Galilei und der Planet Neptun

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Das Jahr 1846 gilt gemeinhin als Entdeckungsjahr des Planeten Neptun. Am 23. September fanden Johann Gottfried Galle und Heinrich Louis d’Arrest in Berlin den blauen Gasriesen, nachdem der Astronom Urbain Le Verrier seine Position auf ein Grad genau berechnet hatte. Doch es war nicht das erste Mal, dass der Planet durch ein Teleskop betrachtet wurde. Schon 234 Jahre zuvor hatte ihn ein Astronom gesehen: Galileo Galilei.


Abb. 1: Der Planet Neptun mit seinen Monden Proteus, Larissa und Despina. (NASA/JPL)

Wie aber kam der große Astronom aus Pisa (seine Beobachtungen machte er in Florenz) zu dieser Sichtung? Etwa alle 12 Jahre überholt Jupiter den weiter von der Sonne entfernt kreisenden Neptun, und die beiden Wandelsterne begegnen sich an der Himmelssphäre. Weit seltener kommt es vor, dass sie für einige Tage gemeinsam im Fernrohr sichtbar sind. In diesem Jahr kommt es wieder zu einer solchen Begegnung: Wer am 25. Mai 2009 den Jupiter mit einem Fernrohr beobachtet, kann einen knappen Vollmonddurchmesser weiter nördlich ein Sternchen der 8. Größenklasse sehen. Bei hoher Vergrößerung erscheint es als winziges, blaues Scheibchen – es handelt sich tatsächlich um Neptun. Für ein paar Nächte dient der Jupiter sozusagen als Aufsuchhilfe.

Eine solche Begegnung fand auch im Januar des Jahres 1613 statt. Mehr noch: Jupiter und Neptun kamen sich (an der Himmelssphäre natürlich, nicht in Wirklichkeit) so nahe, dass der kleine Neptun für einige Stunden von der viel größeren Jupiterscheibe bedeckt wurde. Im Gegensatz zu heute gab es damals nur einen einzigen Menschen, der den Nachthimmel mit einem Fernrohr betrachtete, denn das war erst kurz zuvor erfunden worden. Der Mann hieß Galileo Galilei, und weil er sich Nacht für Nacht mit dem Jupiter und seinen von ihm selbst entdeckten Monden beschäftigte, entging ihm auch dieses bläuliche Sternchen nicht. Doch obwohl er es mehrfach beobachtete und seine Position am Himmel akkurat notierte, erkannte er die wahre Natur dieses „Sternchens“ nicht. Galilei verpasste somit nur um Haaresbreite den Ruhm, Entdecker des achten Planeten zu sein – noch bevor der siebte überhaupt bekannt war.


Abb. 2: Zeitgenössisches Portrait Galileo Galileis von Justus Sustermans, 1636.

Das Kuriose an der Geschichte: Aus den Aufzeichnungen Galileis geht hervor, dass er nicht nur die Position des Neptun am Himmel dokumentierte, sondern dass er sogar die Bewegung des Planeten vor dem Hintergrund der Sterne erkannte. Dennoch verfolgte der große Astronom die Spur nicht weiter. So mussten bis zur „Wiederentdeckung“ des Neptun eben noch 234 Jahre vergehen.

Noch ein weiteres Detail ist bemerkenswert: Die Sichtung des Neptun durch Galilei blieb den Wissenschaftshistorikern 366 Jahre völlig unbekannt. Erst Ende der 1970er Jahre untersuchte ein Astronom vom Mount Palomar Observatorium gezielt Galileis Aufzeichnungen: Charles Kowal, dessen eigentliche Aufgabe die Untersuchung von Supernovae war, interessierte sich leidenschaftlich  für die Suche nach unbekannten Objekten des Sonnensystems. Mit Hilfe des 48-Zoll-Teleskops auf dem Palomar entdeckte er eine Reihe von Kometen und Asteroiden und sogar Leda, einen der kleinsten Jupitermonde, der vor der Mission der Voyager-Sonden von der Erde aus entdeckt wurde. Sein geheimer Traum aber war die Entdeckung des mysteriösen „Planeten X“.

Zu jener Zeit waren viele Astronomen der Ansicht, dieser noch unbekannte Planet X könne für die beobachteten Unregelmäßigkeiten der Neptunbahn verantwortlich sein. Für eine gründlichere Untersuchung benötigte man Beobachtungsdaten des Neptun über einen längeren Zeitraum, denn seit seiner Entdeckung hat der sonnenfernste Planet noch keinen vollen Umlauf um unser Zentralgestirn vollzogen. Kowal suchte nach engen Begegnungen zwischen Neptun und anderen, helleren Planeten in der Vergangenheit und nach zufälligen Beobachtungen dieser Konstellationen. Er wurde fündig – in Galileo Galileis Beobachtungsbüchern.

Der Italiener hatte bereits im Jahr 1609 die vier hellsten Jupitermonde entdeckt, und diese und andere Aufsehen erregende Entdeckungen 1610 in seinem Werk Sidereus Nuncius veröffentlicht. In den Folgejahren beschäftigte er sich eingehend mit der Beobachtung des Jupitersystems. Für ihn war die Entdeckung, dass Jupiter über ein eigenes Mondsystems verfügte, ein schlagender Beweis gegen das aristotelisch-ptolemäische Weltbild. Dessen Anhänger hatten gegen die kopernikanische Auffassung, dass die Erde mitsamt ihrem Mond um die Sonne kreist, stets eingeworfen, dass der Mond hinter der an ihrer Kristallsphäre befestigten Erde zurückbleiben müsse – denn nach Aristoteles ist der natürliche Zustand eines Körpers die Ruhe, und das Konzept der Gravitation kannte man noch nicht. Mit den Jupitermonden hatte Galilei ein Gegenbeispiel zu dieser These gefunden.

Zwar gilt die Entdeckung der Jupitermonde aus moderner Sicht nicht als zwingendes Argument für die Richtigkeit des kopernikanischen Weltbilds, beweist es doch höchstens, dass Aristoteles’ Idee von den Kristallsphären falsch ist. In einer modifizierten Version hätte Jupiter sich mit seinen Monden sehr wohl um die Erde bewegen können. Es war eine weitere Entdeckung Galileis, die dem geozentrischen Weltbild den Todesstoß versetzte. Er erkannte, dass die Venus im Teleskop Lichtphasen wie der Mond zeigt. Vor allem aber stellte er fest, dass die scheinbare Größe Venus auf ihrer Bahn variabel ist. Dies ließ sich im Modell des Aristoteles und Ptolemäus nicht erklären, ist jedoch eine natürliche Folgerung der kopernikanischen Weltsicht.

Galileis Beobachtungsbücher werden heute in der Biblioteca Nazionale Centrale di Fierenza aufbewahrt. Sie enthalten eine Unzahl von Zeichnungen des Jupitersystems aus den Jahren von 1609 bis 1613. Im Dezember 1612 und im Januar 1613 kamen sich Neptun und Jupiter mehrfach so nahe, dass sie in Galileis Teleskop gemeinsam sichtbar waren. Kowal vermutete, dass der Italiener Neptun gesehen haben könnte und wandte sich 1979 an die Bibliothek des Hale-Observatoriums. Diese besaß ein Exemplar einer Publikation von Galileis Aufzeichnungen, die im Jahr 1909 in Italien veröffentlicht worden war. Im Laufe der Jahrhunderte sind etliche Versionen von Galileis Werken erschienen. Einige wurden restauriert und bearbeitet, ein Umstand, der noch wichtig sein wird.

Ungläubig darüber, dass in 366 Jahren vor ihm niemand auf die gleiche Idee gekommen war, entdeckte Kowal auf einer Beobachtungszeichnung vom 28. Januar 1612, wonach er suchte: Die erste dokumentierte Beobachtung des Planeten Neptun. Sie ist hier in Abbildung 3 dargestellt.

Abb. 3: Galileis Eintrag in seinem Beobachtungsbuch vom 28. Dezember 1612. Beschreibung im Text.

Leider liegen mir die Skizzen nur in stark komprimierter, digitaler Form vor. Dennoch sind in der Abbildung 3 alle wesentlichen Details gut zu erkennen. Überschrieben ist die Skizze mit den lateinischen Worten:

1612 Dezember 27, 15. Stunde 46 [Minuten] nach Mittag, als Venus (♀) aufging.

Dies entspricht dem 28. Dezember, 03:46 Uhr Ortszeit, denn Galilei zählte die Stunden eines Tages ab dem Mittag. Florenz liegt bei etwa 11° östlicher Länge, der koordinierten Weltzeit UTC um rund 45 Minuten voraus. Der Zeitpunkt der Beobachtung dürfte damit nach heutigen Maßstäben der 28. Dezember 1612, 03:00 UTC sein. Dies deckt sich auch mit der Angabe, dass die Venus zu diesem Zeitpunkt aufging. Den Anblick des Jupitersystems zu diesem Zeitpunkt zeigt Abbildung 4. 

Abb. 4: Stellung der Jupitermonde (von links bzw. Osten nach rechts bzw. Westen): Ganymed, Io, Europa, Callisto) am 28. Dezember 1612, 3:00 UTC. Io löste sich gerade von der Jupiterscheibe und war daher in Galileis Fernrohr unsichtbar. Das Objekt am linken Bildrand ist der 7,9mag helle Neptun, in der rechten oberen Ecke befindet sich der Stern SAO 119234 (7,0mag). Norden ist in allen Abbildungen oben, Westen rechts. 

Galilei orientierte seine Skizzen so, dass die Nordrichtung nach oben und die Westrichtung nach rechts weist. Die Abstände der Jupitertrabanten gab er in Radien des Jupiterscheibchens an und notierte die Werte, wie in der Abbildung 3 ersichtlich, direkt an die Skizze. Die Genauigkeit, mit der er diese Positionsmessungen durchführte, ist bemerkenswert. Zwar überschätzte Galilei aufgrund der Abbildungseigenschaften seines Teleskops den Durchmesser des Planetenscheibchens um etwa 10% – unter Berücksichtigung dieses Skalenfaktors verzeichnete er die Positionen der Jupitermonde aber mit einer Präzision von bis zu 0,1 Jupiterradien und nie schlechter als 0,2 Jupiterradien. Das ist feiner als der Durchmesser der Tintenpunkte, mit denen er die Monde markierte!

Die drei auf der Zeichnung zu erkennen Monde sind Ganymed, Europa und Callisto (von links nach rechts, bzw. Osten nach Westen). Wie aus der Simulation ersichtlich ist, befand sich Io zum Zeitpunkt der Beobachtung am westlichen Rand der Jupiterscheibe, er vollführte gerade einen so genannten Durchgang vor Jupiter und war in Galileis Fernrohr nicht zu erkennen. Ein gutes Stück nordöstlich aber zeichnete Galilei ein Objekt, dass er als „fixa“, also als Fix-(Stern) bezeichnete, und das er durch eine gepunktete Linie mit Jupiter verband. Dieser vermeintliche Stern, das zeigt die Simulation ganz klar, ist der Planet Neptun, der mit seiner scheinbaren Helligkeit von 7,9mag ohne Zweifel in Galileis Fernrohr zu sehen war.

Galileis Zeilen unterhalb der Skizze von 03:00 UTC sind nicht leicht entzifferbar (und überfordern meine längst verblichenen Lateinkenntnisse), daher habe ich hier eine englische Übersetzung zu Rate gezogen:

Eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang. Die beiden westlichen [Monde] waren sehr dicht beieinander, etwa 0,20 [Jupiterradien] bezüglich ihrer Länge (?), aber der östliche hatte eine solche Breite (?), dass es schien, als würde er den anderen beinahe berühren in dieser Konjunktion. Zur selben Zeit war ein vierter Stern sichtbar, und der östliche [Mond] entfernte sich; und so war die Konfiguration [Jupiters und seiner Monde], die Tabellen [Galileis Berechnungen von den Jupitermondstellungen] stimmten damit sehr schön überein.

Der „vierte Stern“ ist Neptun. Diese Skizze darf also als die erste aufgezeichnete Beobachtung dieses Planeten angesehen werden.

Die gestrichelte Linie gibt, wie der Vergleich mit der Simulation zeigt, nur den Positionswinkel, nicht aber die korrekte Entfernung des „vierten Sterns“ zu Jupiter an. Galilei konzentrierte sich hauptsächlich auf das Jupitersystem, der Stern schien ihm womöglich zu weit entfernt, als dass er von größerer Wichtigkeit sein könnte. Erstaunlich in diesem Zusammenhang ist, dass er den Stern SAO 119234, der sich in einem noch geringeren Abstand nordwestlich von Jupiter und seinen Monden befand, und der zudem deutlich heller war als Neptun, in der Skizze nicht berücksichtigt wird. Auch in der zweiten Zeichnung aus dieser Nacht (Abbildung 3, unten) fehlt dieser Stern. Dass Galilei die Positionen einiger Fixsterne notierte, ist nicht ungewöhnlich. Er tat dies, um die absolute Bewegung des Jupitersystems am Himmel zu dokumentieren.

Die zweite Zeichnung wurde einige Stunden später angefertigt und ist diejenige, auf die sich Galilei mit seiner Angabe „eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang“ bezieht. Die vergleichende Simulation von 07:15 UTC (Abbildung 5) zeigt, dass es sich bei dem nun drei Jupiterradien westlich des Gasplaneten sichtbaren Objekt um den Mond Io handelt.

Abb. 5: Der Anblick um 7:15 UTC. Io (direkt rechts von Jupiter)hat sich bereits 55 Bogensekunden von der Jupiterscheibe entfernt und erscheint daher auch in Galileis Skizze (Abbildung 1).

Hätte Galilei erkennen können, dass es sich bei „fixa“, dem „vierten Stern“, um einen Planeten handelte? Wohl kaum. Neptun erschien in jener Nacht als ein Scheibchen von 2,3 Bogensekunden Durchmesser. Auch bei guten atmosphärischen Bedingungen hätte Galilei den Planeten mit seinem kleinen Teleskop nicht auflösen können, selbst wenn man eine perfekte optische Qualität unterstellt. Das Fernrohr, mit dem Galilei Ende 1612 seine Beobachtungen durchführte, besaß ein Auflösungsvermögen von 10 Bogensekunden, eine Vergrößerung von 18fach und ein wahres Gesichtsfeld am Himmel von rund 17 Bogenminuten. Die einzige Möglichkeit, das Objekt als Planeten zu identifizieren, wäre die Beobachtung einer Relativbewegung zu den Sternen gewesen. Doch ausgerechnet an jenem Tag, als Galilei seine Beobachtungen machte, stand Neptun fast völlig still am Himmel, denn er setzte gerade zu seiner Oppositionsschleife an.

Die folgenden Wochen um den Jahreswechsel 1612/1613 sollten für Galileo Galilei noch mehrfach die Gelegenheit bieten, den vermeintlich „festen Stern“ zu beobachten. Neptun blieb bis Ende Januar 1613 in der Nähe des Jupiter. In der Nacht vom 3. auf den 4. Januar 1613 kam es sogar zu einer der sehr seltenen gegenseitigen Bedeckungen der beiden Planeten. Was hat Galilei, der das Jupitersystem fast jede Nacht im Blick hatte, von diesem Ereignis mitbekommen? Konnte er, als Ende Januar Neptuns scheinbare Bewegung am Himmel wieder ausgeprägter wurde, dessen Eigenbewegung doch noch erkennen?

Hier geht es weiter: Galilei und der Planet Neptun – Teil 2

 

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Mit dem Astronomievirus infiziert wurde ich Mitte der achtziger Jahre, als ich als 8-Jähriger die Illustrationen der Planeten auf den ersten Seiten eines Weltatlas stundenlang betrachtete. Spätestens 1986, als ich den Kometen Halley im Teleskop der Sternwarte Aachen sah (nicht mehr als ein diffuses Fleckchen, aber immerhin) war es um mich geschehen. Es folgte der klassische Weg eines Amateurastronomen: immer größere Teleskope, Experimente in der Astrofotografie (zuerst analog, dann digital) und später Reisen in alle Welt zu Sonnenfinsternissen, Meteorschauern oder Kometen. Visuelle Beobachtung, Fotografie, Videoastronomie oder Teleskopselbstbau – das sind Themen die mich beschäftigten und weiter beschäftigen. Aber auch die Vermittlung von astronomischen Inhalten macht mir großen Spaß. Nach meinem Abitur nahm ich ein Physikstudium auf, das ich mit einer Diplomarbeit über ein Weltraumexperiment zur Messung der kosmischen Strahlung abschloss. Trotz aller Theorie und Technik ist es nach wie vor das Erlebnis einer perfekten Nacht unter dem Sternenhimmel, das für mich die Faszination an der Astronomie ausmacht. Die Abgeschiedenheit in der Natur, die Geräusche und Gerüche, die Kälte, die durch Nichts vergleichbare Schönheit des Kosmos, dessen Teil wir sind – eigentlich braucht man für das alles kein Teleskop und keine Kamera. Eines meiner ersten Bücher war „Die Sterne“ von Heinz Haber. Das erste Kapitel hieß „Lichter am Himmel“ – daher angelehnt ist der Name meines Blogs. Hier möchte ich erzählen, was mich astronomisch umtreibt, eigene Projekte und Reisen vorstellen, über Themen schreiben, die ich wichtig finde. Die „Himmelslichter“ sind aber nicht immer extraterrestrischen Ursprungs, auch in unserer Erdatmosphäre entstehen interessante Phänomene. Mein Blog beschäftigt sich auch mit ihnen – eben mit „allem, was am Himmel passiert“. jan [punkt] hattenbach [ät] gmx [Punkt] de Alle eigenen Texte und Bilder, die in diesem Blog veröffentlicht werden, unterliegen der CreativeCommons-Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.

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