Wenn man nur eine Sache über Migräne weiß

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Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Laut der neusten Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) über die globale Gesundheitsbelastung (Global Burden of Disease Study) ist Migräne weltweit für fast 3 % der Behinderungen verantwortlich. Damit befindet sich Migräne an achter Stelle der am schwersten belastenden Krankheiten. Migräne ist auf Platz sieben unter den nicht-übertragbaren Krankheiten. Und sogar auf dem ersten Platz unter den neurologischen Erkrankungen (zitiert nach [1]).

Wenn man nur eine Sache über Migräne weiß, dann sollte es dieser relativ hohe Grad der Behinderung durch die Krankheit sein. Natürlich weiß man auch, dass Migräne Kopfschmerzen sind. Also doch schon zwei Sachen?

Eigentlich nicht, denn beides muss ich erst einmal richtig einordnen.

Zum einen: Migräne ist eine Krankheit, Kopfschmerzen sind ein Symptom. Äpfel sind Äpfel. Birnen sind Birnen. Soll heißen: Migräne ist kein Kopfschmerz, sondern eine äußerst komplexe neurologische Erkrankung mit sehr vielfältigen, teils äußerst behindernden Symptomen. Und zum anderen: Die genaue Platzierung in der Weltrangliste der am stärksten die Gesundheit belastenden Erkrankungen ist nicht so entscheidend an sich. Es geht hier nicht um Gold, Silber, Bronze oder auch mal um Platz 19. Das kann je nach Messverfahren auch variieren.

Solche Platzierungen hängen natürlich davon ab, wie die Maßeinheit „Gesundheitsbelastung“ quantifiziert wird. In einer vorherigen WHO-Studie über die Schwere der Behinderungen rangierte Migräne zum Beispiel noch etwas weiter unten auf Rang 19 – bei geschätzt über 12 000 Krankheiten. Wobei es gute Gründe gibt, die Bewertung der aktuellen Studie für die Gesellschaft insgesamt als fairer anzusehen; so waren z.B. Behinderungen aufgrund von Unfällen ehemals in die WHO-Statistik einbezogen. Unfälle im Haushalt oder Strassenverkehr einzubeziehen, erscheint weniger sinnvoll, wenn es um den Einsatz von Geldern für die medizinische Erforschung von Erkrankungen geht.

Wenn man also wirklich nur eine Sache über Migräne wissen will, die unbezweifelbar richtig ist, dann diese: Migräne ist weltweit eine der führenden Ursachen für Behinderung.

Der  Grund ist vor allem, dass diese Krankheit sehr häufig vorkommt. Etwa 14 % der Erwachsenen leiden unter Migräne zumindest in einer Phase ihres Lebens. Andere Studien kommen sogar auf 23 % [2], auch dieser Wert der sogenannten Lebenszeitprävalenz ist variabel. Der Wert 14 % ist die niedrigste Schätzung, die ich finden konnte.

Eine Faustregel lautet: 1 % der Menschheit erleidet an 1 Tag pro Woche 1 Migräneattacke. Hinzu kommt, dass Migräne mit vielen anderen, auch häufigen und stark behindernden Krankheiten zusammenhängt. Unter diesen sind Angst- und affektive Störungen die häufigsten. Weitere Begleiterkrankungen sind Schlaganfall, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Epilepsie, Atemwegsstörungen und Magen-Darm-Störungen (zitiert nach [1]).

Daraus folgt, dass mehr Migräneforschung nötig ist. (Was nicht überraschen sollte, wenn ein Migräneforscher das schreibt.) Die finanzielle Förderung der Forschung soll der Bedeutung der Migräne gerecht werden. Das ist, wie oben schon gesagt, der Zweck solcher vergleichenden WHO-Studien. Die Forschungsförderung soll gemäß objektiver Indikatoren ausgerichtet werden. Die wissenschaftspolitisch Verantwortlichen sollen Anhaltspunkte  gegeben werden.

Bisher reflektiert die Forschungsförderung der Migräne eine zumindest unterschwellige aber leider auch oft offen zur Schau gestellte Geringschätzung.

 

Literatur

 

[1] Leonardi, M. and Raggi, A., Burden of migraine: international perspectives, Neurol. Sci., 34, 2013. [Link]

[2] Launer, Lenore J and Terwindt, Gisela M and Ferrari, Michael D, The prevalence and characteristics of migraine in a population-based cohort The GEM Study., Neurology, 53, 1999.

Originalzitate:

“What is particularly interesting to note is that the most recent reports state that migraine alone is responsible of almost 3 % of disability attributable to a specific disease worldwide, also in consideration of its comorbidity. This places migraine as the eighth most burdensome diseases, the seventh among non-communicable diseases and the first among the neurological disorders ranked in the GBD report.”

“The new GBD reports support a clear fact: migraine is one of the leading causes of disability worldwide, as it has high prevalence and it is associated to several other prevalent and disabling conditions. Among them, anxiety and affective disorders are the most common, but there are reports for comorbidity to stroke, cardiovascular diseases, epilepsy, respiratory and gastro-intestinal disturbances.

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

12 Kommentare

  1. Migräne, die verschwiegene und im Stillen erlittene Krankheit? Man liest zwar immer wieder über die Häufigkeit von Migräne und kennt vielleicht sogar einen Migräniker. Doch irgendwie erreicht einem dieses Problem als Nicht-Migräniker nur am Rande. Auch ich habe mal einen Arbeitskollegen gehabt, der hin und wieder wegen Migräne fehlte. Doch vorstellen konnte ich mir dabei ausser starken Kopfschmerzen wenig. Es kam mir so ähnlich vor wie wenn Frauen hin und wieder ihre Tage haben. Liest man über Migräne erfährt man immer wieder Dinge, die man nicht für möglich gehalten hätte. In der Wikipedia beispielsweise liest man “Im letzten Grundschuljahr klagen bis zu 80 % aller Kinder über Kopfschmerzen. Etwa 12 % von ihnen berichten über Beschwerden, die mit der Diagnose einer Migräne vereinbar sind.[6] Bis zur Pubertät erhöht sich der Anteil auf 20 %”
    Das war mir völlig neu. Wobei ich annehme, dass das nur Spekulation ist und keine definitive diagnostische Sicherheit betreffend der Häufigkeit von kindlicher Migräne besteht.

  2. “Eine Faustregel lautet:…”

    Sie vertreten hier offen die pi*Daumen-Mentalität, die Ihrer Disziplin anzuhaften scheint, könnte man kritisch einwenden.

    Und dann:

    “1% der Menschheit erleidet an 1 Tag pro Woche 1 Migräneattacke.”

    anstatt:

    “Statistisch erleiden 10 Millionen Menschen täglich eine Migräneattacke.” wäre etwas klarer ausgedückt (wenn ich mich auf die Schnelle nicht verrechnet habe). Warum dieser Umstand? Sie wollen, vermutlich, etwas verschleiern oder “aufpumpen”.

    “Etwa 14% der Erwachsenen leiden unter Migräne zumindest in einer Phase ihres Lebens.” “Zumindest” ist kaum eine Aussage, die nach Gewicht verlangt.

    “Daraus folgt, dass mehr Migräneforschung nötig ist.”
    Woraus und warum folgt das? Sie argumentieren quantitativ und spielen auf Kosten (volkswirtschaftlicher Schaden) an. Aber wieviele dieser Menschen sind sozialversicherungspflichtig tätig? Wo leben diese? Migräneforschung ist allein deshalb nötig, weil sie, im besten Fall, subjektives Leiden mindern helfen kann. Nicht etwa, weil sie volkswirtschaftlich eine Rolle spielt; außerdem tut sie es sehr wahrscheinlich nicht.

    “Die Wahrscheinlichkeit, daß Sie, lieber Leser, heute eine Migräneattacke erleiden werden, beträgt nur noch: 0.0005%. Die moderne Migräneforschung hat praktische Ansätze entwickelt, die geholfen haben, diese Wahrscheinlichkeit in den letzten Jahren deutlich zu verringern.” – So ähnlich hätte ich mir das gewünscht. Dann kann man auch, so man mag, volkswirtschaftlich werden, um zu begründen, warum in diesen Forschungsbereich eingesetztes Geld schließlich Geld spart, und vor allem: schon gespart hat.

    Ich gönne Ihnen jeden Cent Fördergeld, so ist das nicht, aber wo die objektive Notwendigkeit der gegenwärtigen Migräneforschung liegt, bleibt hier ziemlich offen.

    • Sie schreiben:

      “1% der Menschheit erleidet an 1 Tag pro Woche 1 Migräneattacke.” anstatt “Statistisch erleiden 10 Millionen Menschen täglich eine Migräneattacke.”

      Doch laut Autor Markus A. Dahlem handelt es sich hier um eine Faustregel. Diese wird er wohl kaum selber erfunden haben und dementsprechend können sie ihm deren Verwendung nicht vorhalten. Tatsächlich findet man diese “Formel” auch etwa hier erwähnt. Die eben verlinkte Seite ist übrigens ein prima Beispiel dafür wieviel Schmarren über Migräne selbst im Jahr 2012 noch kursiert.

      • “Diese wird er wohl kaum selber erfunden haben und dementsprechend können sie ihm deren Verwendung nicht vorhalten.”

        So also, wenn jemand eine nicht von ihm selbst erfundene “Faust-Regel”, sei sie auch mit Gerumpel herbeigefäustelt, ins Feld führt, kann man diesem “dementsprechend” nicht vorwerfen, sie zu verwenden. Stellen Sie hier klar. Merken Sie vielleicht, dass damit eine gewisse Heitel(r)keit erzeugt wird?

        • Solche Faustregeln wie die obige gibt es in der Medizin zu Hauf. Zitat: “Der Begriff Faustregel kommt ursprünglich aus der Medizin. Ärzte hatten bei Obduktionen festgestellt, dass wenn man bei einer Leiche mit deren Hand eine Faust bildet, diese recht genau der Größe ihres Herzens entspricht.”
          Ich nehme deshalb an, dass auch diese Migräne-Faustregel von Medizinern erfunden wurde, schliesslich ist die Migräneforschung in der Medizin beheimatet. Im allgemeinen sollen Faustregeln nur eine Einordnung erlauben und im konkreten Fall geht es um etwas was in den Bereich der Prävalenz ( Krankheitshäufigkeit) gehört.

    • Ich habe leider in diesem Beitrag nicht meinen früheren verlinkt, in dem diese Faustregel und deren Hintergrund erläutert wird.

      Es gibt auch entsprechende Untersuchungen, die belegen dass die Migräneforschung relativ (in der Gruppe der neurologischen Erkrankungen) unterfinanziert ist.

      Ich übernehme mal leicht überarbeitete Textstellen eines weiteren alten Beitrages:

      Zum Vergleich können wir Migräne, Schlaganfall und Epilepsie wählen. Sie führen die Hitliste bezüglich der Kosten neurologischer Krankheiten an. Und zwar genau in dieser Reihenfolge. Die jährlichen Kosten für Migräne in Deutschland belaufen sich auf 6.1€ Milliarden, dicht gefolgt von Schlaganfall mit Gesamtkosten von 5.9€ Milliarden und mit etwas mehr Abstand von Epilepsie mit 3.8€ Milliarden [1]. Die vielleicht zunächst überraschend hohen Kosten sind überwiegend indirekte Kosten durch Arbeitsausfall.

      Andere Quellen nennen zwar geringer Kosten, z.B. von 3.7€ Milliarden für Migräne. Letztlich ist aber sowieso nur die Größenordnung entscheidend. Bei Studien, die alle neurologischen Krankheiten erfassen [1], können wir zumindest die Reihenfolge als verlässlich voraussetzen. Zumal nicht unerwähnt bleiben sollte, dass in [1] für Epilepsie und Schlaganfall direkte aber nicht-medizinische Kosten, z.B. für Fürsorge, Transport, Wohnumfeldverbesserung und weiteres einkalkuliert wurden, für Migräne diese aber nicht einbezogen wurden (obwohl es sie gibt).

      Sie Summen in der Forschungsförderung ergeben aber eine andere Reihenfolge, Migräne steht da weit abgeschlagen hinten an.

      Zum Vergleich sollte vielleicht noch die Demenz genannt werden. Sie führt die Liste der Kosten neurologischer Krankheiten mit jährlich 11.6€ Milliarden in Deutschland an. Allerdings ist nicht klar wie diese Kosten in Bezug zu den erhöhten Kosten gesetzt werden müssen, die in einer älter werdenden Gesellschaft ohne Erkrankungen ohnehin auch entstehen [2].

      [1] Andlin-Sobocki P, Jönsson B, Wittchen HU, Olesen J. Cost of disorders of the brain in Europe. Eur J Neurol., 12:1-27 (2005)

      [2] Jönsson L, Berr C., Cost of dementia in Europe. Eur J Neurol., 12:50-53 (2005)

        • Es gibt Studien, zumindest habe ich einmal darüber in einer Veröffentlichung gelesen und dort wurde u.a. der Schluss gezogen, dass Migräneforschung relativ unterfinanziert ist (kann ich jetzt aber nicht finden).

          Nun kann man nicht einfach noch einem solchen Schlüssel Forschungsgelder vergeben, dann kämen seltene Krankheiten schlecht weg. Trotzdem wäre eine transparente Aufschlüsselung eigentlich sehr aufschlussreich.

          Mir sagte mal eine Forscherin, deren Namen ich nicht nennen will, solange alte Männer über Forschungsmittel entscheiden, ist nicht verwunderlich, dass Migräne relativ zum Schlaganfall schlecht weg kommt. Ich denke das trifft es.

  3. Pingback:Inhaltsverzeichnis: Beiträge über Migräne › Graue Substanz › SciLogs - Wissenschaftsblogs

  4. Hey Leute, ist ja echt schön hier alles mitzulesen und zu diskutieren. Ich finde aber auch, dass das Thema Medikamente für Migräne oft etwas überschätzt wird. Ohne diese Hilfsmittel könnten manche Menschen den Alltag nicht mehr überleben.

    Liebe Grüße
    Siggi

    • Ich habe den Link entfernt, da ich es nicht immer und ausnahmslos für sinnvoll halte, sich auf Seiten im Internet ohne ärztliche Beratung über Migränemedikamente zu informieren. Diese Seite konnte ich mir nicht im nötigen Detail weiter angucken. Ich will also keinesfalls unterstellen, dass Ihr Link zu einer unseriösen Quelle führt.

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