Galilei und der Planet Neptun – Teil 2

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Am Morgen des 28. Dezember 1612 hatte Galileo Galilei bei einer Beobachtung des Jupitersystems – ohne es zu ahnen – den achten Planeten des Sonnensystems gesehen, 234 Jahre bevor dieser tatsächlich „entdeckt“ und als „Planet Neptun“ bekannt wurde. Doch der italienische Astronomiepionier hielt das Objekt für einen Fixstern. Hatte er überhaupt eine Chance, die wahre Natur dieses Himmelskörpers zu erkennen?

Im ersten Teil habe ich dargelegt, dass Galilei allenfalls die Relativbewegung zu den Sternen in seinem Fernrohr hätte erkennen können – doch just am Tag der Beobachtung setzte Neptun zu seiner Oppositionsschleife an, seine scheinbare Bewegung relativ zu den Sternen war verschwindend gering. Im Januar des Folgejahres 1613 jedoch bot sich gleich mehrfach die Gelegenheit zu einer weiteren Beobachtung des fernen Gasriesen. Neptun hielt sich am Himmel weiter in der Nähe des Jupiter auf. In der Nacht vom 3. auf den 4. Januar 1613 ereignete sich sogar ein sehr seltenes Schauspiel: Neptun wurde von der Jupiterscheibe für einige Stunden bedeckt. Und Galilei war mit seinem Fernrohr dabei.

Vom 28. Dezember 1612 bis zum 1. Januar 1613 war der Himmel über Florenz bewölkt, erst am 2. Januar konnte Galilei seine Beobachtungen fortsetzen. Aus seinen Aufzeichnungen, die er wie immer mit außerordentlicher Präzision anfertigte, geht hervor, dass er weder in dieser, noch in einer der folgenden Nächte den Neptun wahrgenommen hat, obwohl dieser in unmittelbarer Nähe zu Jupiter und seinen vier hellen Monden stand. In den Zeichnungen vom 3., 4. und 5. Januar findet sich kein Hinweis auf ein sternförmiges Objekt in Jupiternähe, das mit Neptuns damaliger Position übereinstimmt. Auch die Bedeckung durch die Jupiterscheibe in der Nacht vom 3. auf den 4. Januar entging dem Astronomen.

Abbildungen 6 und 7: Galileis Beobachtungsskizze vom 3. Januar 1613, erstellt gegen 02:45 UTC (oben) und 06:45 UTC (unten) zeigt keinen Hinweis auf Neptun, der sich zum Zeitpunkt der oberen Skizze wenige Bogensekunden nördlich des Monds Europa befand, wie in der Simulation (unten) dargestellt. Der Punkt unterhalb von Europa in Galileis Zeichnung bezeichnet kein weiteres Objekt, sondern soll die Bewegung des Mondes selbst illustrieren (man vergleiche die Illustrationen bei den beiden anderen Monden). In der Simulation von links nach rechts: Callisto, Neptun, Europa, Jupiter, Io, Ganymed.  

Abb. 8: Galileis Beobachtungsskizzen aus der Nacht vom 3. auf den 4. Januar 1613, als Neptun durch die Jupiterscheibe bedeckt wurde. Die obere Zeichnung stammt vom 3.1. um 23:45 UTC, Neptun war zu dieser Zeit von Jupiter bedeckt (vlnr: Callisto, Ganymed, Io, Jupiter, Europa). Die untere Zeichnung stammt von ca. 5:00 UTC am Morgen des 4.1., Neptun befand sich nur wenige Bogensekunden westlich der Jupiterscheibe, und war deshalb in Galileis Fernrohr nicht zu sehen. Io liegt vor der Jupiterscheibe.

Wie ist das zu erklären? Normalerweise markierte Galilei hellere Sterne in seinen Skizzen, üblicherweise mit Angabe der Position und der Entfernung zur Jupiterscheibe. Eben so, wie er es mit Neptun als vermeintlich fixen Stern am 28. Dezember des Vorjahres tat. Hat er den immerhin 7,9mag hellen Planeten wirklich nicht gesehen? Es muss wohl so gewesen sein. Speziell in den Stunden vor und nach der Bedeckung durch Jupiter am 3. Januar dürfte die helle Jupiterscheibe Neptun in Galileis Fernrohr völlig überstrahlt haben. Nicht zu vergessen ist, dass sein Teleskop nur rund 20fach vergrößerte. Über die optische Qualität des Fernrohrs kann ich nur spekulieren. Es erlaubte wohl nicht, sternförmige Objekte in unmittelbarer Umgebung des Jupiter wahrzunehmen. Diese Annahme wird dadurch unterstützt, dass auch die helleren Jupitermonde, sofern sie in einem Abstand von weniger als einem Jupiterdurchmesser neben dem Planeten standen, in Galileis Zeichnungen nicht verzeichnet sind. Allerdings fehlt mir die Möglichkeit, dies an weiteren Zeichnungen zu überprüfen.

Vom 6. bis zum 19. Januar verhinderte das Wetter erneut weitere Beobachtungen. In Galileis Aufzeichnungen vom 20. bis zum 27. Januar findet sich ebenfalls keine Spur von Neptun. Sie enthalten jedoch die Position des Sterns SAO 119234, der mit einer visuellen Helligkeit von 7,0mag die des Neptun um knapp eine Größenklasse übertrifft. Neptun selbst befand sich in jenen Nächten ohne weiteres gemeinsam mit Jupiter und SAO 119234 im gleichen Gesichtsfeld.

Dass Galilei den Planeten wenigstens am 27. Januar bemerkt hat, beweist eine bemerkenswerte Notiz aus der darauf folgenden Nacht. Am 28. Januar 1613 nämlich zeichnete er eine weitere Skizze des Jupitersystems, die in ihrer Art einzigartig ist. Sie zeigt wie gewohnt Jupiter und drei seiner Monde (Io befand sich zu jenem Zeitpunkt hinter der Jupiterscheibe), die Äquatorebene ist wie in den vorhergehenden Zeichnungen durch eine durchgehende Linie markiert (Abbildung 9). Zudem verläuft ausgehend von Jupiter eine gestrichelte Linie in die linke untere Ecke der Skizze. Die Linie erreicht eine Markierung, die mit „a“ benannt ist und einen Stern bezeichnet. Die Entfernung zwischen Jupiter und dem Stern „a“ bestimmte Galilei zu 29 Jupiterradien.

Offenbar reichte der Platz nicht aus, denn Galilei setzte die Skizze auf der rechten Seite des Papiers fort. Dort platzierte er auf der gleichen Linie einen weiteren Stern, den er mit dem Buchstaben „b“ bezeichnete. Eine Entfernungsangabe zwischen diesen Sternen, wie Galilei sie gewöhnlich dazuschrieb, fehlt jedoch. Statt dessen ergänzte er die Skizze – zum ersten Mal in seinen Aufzeichnungen – um eine „exakte Skala“ von 47 Millimetern, die 24 Jupiterradien entsprechen sollte. Gemessen an dieser Skala sind die beiden Sterne „a und „b“ genau 3,75 Jupiterradien voneinander entfernt. Warum schenkte er den beiden, doch relativ weit von Jupiter entfernten Sternen eine solche Aufmerksamkeit?

Abb. 9: Galileis Skizze vom Abend des 28. Januar 1613 gegen 23:00 UTC. Weil die Seitenbreite seines Beobachtungsbuchs nicht ausreichte, vervollständigte er die Zeichnung auf der rechten Seite weiter unten. In der Mitte ist die 24 Jupiterradien umfassende „exakte Skala“ zu erkennen. Weitere Erklärungen im Text.

Abb. 10: Simulierte Ansicht der Situation. Die sichtbaren Objekte sind (von links nach rechts): Neptun, SAO 119234, SAO 119229 (mit 9,6mag jenseits der visuellen Grenzgröße seines Teleskops), Jupiter und Io (vor der Jupiterscheibe), Ganymed, Europa und Callisto.

Die Antwort steckt in einer kurzen Notiz unter der Zeichnung:

Hinter dem Fixstern a folgte ein weiterer auf der gleichen Linie, so wie b; diese hatte ich auch in der vorangegangenen Nacht beobachtet, doch da schienen sie weiter voneinander entfernt.

Stern „a“ ist der schon in den Nächten zuvor mehrmals beobachtete und beschriebene Stern SAO 119234. An der Stelle von Objekt „b“ aber befindet sich kein Fixstern, statt dessen handelt es sich wiederum um Neptun. Galilei hat den Planeten also erneut beobachtet und beschrieben – und dieses Mal seine Bewegung am Fixsternhimmel wahrgenommen!

Wie auffällig war die Eigenbewegung des Neptun zu dieser Zeit eigentlich – konnte sie einem versierten Beobachter innerhalb von 24 Stunden auffallen? Die Antwort ist eindeutig „Ja“. Erstens hatte Galilei in den vergangenen drei Jahren eine enorme Erfahrung bei der Beobachtung der Jupitermonde gesammelt. Zweitens verfügte er über ein Messgerät, das es ihm erlaubte, präzise Positionsbestimmungen vorzunehmen. Ich werde diese Apparatur, die leider nicht erhalten ist, später genauer beschreiben. Drittens befand sich Neptun am 27. Januar nur 6,25 Jupiterradien von SAO 119234 entfernt und bewegte sich pro Tag um immerhin 2,5 Jupiterradien weiter. Der gegenseitige Abstand zwischen den beiden Objekten war vom 27. auf den 28. Januar um rund 40% geschrumpft, keine Schwierigkeit für den erfahrenen Beobachter.

Galilei hatte Neptun ins Visier genommen, er hatte eine gewisse Eigenbewegung erkannt und die zusätzliche Zeichnung vom 28. Januar mitsamt ihrer exakten Skalierung – beides Novitäten in Galileis Aufzeichnungen – deuten darauf hin, dass er eine weitergehende Beobachtung plante. Doch offenbar ließ er diesen Plan fallen. Am 28. Januar 1613 beobachtete Galilei den Neptun zum letzten Mal.

Es erscheint völlig unverständlich, aber bereits in der folgenden Nacht erwähnt Galilei weder SAO 119234 noch Neptun in seinem Beobachtungsbuch, obwohl beide weiterhin gemeinsam mit Jupiter in seinem Teleskop sichtbar waren. Warum? Galilei muss die Bedeutung eines neuen, bislang unbekannten Wandelsterns bewusst gewesen sein. Eine solche Entdeckung hätte noch mehr Aufsehen erregt, als es seine übrigen Veröffentlichen ohnehin tun sollten. Erschien dem großen Astronomen die Möglichkeit, dass es im All noch weitere Planeten außer den seit Jahrtausenden bekannten geben könnte am Ende selbst zu revolutionär?

In den kommenden Nächten jedenfalls entschwand die Chance, Neptun erneut zu beobachten: Ohne feste, mit Teilkreisen ausgestattete Montierung war Galilei auf den hellen Jupiter als Wegweiser angewiesen. Doch der entfernte sich nun stetig von Neptun, so dass der Planet für die kommenden Jahrhunderte wieder im Dunkel des Weltalls entschwand – wenigstens für die Augen der Astronomen auf der Erde. Tatsächlich wurde der Planet zu Beginn des 18. Jahrhundert ein weiteres Mal zufällig beobachtet, und wieder für einen Fixstern gehalten.

Die Geschichte von Galilei und dem Planeten Neptun ist aber noch nicht ganz zu Ende. Wie konnte der Italiener überhaupt mit seinem für heutige Verhältnisse primitiven Fernrohr so genaue Beobachtungen machen? Moderne Untersuchungen zeigen, dass er die Positionen der Jupitersatelliten oft auf ein Zehntel des Jupiterradius genau vermaß. Mit Augenmaß alleine ist das nicht zu bewerkstelligen. Wie Kowal und Drake in ihrem Artikel von 1980 beschreiben, verfügte Galilei über eine Vorrichtung, die man als eine Art „Messgitter“ bezeichnen könnte. Für heutige Verhältnisse erscheint sie reichlich unorthodox, doch offensichtlich hat sie sehr gut funktioniert.

Und dann ist da noch die Geschichte von einem Tintenfleck – hat der große Astronom den Neptun doch noch ein weiteres Mal gesichtet?

Dazu mehr im dritten Teil!

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Mit dem Astronomievirus infiziert wurde ich Mitte der achtziger Jahre, als ich als 8-Jähriger die Illustrationen der Planeten auf den ersten Seiten eines Weltatlas stundenlang betrachtete. Spätestens 1986, als ich den Kometen Halley im Teleskop der Sternwarte Aachen sah (nicht mehr als ein diffuses Fleckchen, aber immerhin) war es um mich geschehen. Es folgte der klassische Weg eines Amateurastronomen: immer größere Teleskope, Experimente in der Astrofotografie (zuerst analog, dann digital) und später Reisen in alle Welt zu Sonnenfinsternissen, Meteorschauern oder Kometen. Visuelle Beobachtung, Fotografie, Videoastronomie oder Teleskopselbstbau – das sind Themen die mich beschäftigten und weiter beschäftigen. Aber auch die Vermittlung von astronomischen Inhalten macht mir großen Spaß. Nach meinem Abitur nahm ich ein Physikstudium auf, das ich mit einer Diplomarbeit über ein Weltraumexperiment zur Messung der kosmischen Strahlung abschloss. Trotz aller Theorie und Technik ist es nach wie vor das Erlebnis einer perfekten Nacht unter dem Sternenhimmel, das für mich die Faszination an der Astronomie ausmacht. Die Abgeschiedenheit in der Natur, die Geräusche und Gerüche, die Kälte, die durch Nichts vergleichbare Schönheit des Kosmos, dessen Teil wir sind – eigentlich braucht man für das alles kein Teleskop und keine Kamera. Eines meiner ersten Bücher war „Die Sterne“ von Heinz Haber. Das erste Kapitel hieß „Lichter am Himmel“ – daher angelehnt ist der Name meines Blogs. Hier möchte ich erzählen, was mich astronomisch umtreibt, eigene Projekte und Reisen vorstellen, über Themen schreiben, die ich wichtig finde. Die „Himmelslichter“ sind aber nicht immer extraterrestrischen Ursprungs, auch in unserer Erdatmosphäre entstehen interessante Phänomene. Mein Blog beschäftigt sich auch mit ihnen – eben mit „allem, was am Himmel passiert“. jan [punkt] hattenbach [ät] gmx [Punkt] de Alle eigenen Texte und Bilder, die in diesem Blog veröffentlicht werden, unterliegen der CreativeCommons-Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.

3 Kommentare

  1. Spannend

    Hallo Jan,

    die von dir erzählte Geschichte ist ja spannend wie ein Roman! :o)
    Bin schon gespannt, wie es weiter geht.

    Viele Grüße

    Kai

  2. Klasse

    Ich finde die Geschichte auch total spannend. Ich habe von Astronomie nicht die blasseste Ahnung. Aber Du beschreibst das so gut, dass es eine Freude ist.

  3. @Kai, stoeps

    Hallo, und danke! Es freut mich, dass ihr bei der Lektüre offensichtlich so viel Spaß habt wie ich beim Schreiben und Recherchieren:-) @Kai: Der dritte Teil kommt am nächten Wochenende, übermorgen düse ich erst mal ab zum ITV…

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