Der Gekreuzigte und die vergessenen Opfer der Theologie

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Denk-Geschichte(n) des Glaubens
Hinter-Gründe

Der Karfreitag, die Feier für einen Gehenkten: für viele ein unverständliches Relikt  mythologischen Denkens, religiöser Erstarrung. Für andere das tiefste Geheimnis des Glaubens: im Leiden des Gottessohnes die Offenbarung der göttlichen Liebe. Manche werden sich wundern, dass auch Theologen die eigenen Traditionen immer wieder hinter-fragen, quer denken zu den eingefahrenen Geleisen kirchlicher Denktraditionen. Ein Artikel in einer Zeitschrift für Kirche und Theologie, den „zeitzeichen“ (4/2011), erschien  jetzt auch für mich überraschend: „Auf die Täter fixiert“ von Dr. Rainer Stuhlmann.

Stuhlmann - zeitzeichen - Kreuzartikel

Der Verfasser ist Pfarrer i.R., vorher langjähriger theologischer Begleiter und Berater in der Leitung der Evangelischen Rheinischen Landeskirche. Und er hat eine Art querzudenken, die mich fasziniert hat – zumal, das ist ganz persönlich, er vom gleichen Jahrgang ist wie ich, 1945. Ja, wir hatten beim Studieren in den späten 60-er Jahren auch noch kantige theologische Lehrer, und Fragehorizonte rissen damals auf.  

Nun, Stuhlmann geht ganz direkt dagegen an, dass die übliche kirchliche Rede  vom „Sühnopfer Christi“ zu sehr auf die Täter fixiert sei und dadurch die Schmerzen der Opfer vergessen mache. Typische "Salon- und Kanzleitheologie" der vom Leid Verschonten, kultiviert in einem von juristischem Denken überwucherten Beamtenmilieu. Aus gut abgesicherter Position lasse sich trefflich über Sünde und Sühne disputieren. Aber wer fürchten muss, wie ein Lamm abgeschlachtet zu werden, und so geht es vielen Menschen auf der Welt, ist dem Verständnis der biblischen Metapher ‚Lamm’ näher als wir.“
Diese Provokationen, die unbewusste Mechanismen eingefahrener Theologen-Denkweise ankratzt, ließen auch mich aufhorchen – zumal er bei allem zeigt: Es geht gerade nicht um kosmetische Gefälligkeitskorrekturen am christlichen Glauben – gar um eine dem Zeitgeschmack angepasste „religion light“ – sondern darum, einige Zusammenhänge bis in die alten Wurzeln zu verfolgen und sie dadurch neu zu begreifen.

Die verhängnisvollste Weichenstellung
sieht er darin: „Die lateinischen Kirchenväter haben das Neue Testament eben mit der Brille des Römischen Rechtes gelesen. Und das ist täterfixiert und opfervergessen“. Das habe „die gesamte Erlösungslehre des Westens mit ihrer Konzentration auf Sünde und Vergebung“ auf eine „beschränkte Sicht“ fixiert: Doch die „Sünde der Welt“, die Christus  als „Lamm Gottes“ trägt  „ist nicht nur das Böse, das die Welt tut, sondern auch und vor allem das Böse, das sie erleidet.“ Und deshalb geht es um die Opfer böser Machenschaften und ihre Schmerzen – dass sie von diesen erlöst werden.

Also: Auch wenn (durch Anselm von Canterbury) im Mittelalter eine Satisfaktionslehre festgeschrieben wurde: die Sünde sei so groß, dass Gott eine so große Sühne brauche – und auch wenn die Reformatoren das mit übernommen haben –  es steht doch nirgends in der Bibel, dass Christus mit seinem Tod am Kreuz eine „Strafe Gottes für die Menschheit auf sich genommen und damit Gott versöhnt“ habe, wie öfters auch von Protestanten formuliert wird – in beamtenrechtlich beschränkter Sicht westlicher Theologie. Doch Gott muss doch nicht („wie ein beleidigter Corps-Student, der Satisfaktion fordert, ja, wie jemand, der auf Blut steht… um seinen Zorn zu stillen“) versöhnt werden, sondern die Leidenden der Welt sollen aufrecht gehen dürfen: „Als Anwalt an der Seite der Opfer tritt Christus den Tätern als deren Richter gegenüber. Er zieht sie zur Verantwortung, indem er sie mit den Opfern ihrer Taten konfrontiert“.  


Maler haben da manchmal weiter gedacht,
konkreter als Theologen. Das macht Stuhlmann an einem Bild von Matthias Grünewald klar:

Grünewald Gekreuzigter Christus

Grünewald hat „den Körper des Gekreuzigten für die Sterbenden im Colmarer Hospiz gemalt, über und über mit eiternden und blutenden Geschwüren übersät.“ So einer „predigt den Menschen nicht ‚Ich bin für deine Sünden gestorben.’ “ Sondern der bedeutet für die Leidenden: „Er hat meine Krankheit am eigenen Leib ertragen. Er ist ein Opfer wie ich. Und weil er der Sohn Gottes ist, ist er für die Opfer der beste Anwalt der Welt. Nur er kann mir Gerechtigkeit verschaffen. Nur er kann mich vom Bösen erlösen.“

Christologie der Solidarität
Ja, Christus ist der „leidende Gerechte“ der jüdischen Tradition. Und die Auferweckung dieses Gerechten fordert ein, dass endlich den Opfern herrschender Gewalt Gerechtigkeit widerfahre. Das sollen Christen, zum Beispiel im Gemeinschaftsmahl, feiern: Nicht bloß individualisiertes Sündenbewusstsein und daraufhin Sündenvergebung, sondern Aufbruch aus „vielfältiger Sklaverei“ – solidarisches Bündnis der Leidenden, gestärkt durch Christus.

Und da denke auch ich:
Diese Sichtweise kann aus manchen selbst gestellten Fallen der (verbeamteten) Theologie befreien. Es ist eben nicht bloß eine unverbindliche oder interessante Sichtweise, sondern ein Programm: Glaube – angestiftet durch den Bauhandwerker Yeshu aus Nazareth –
als Aufbruch zur Solidarität.

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Veröffentlicht von

Hermann Aichele Jahrgang 1945. Studium evang. Theologie in Tübingen, Göttingen und Marburg (1964-70), Pfarrer in Württemberg, jetzt im Ruhestand. Hinter die Kulissen der Religion allgemein und besonders des in den christlichen Kirchen verkündeten Glaubens zu sehen, das war bereits schon in der Zeit vor dem Studium mein Interesse: Ich möchte klären, was gemeint ist mit den Vorstellungen des Glaubens, deren Grundmaterialien vor Jahrtausenden geformt wurden - mit deren Über-Setzung für uns Heutige man es sich keinesfalls zu leicht machen darf und denen gegenüber auch Menschen von heute nicht zu leicht fertig sein sollten.

11 Kommentare

  1. Mal weg von der theologischen Überlegung, die mir naturgemäß sehr fremd ist, finde ich die Gegenüberstellung von Täter- und Opferperspektive hier interessant.

    Es ist ja nicht nur die Theologie, die da offenbar latent täterfixiert ist, auch unserem Rechtssystem wird oft vorgeworfen, die Opfer aus den Augen zu verlieren. Der Ursprung dürfte ebenfalls das römische Recht sein.

    Ich frage mich oft, ob ein Recht überhaupt funktionieren kann, in dem der Staat eben nicht nur gegenüber dem Täter Verpflichtungen hat, sondern auch dem Opfer in ähnlicher Weise gegenübertritt. Was meinst du?

  2. Widerpruch zur Bibel?

    Ich finde diese opferzentrierte Interpretation ja nicht schlecht, aber wie verträgt sie sich mit der Bibel, darin heißt es doch: “Seht, das Lamm Gottes, das hinweg nimmt die Sünden der Welt.” (Joh. 1,29).

  3. Sünde – Sünder – täterzentrierte Sprache

    Ja, @Mona, genau an dieser Stelle würde die opferzentrierte Interpretation nicht der Bibel widersprechen. Dazu siehe unten. Zunächst das:
    Man bedenke, dass – entgegen unseren Denk- und Sprachgewohnheiten – der Begriff „Sünde“ auch viel weniger täterbezogen ist. Eigentlich meint es – traditionell theologisch gesprochen – die zerstörte Beziehung zu Gott. Anthropologischer formuliert: grundsätzlicher, schmerzhafter Riss im Menschsein. Traditionelle Formulierung (vermutlich bei Luther) dazu: homo incurvatus in se ipsum = der in sich selbst verkrümmte (verbohrte) Mensch.
    Der Begriff „Sünde“ wurde dann aber – im Zug altkirchlicher und dann besonders mittelalterlicher Bußpraxis, die protestantisch dann auch nicht einfach aufgegeben wurde – immer mehr täterbezogen; und es entstanden aus der „Sünde“, die (als Beziehungsbegriff: negative Beziehung zu Gott) eigentlich nur singularisch verstanden werden sollte die Sündentaten, die Sünden. (Und eine besondere Engführung ist ja die Konzentration auf sexuelle „Sünden“, aber das wäre nochmals ein anderes Problem).
    Man kann vielleicht für diese Gewichtsverschiebung auch das Denken durch die römische Rechtsbrille verantwortlich machen. (Das mit der römischen Täterzentriertheit ist mir ein so neuer und überraschender Gedanke, dass ich ihn auch zuerst mal ‚verdauen’ muss: einige Zusammenhänge darauf abklopfen – deshalb sage ich hier ‚vielleicht’).
    Ist aber auch klar, dass verfehltes Leben am ehesten eben an einzelnen Taten beschreibbar ist. Deshalb kann man auch von Sünden im Plural sprechen. Ich möchte es also nicht grundsätzlich gegeneinander ausspielen, möchte aber diese Akzentverschiebung betonen.
    Und jetzt solche Dinge wie Joh. 1,29: Da steht die „Sünde“ auch singularisch: Er nimmt hinweg die Sünde der Welt“. Um es mal der Betonung aus dem Stuhlmann-Aufsatz anzupassen, könnte man auch übersetzen:
    Das ist das Opferlamm Gottes (das er einbringt), er (er)trägt (er stemmt) den schmerzhaften Riss der Welt.
    Man kann überhaupt oft, wo „Sünde“ steht, von den Schmerzen der Menschheit reden – vom schmerzhaften Riss, der das Menschsein schwer macht.
    Es gibt sicher auch Bibelstellen, bei denen man es nicht so lesen kann. Aber man darf es durchaus, wenn man keine abschließende Definition daraus machen muss, an vielen Stellen in dieser Richtung betonen.

  4. Der Staat – SEINE Verbrecher und SEINE Opfer

    Au, @Lars Fischer, diese Überlegungen führen mich auf ein vermutlich zu weites Gebiet, in dem ich mich zu wenig auskenne.
    Klar ist wohl, dass die Theologie und die Jurisprudenz durch die Jahrtausende hindurch ihre Wechselwirkungen hatten. Der Begriff „Sünde“, „Sünder“ wurde innerhalb juristischen Denkens natürlich nur täterbezogen verstanden. (Vgl. dazu das, was ich zu Mona schrieb). Und dann bzw. in Wechselwirkung eben auch innerhalb der (christlichen) Religion. Dass die Römer mit ihrem Rechtssystem sehr täterbezogen waren, wusste ich zwar irgendwie, aber der Gedanke Stuhlmanns, dass dies einen fatalen Einfluss auf die Kreuzestheologie hat, ist mir neu und überraschend. Luther, der selber mal Jura studierte, hat scheints mal gemeint, Juristerei würde die Theologie verderben. Das wäre ein Beispiel, an das er aber vielleicht dabei nicht gedacht hat.
    Aber jetzt zur deiner Problem-Zuspitzung: Über Forderungen an unser Rechtssystem habe ich nie intensiver nachgedacht. Vermutlich garantiert es in seiner jetzigen Form eben objektiv messbare Kriterien (und das hielten wohl schon die praktischen Römer für gut). Ich nahm (über die kirchliche Schiene) allerdings auch schon mehrfach wahr, welche Anliegen etwa der „Weisse Ring“ (Beistand für Kriminalitätsopfer) hat und finde es etwas merkwürdig, dass diese Anliegen von einem mehr oder weniger privaten Verein engagierter Leute wahrgenommen werden (müssen). Eine Staatsverpflichtung gegenüber den Opfern wäre sehr wohl angebracht: Befriedung der Opfer (was hoffentlich etwas anderes ist als Befriedigung von Rachegelüsten). Nicht nur mit den Verbrechern muss der Staat verantwortlich umgehen, sondern auch mit den Opfern der Verbechen. Beides sind SEINE Leute, für die er die Verantwortung nicht abgeben darf. Dazu die etwas hinter-sinnige Überschrift.
    Eine weitere Sache ist, ob man Täter und Opfer einander begegnen lassen kann – im Prozess? Gibt sicher solche Fälle – aber auch solche, in denen es sich verbietet. Und dazwischen eine sensationsgetrimmte Berichterstattung – u.U. sehr opferzentriert. Irgendwie braucht man wohl Kriterien, die jenseits des Täter-Opfer-Schemas sind.
    Na, und etwas jenseits von Juristerei und (direkter) Theologie fällt mir ein: die verschiedenen Versöhnungs-Geschichten zur Aufarbeitung der Verbrechen im 20. Jahrhundert – die sind so etwas wie Täter-Opfer-Ausgleich. Aber wohl nicht justitiabel, sondern auf guten Willen und viel Klugheit (und entsprechende Zurückhaltung) angewiesen.
    So viel, aber mehr doch nicht…

  5. @Hermann & Lars

    Vielen Dank für diese Meditation, lieber Hermann, die ich mit in den Karfreitag nehme.

    Auch bei mir scheint da intuitiv Zustimmung und Unbehagen an den Zuständen auf: Als es z.B. zu dem furchtbaren Amoklauf in Winnenden kam, titelte der Spiegel mit dem Täter – die Opfer blieben gesichtslos. Da stimmt mit uns doch etwas nicht…

  6. Ansichten eines nicht gelehrten “dummen” Praktikers:

    Das der “Staat” sich auf die Täter konzentriert hat nach meiner Ansicht praktische Gründe.
    Um Sicherheit und Ordnung zu erhalten darf es keine Selbstjustiz geben.
    Also muss die Strafverfolgung und die Bestrafung durch den “Staat” erfolgen. Der “Staat” muss sich dabei aber an das Grundgesetz und die jeweiligen Gesetze halten (StPO, StGB, …). Dadurch mag der Eindruck entstehen, dass nur der Täter geschützt ist und Rechte hat. Auf der anderen Seite ist doch auch die Verfolgung und Bestrafung des Täters Opferschutz – auch wenn der Täter die Hauptrolle spielt.

    Dabei halte ich es auch für sehr wichtig, dass z.B. Verhandlungen öffentlich sind und alle Beweise und Vernehmungen im Gericht stattfinden müssen – wobei es hier ja Ausnahmen gibt. Ob nun der Öffentlichkeitsgrundsatz oder die Privatsphäre des Opfers, bzw. die Gefahr, dass das Opfer durch die Verhandlung erneut leidet, stärker wiegen, muss natürlich immer wieder diskutiert werden – und gegebenenfalls zu Gesetzesänderungen führen.

    Was den Opferschutz angeht:
    Da lässt sich leicht sagen: Das muss der “Staat” machen. Ist eine gute Möglichkeit, sich selbst aus der Verantwortung zu nehmen.
    Opferschutz wird nicht aufgezwungen – somit kann es von einem Verein angeboten werden. Das Opfer kann selber entscheiden, ob es Angebote von entsprechenden Einrichtungen annimmt oder nicht. Es gibt genügend Einrichtungen. Ansonsten ist hier wohl vor allem das soziale Netz des Opfers wichtig, hier sind wir alle verantwortlich.

    Ich stelle mir das Ganze gerade andersherum vor:

    Der Staat hat bestimmte Befugnisse den Opfern zu helfen und kann diese z.B. zwangsweise einer Therapie zuweisen. Auf der anderen Seite wird die Strafverfolgung von Vereinen durchgeführt. Die Täter können sich dort freiwillig melden, um bestraft zu werden – zwangsweise geht ja nicht.

    (Der Begriff “Staat” wurde von mir in Anführungszeichen gesetzt, da er wohl nicht der wissenschaftlichen Definition entsprechend verwendet wurde.)

  7. Der Blick auf Opfer und Täter

    Ja, @Karin – ist schon klar, dass der „Staat“ Maßnahmen in Bezug auf die Täter sich nicht sparen darf. Diese Gewichtsverlagerung wie in Ihrer ironischen Zuspitzung im letzten Absatz geht ja wirklich nicht. Das weiß jeder. Und müsste auch jeder wissen, dass es besser ist, Täter werden durch offizielle staatliche Stellen verfolgt. Das ist auch klar. Die Sache der Selbstjustiz überlassen, das will hoffentlich keiner.
    Trotzdem, mir gibt es schon zu denken, wie viele doch nicht unberechtigte Forderungen etwa der „Weisse Ring“ stellt. Und was er an fehlender Berücksichtigung von Opfer-Interessen zu beklagen hat. Siehe etwa folgende Grundsatzausführungen :
    „Wir können Opfern auf vielfältige Weise helfen: von der persönlichen Betreuung nach der Straftat über Hilfestellungen im Umgang mit den Behörden, Erholungsprogramme, einem Beratungsscheck für die kostenlose Erstberatung bei einem frei gewählten Anwalt, Rechtsschutz, einem Beratungsscheck für eine kostenlose psychotraumatologische Erstberatung bei Belastungen in Folge einer Straftat, Begleitung zu Gerichtsterminen sowie der Vermittlung von Hilfen anderer Organisationen.“ Oder auch die andere Unterseite dieser Homepage: Strafrechtspolitische Forderungen..
    Es tut weh zu sehen, dass manche Hilfestellung für Opfer nicht so selbstverständlich ist. Und vielleicht noch mehr weh, dass Hilfestellung bei einfachen Rechtsvorgängen, beim Gang zu Behörden, nötig sind – weil sich manche Opfer sonst nicht trauen. Ist natürlich auch gut, wenn private Vereine da was tun – und wieder einmal sind es oft (aber natürlich nicht nur) Christen, die sich da engagieren.

    Aber zurück zum originalen Thema: Es geht – zumindest bei den gemeinsamen Auswirkungen von theologischen und juristischen Traditionen – wohl weniger um direkte Maßnahmekataloge, sondern: wie können gewisse Traditionen durch Teilblindheit oder ungeschickte Akzentverschiebungen dem Selbstwertgefühl dieser oder jener Leute schaden? Welche Aufmerksamkeit bekommen diese oder jene Leute? Und was mutet man ihnen durch gewisse standardisierte Formeln zu – theologisch: als „Sünder“; oder behördlich: als „Bittsteller“?
    Dabei ist eine gewisse voyeuristische Aufmerksamkeit für die Tatopfer ja auch nicht so gut. Oder manche Indiskretion. Um aus meinem Erfahrungsbereich zu sprechen: Einem Pfarrer knallen natürlich manche Fragen manchmal sehr massiv entgegen, warum dieses Unglück geschehen sei. Genau solche Fragen muss man auch öffentlich beantworten und hat immer Beispiele dafür vor Augen – darf aber die individuellen Beispiele nicht nennen; UND ich habe es mir auch abgewöhnt, bei öffentlich sichtbaren Katastrophen lange und breit die Auswirkungen auf die Opfer und ihr Verhalten zu schildern. Das sollte man auch nicht auswalzen – könnte voyeuristisch werden; oder reißerisch: Unglücke als willkommenes Kolorit. Könnte die Würde der Betroffenen verletzen.
    Auch unter solchen Gesichtspunkten überlegt man sich etwa bei „Brot für die Welt“, wie man Armut darstellen darf, ohne die Menschenwürde der Betroffenen zu verletzen.

  8. Opfersicht

    Mag sein, daß ich mich jetzt als vom Leid verschonter Salontheologe oute, aber ehrlich gesagt hatte ich immer Probleme damit zu verstehen, worin genau der Trost liegt wenn Jesus als ohnmächtig mitleidend vorgestellt wird. In meiner Naivität stelle ich mir vor, das Opfer will seine Situation überwinden und selbst in die Hand nehmen, also in gewissem Sinne mächtig sein. Ein Jesus als Mitleidender erscheint mir in diesem Fall wenig hilfreich, in dieser Perspektive würde ich nur sehen: “Gott selbst hat es auch nicht geschafft, dem Leid zu entgehen”. Das allerdings wäre weniger ein Zeichen der Hoffnung als eines der absoluten Trostlosigkeit.
    Sicher, die Sühnopfersache, dieses juristische Denken in den Bahnen von “gib Du mir was dann geb ich Dir was” ist mindestens fragwürdig, jedenfalls empfinde ich es so. Ein Gott, der mit Opfern besänftigt werden muß – und seien die Opfergaben gute Werke – entspricht nicht meinem Gottesbild, in dem Gott vor allem seine Geschöpfe liebt und aus dieser Liebe heraus in einem zweiten Denkschritt auch zornig sein kann auf diejenigen, die seinen geliebten Geschöpfen schaden.
    Ich finde mich eher in der von Gustav Aulén beschriebenen “Christus Victor” Sichtweise auf den Kreuszestod wieder: Der Tod als Opfer, ja, aber nicht für einen zornigen Gott, sondern, wenn man so will, für den zornigen Menschen, für den Satan in uns. Aulén schreibt übrigens, daß mindestans Luther ebenfalls ind en Bahnen von “Christus Victor” dachte, und weniger in anselmscher Sühneopfertheologie.
    Es wird also nicht Gott mit den Menschen versöhnt, sondern der Mensch wird mit Gott versöhnt, der dem Menschen (siehe AT) grundsätzlich immer erst einmal positiv und liebend gegenüberstand. Der Mensch war es, der beschwichtigt werden mußte, und Gott tat es nicht, indem er machtvoll dreinschlug, sondern indem er ertrug, in Liebe zum Täter Mensch. Und in dieser Liebe besiegte er den Haß. Nicht den Haß Gottes auf den Menschen, sondern den Haß des Menschen auf Gott.
    Inwieweit Menschen in einer Opfersituation damit etwas anfangen können, vermag ich wenig zu sagen. Ich bin Gott sei Dank nicht in der Situation Opfer von Gewalt und dergleichen zu sein. Die Opfer der Menschen scheinen mir im Krfreitsgageschehen wirklich keinen großen Platz einzunehmen, sie kommen vorher in den Evangelien vor, wo sie Annahme durch Jesus erfahren. Das Kreuz aber, so scheint es mir, verändert ihre Opfersituation nur insofern, als die Täter von Jesus durch Liebe überwunden werden und fortan keinen Schaden mehr anrichten. So gesehen recht unbefriedigend…

  9. Opfer um der Opfer willen

    Na, @bundesbedenkenträger – ein bunter Reigen von Bedenken, die man wohl bedenken kann. Danke! Aber entsprechend lange brauchte ich auch; und brauche ich jetzt.
    Also, so schnell muss man sich nicht als „Salontheologe“ haftbar machen lassen.
    Die Behauptung von Stuhlmann, die mir imponiert, ist ja nicht etwa, dass die Opfer der Geschichte, der verschiedensten bösen Machenschaften, in der gesamten christlichen Theologie durchweg vergessen werden. (Da war meine Überschrift etwas provokativ missverständlich). Sondern die Behauptung ist, dass die Zuspitzung auf die Sühnopfervorstellung (oder eigentlich sogar der Stil der auch derzeitigen hitzigen Debatte darüber) täterzentriert und opfervergessen sei und in dieser Zuspitzung typische Salontheologie sei. Es gibt natürlich immer – auch in Erörterungen zum Kreuz, auch in akademischeren – den Blick auf die Opfer der Weltgeschichte – die unter die Räder kommen. Wäre es sonst christliche Theologie?! Aber die Sühnopfertheologie, das ist die Behauptung, spreche die Menschen zu undifferenziert als Täter, Bösewichte ff an. Sie bremse (blockiere evtl. auch) den Blick auf ihre Opfersituation.
    Ihre Einwände gegen die Solidaritätschristologie (“Gott selbst hat es auch nicht geschafft, dem Leid zu entgehen”) könnte Stuhlmann wohl auch mittragen. Ich halte sie jedenfalls für berechtigt. Aber Stuhlmann ist gegen den Vorwurf an die Solidaritätschristologie, sie würde sich um die Heilsbedeutung des Kreuzes und den Gedanken der Stellvertretung herummogeln. Nein: „Als Anwalt an der Seite der Opfer tritt Christus den Tätern als deren Richter gegenüber. Er zieht sie zur Verantwortung, indem er sie mit den Opfern ihrer Taten konfrontiert“. Das wäre dann etwas mehr als das, dass „die Täter von Jesus durch Liebe überwunden werden und fortan keinen Schaden mehr anrichten“
    Und er betont dasselbe wie Sie: „Es wird also nicht Gott mit den Menschen versöhnt, sondern der Mensch wird mit Gott versöhnt“. Aber genau das würde oft vergessen, überformt durch den Sühnopfergedanken, wie er auch im Heidelberger Katechismus und im Augsburger Bekenntnis formuliert würde (das müsste ich erst nachschauen).
    Dass es bei Luther auch anders klingt, betonen Sie zu Recht. „Christus Victor“ als stehenden Ausdruck (bei Luther) kenne ich zwar nicht, kann mir aber denken, dass das einiges von Luther trifft und in die richtige Richtung führt: Christus als Sieger über Tod und Teufel, Sünde und Hölle.
    Sie schreiben über Christus: In seiner „Liebe besiegte er den Haß. Nicht den Haß Gottes auf den Menschen, sondern den Haß des Menschen auf Gott. Inwieweit Menschen in einer Opfersituation damit etwas anfangen können, vermag ich wenig zu sagen.“ Man könnte doch zumindest so viel sagen: Wenn Menschen in einer Opfersituation nicht Hass auf Gott schieben und dessen Retourkutsche fürchten (oder ihr Leiden als gerechte Strafe Gottes anzusehen verdammt sind), sondern auf die Kraft Gottes vertrauen, die in den Schwachen mächtig ist – die Kraft der Solidarität -, dann ist schon einiges gewonnen. Immerhin zündet ja mit Ostern so viel, dass die mit der Hinrichtung ihres Meisters (vom Synhedrium) als Gottesfeinde Gebrandmarkten und auf den Mund Geschlagenen ihn jetzt aufmachen – dass sie nicht mehr, aus Furcht vor dem Tod, ihr Leben lang Knechte sein wollen. Und das gefällt einigen großen Herren gar nicht…
    So weit – für heute mal.

  10. @Aichele

    “, aus Furcht vor dem Tod, ihr Leben lang Knechte sein wollen.”

    So?

    Dies ist die Offenbarung Jesu Christi, die ihm Gott gegeben hat, seinen Knechten zu zeigen, was in der Kürze geschehen soll; und er hat sie gedeutet und gesandt durch seinen Engel zu seinem Knecht Johannes, Offenbarung 1.1

    Komisch da steht “Knecht” (auch in der Interlinearübersetzung)

  11. Knechte @Bohnenkamp

    Och, Sascha Bohnenkamp, Sie waren auch schon besser. Sie haben sich sonst auch schon ganz bibelkundig gekabbelt. Was sollte hier ein einzelnes Zitat aus der Johannesoffenbarung?
    Im Blog bei Achtner schrieben Sie mal: „Ich glaube Herr Achtner wollte nur testen, ob hier anwesende Atheisten die Bibel wirklich kennen. ;)“. Daran musste ich denken.
    Sie und ich kennen sicher viele Zitate aus der Bibel, in denen „Knecht“ als Begriff vorkommt. Sie brauchen doch sicher nicht den Hinweis auf eine digitale Bibel mit Suchfunktion. In der von mir benützten finde ich: „Knecht“ kommt anscheinend 685 mal allein in der Lutherbibel vor – in den verschiedensten Zusammenhängen und Bewertungen.
    Also, was soll ein einzelnes Zitat?
    Aber ich verrate Ihnen, dass ich mit dem „nicht aus Furcht vor dem Tod ihr Leben lang Knechte sein“ auch ein einzelnes Bibelzitat verwendete (ungekennzeichnet, nach der Methode zu Guttenberg 😉 : Hebr. 2,15.
    So, und wenn man die beiden Zitate in Beziehung zueinander setzt, dann kommt eine ganz interessante Dialektik heraus, die traditionell so bezeichnet wird: Gott zu dienen ist die höchste Freiheit (Deo servire summa libertas). Na, ich habe es absichtlich etwas anders ausgedrückt: Mit dem, was an Ostern zündete, begannen die bis dahin ohnmächtig und stumm Geschlagenen, ihren Mund aufzumachen.. Und dazu Hebr.2,15. Oder das kann auch dazu genannt werden:
    Sie sollten nicht mehr „der Menschen Knechte werden“ (auch so ein Bibelzitat – 1.Kor 7,23). Also, damit wird schon so etwas wie die Initialzündung einer Freiheitsbewegung markiert.
    Inwieweit bestimmte Denkweisen des Glaubens diese ermöglichen oder dann auch wieder blockieren – darum sollte es gehen.

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