungen haben, als es gerade mit der Erfindung und Verbreitung von Computern der Fall ist.

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arbeitet als PostDoc zu verschiedenen Themen aus dem Dunstkreis "Künstliche Intelligenz und Künstliche Kreativität" am Institut für Kognitionswissenschaft der Universität Osnabrück. Vor seiner Promotion in Kognitionswissenschaft hatte er Mathematik mit Nebenfach Informatik studiert, und ein einjähriges Intermezzo als "Logic Year"-Gaststudent an der Universität Amsterdam verbracht. Neben seiner eigentlichen Forschungsarbeit engagiert er sich als Wissenschaftskommunikator (zweiter Gewinner des 2013er Falling Walls Lab "Young Innovator of the Year"-Preises), Mitveranstalter von Wissenschaftsevents und gelegentlicher Autor des Analogia-SciLogs-Blog tätig.

3 comments

  1. Informatics beschäftigt sich also mit allen Aspekten von natürlichen und künstlichen Informationssystemen, angefangen von der Struktur, den Algorithmen, bis zum Verhalten solcher Systeme. Interdiziplinarität, “Crosscutting” und Synthesen von Ideen verschiedener Fachgebiete (Synkretismus) spielen hier eine Rolle.
    Informatics hat also eine holistische Tendenz: Sie will unsere Welt als Informationsmaschine vestehen. Damit ist sie keine reine Ingenieurwissenschaft mehr und damit auch keine exakte Naturwissenschaft. Gesellschaftlich relevant kann sie trotzdem sein.

  2. Informatik auf maschinelle Berechnung und Berechenbarkeit zu reduzieren gefällt vllt. den Mathematikern, greift aber viel zu kurz. Es geht in der Informatik auch um, z.B., Benutzerschnittstellen, Datenbanken, und Kommunikationsprotokolle.

  3. Die Beforschung des terrestrischen Klimasystems, die zurzeit “ein wenig” CO2-zentriert erfolgt, ist womöglich die exponierteste Anwendung der im WebLog-Eintrag erörterten Möglichkeiten, eigentlich, auch wegen ihrer Größe, es liegt nichts anderes vor als das bisher ambitionierteste Forschungsvorhaben des Primaten, etwas grundlegend Neues.

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