Wenn Gehirnzellen kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Wir analysieren in einer neuen Arbeit eine zweite Generation des Hodgkin-Huxley-Formalismus (HH), um zu Verstehen wie Gehirnzellen verhungern können, obwohl sie genug “zu essen” haben. Ähnliche Modelle wurden zuvor für Muskelzellen und Beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse analysiert, aber nicht Modelle für Gehirnzellen (Neuronen). Mit dieser Analyse wollen wir pathologische Stressbedingungen bei Migräne und Schlaganfall besser verstehen. Ein neues Manuskript liegt auf arXiv.

Die theoretische Neurowissenschaft ergänzt die klinische und die verschiedenen experimentellen Neurowissenschaften. Die HH-Formulierung der sogenannten Aktionspotentiale ist dabei sicherlich eines der erfolgreichsten Modelle und zwar nicht nur in der theoretischen Neurowissenschaft sondern in der gesamten mathematischen Biologie. Die HH-Formulierung beschreibt einen wesentlichen Teil der Zell-zu-Zell-Kommunikation im Gehirn mittels Aktionspotentiale und allgemein die Elektrophysiologie von Zellen in anderen Organen. Das ursprüngliche HH-Modell wurde auf verschiedene Weise erweitert, um auch Situationen zu beschreiben, in denen die normalen Gehirnfunktionen fehlschlagen, z.B. bei Halluzinationen während Migräne und beim akutem Schlaganfall. Allerdings blieb der grundlegende Mechanismus dieser Erweiterungen bisher unverstanden.

Wir untersuchen dessen Struktur mit einem biophysikalischen Modell. In diesem Modell können Nervenzellen verhungern, weil sie ihren “freie” Energie verlieren. Diese Möglichkeit bestand in der ursprünglichen HH-Formulierung nicht, da man implizit annahm, dass immer genügend freie Energie vorrätig ist. Die freie Energie ist die Energie, die Gehirnzellen unmittelbar in Arbeit, also Aktionspotentiale, umsetzen können. Die chemische Energie dagegen ist in Bindungen von Molekülen gespeichert. Sie muss erst durch Stoffwechsel in freie Energie umgewandelt werden. Freie Energie ist dann in Form von unterschiedlichen Konzentrationen mehrerer Ionensorten und in einem elektrischen Potenzial vorhanden. Recht überraschend für uns haben wir in dem Modell einen Mechanismus entdeckt, bei dem trotz ausreichender chemischer Energie und normalen Stoffwechsels Gehirnzellen in einem stabilen Zustand ohne freie Energie feststecken können, d.h. obwohl die Gehirnzellen Zugriff auf chemische Energie haben, verhungern sie. Dieser Mechanismus könnte, so vermuten wir, pathologische Zustände, die bei Migräne und Schlaganfall von uns zuvor beobachtet wurden, erklären.

 

 

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

13 Kommentare

    • Wenn ich schreibe, habe ich Experten als Leser im Sinn. Das stimmt. Wobei in meinem Thema (Theoretische Physik und Migräneforschung) jeweils die Experten des einen Themas meist Laien des anderen sind.

      (Nach)Fragen können aber in jedem Fall von allen Lesern kommen.

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  2. Gut, dann wage ich es mal: Sie haben ein Modell, finden heraus (durch Computersimulation?) dass gemäß dieses Modells Zustände (in bestimmten Gehirnarrealen und befristet?) auftreten können in denen Gehirnzellen nicht genügend Energie haben um normal arbeiten zu können?
    Könnte das ein Grund sein warum ich gelegentlich völlig orientierungslos an Aufgaben verzweifle die man normalerweise mit links bewältigt? Kaffee hilft dann meistens 🙂

  3. Wir haben in einem etablierten Model eine zuvor vereinfachende Annahme durch eine realistische Modellierung ersetzt, so dass diese Annahme hinfällig wird (und das Modell etwas komplexer wurde), und fanden durch Computersimulationen heraus, dass dieses Model sich anders verhält als zunächst gedacht, also dass die Annahme nicht unter allen Umständen gerechtfertigt ist und das komplexere Model nötig ist.

  4. [i]Wir haben in einem etablierten Model eine zuvor vereinfachende Annahme durch eine realistische Modellierung ersetzt[/i]
    Ja, das hatte ich verstanden. Aber natürlich mussten Sie das auf jeden Fall klar stellen, denn Sie sind ja in erster Linie Wissenschaftler.
    Aber meine naive Frage habe Sie (deshalb?) nicht beantwortet. Ich gehe von einem ‘im Prinzip ja’ aus. Was bei dem einen zu schmerzlicher Migräne führt könnte bei anders veranlagten Menschen ja auch zu anderen Symptomen führen.

    • Es geht nicht um bestimmte Gehirnareale, sondern um die Gehirnzelle (also das Modell einer solchen) an sich. Somit können wir auch keine Aussagen unmittelbar zu unterschiedlichen Arealen machen.

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