“Übererregung”, “Hemmung” und “Reaktionsfähigkeit” bei Migräne

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Wir haben eine neue Veröffentlichung in PeerJ* in der wir den bei Migräne oft genutzten Charakterisierungen  wie “Übererregung”, “Hemmung” und “Reaktionsfähigkeit” auf den systemmedizinschen Grund gehen.

Eine seltene Mutation bei Migräne führt zu Funktionsveränderungen in den Natriumkanälen der Zellmembran. Dadurch verändert sich die Geschwindigkeit mit der sich der Kanal öffnet und wieder schließt.

Soviel zu den Veränderungen in einem großen Molekül. Was aber passiert daraufhin in einer Gehirnzelle? Was passiert im Nervengewebe? Was im Gehirn als ganzes Organ? Was im Körper? Welche kognitiven Fähigkeiten sind betroffen?

Um erste Antworten zu geben gehen wir mit einem Computermodell vom genetischen Defekt bei Migräne zum Erscheinungsbild der Krankheit: vom Genotyp zum Phänotyp.

Zellen gleichzeitig über- und untererregt

Eingebunden in die Gehirnzelle führt dieser mutierte Kanal zu Veränderungen der zellulären Funktion, die man sowohl als Übererregbarkeit (hyperexcitability) als auch als Untererregbarkeit (hypoexcitability) interpretieren kann, je nachdem, ob man die Ansprechgeschwindigkeit oder die Feuerfrequenz betrachtet. Dies zeigt ein Vergleich den wir mit unserem Computermodell durchführten in dem wir einmal mit und einmal ohne diese “Mutation” das Verhalten der Gehirnzelle simulierten.

Zunächst kann das auch intuitiv verstanden werden.

Die Ansprechgeschwindigkeit wird schneller, da der Kanal schneller öffnet und die Feuerfrequenz wird langsamer, weil der Kanal langsamer schließt und so einzelne Nervenimpulse (Spikes) ein Plateau ausbilden und den nachfolgenden Spike verzögern. Die Intuition kann aber in komplexen Systemen leicht sich täuschen. Man muss den Mechanismus genau studieren und das Verhalten quantifizieren. Das geht allein mit ausgefeilten Experimenten – oder im Computermodell.

Um Computermodelle mit Daten zu füttern, muss man in jedem Fall erst experimentell etwas messen. In diesem Fall wie sich die beiden Geschwindigkeiten, mit denen sich der Kanal öffnet und schließt, verändern. Das wird mit sogenannten tail currents gemacht. Dazu reicht es, diesen Kanal isoliert zu vermessen.

Im nächsten Schritt geht es dann darum, aus diesen isolierten Veränderungen eines Bausteins auf Veränderungen im Gebäude zu schließen, also vom Kanal zur Zelle und dann weiter zum Gewebe, Gehirn und Körper.

Chronische krank: Anfall und anfallsfreie Zeit

Diese Funktionsänderungen im “Gebäude” sind natürlich auch außerhalb einer Migräneattacke vorhanden. Migräne ist eine chronische Erkrankung, die sich nicht auf die Anfälle beschränkt! Wie verändert sich die Verarbeitung im Gehirn bei einem Migräniker?

gene2brain
Folie zum Vortrag in Frankfurt nächste Woche

Psychophysikalische Methoden erlauben Schlussfolgerungen auf die Funktionsänderungen auf der höchsten Ebene, die der Wahrnehmung.

Die Psychologin Dr. Alex Shepherd beschreibt z.B. Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Migräne bei der visuellen Wahrnehmung (Brain, 129,1833, 2006). Diese betreffen nicht die seltene Migräneform mit dieser von uns untersuchten Mutation, doch Shepherds Ergebnisse sind im wesentlichen konsistent mit den Befunden, die wir auch dort erwarten.

Die veränderten Gehirnfunktionen bei Migräne in der anfallsfreien Zeit werden in der Fachliteratur durch Übererregbarkeit, erhöhte Reaktionsfähigkeit und/oder einem Mangel an der sogenannten „intrakortikalen” Hemmung erklärt. Shepherds Ergebnisse haben insbesondere die Übererregbarkeit als eine überhöhte Unterdrückung der intrakortikalen Hemmung hervorgehoben. Kurz gesagt, einem Mangel an Hemmung – doppelte Verneinung bejaht.

Mit psychophysikalischen Methoden kann man jedoch nicht die Brücke vom Verhalten zurück zu der Funktionsweise einzelner Gehirnzellen schlagen. Hier sind es wieder Computermodelle, die helfen zumindest Teilschritte zu gehen.

Gewebe übererregt trotz neuronaler Stille

Wir haben uns bisher nicht auf die Simulation kognitiver Funktionen in der anfallsfreien Zeit spezialisiert, obwohl das auch ein spannender Weg wäre, sondern auf den Anfall an sich und dessen Eintrittswahrscheinlichkeit. Meine erste Intuition wäre gewesen, dass die entdeckte niedrigere Feuerrate (s.o.) die Eintrittswahrscheinlichkeit eigentlich senkt. Denn die Feuerrate ist meist die entscheidende physiologische Größe im Gewebe, also im sogenannten neural mass model oder bei räumlicher Ausdehnung auch als neuronales Feldmodell (neural fields) bezeichnet. Diese Intuition ist aber falsch und sie muss es natürlich sein. Die Mutation muss die Eintrittswahrscheinlichkeit erhöhen und genau das tut sie auch im Computermodell.

Das Computermodell hat gezeigt, dass die ambivalente Interpretation von gleichzeitiger Über- und Untererregung auf der unteren Ebene der Gehirnzelle, die sich in gewisser Weise sogar in den psychophysikalisch gemessenen, kognitiven Fähigkeiten widerspiegeln, also auf der höchsten Ebene, sich nicht mehr auf der Zwischenebene des Gewebes zeigt. Wenn es allein um die Anfallswahrscheinlichtkeit geht und die Wiederstandfähigkeit gegenüber Durchblutungsstörungen (transitorische ischämische Attacken) ist die Situation eindeutig. Diese Wiederstandfähigkeit  ist klar vermindert und damit ist die Anregbarkeit einer Attacke erhöht, so dass wir allein von einer Übererregung im Gewebe sprechen können verursacht durch die Mutation. Dabei feuern einzelne Zellen allerdings weniger und sind für eine kurze Zeit von wenigen Minuten sogar vollkommen still.

Fazit

Dies zeigt sehr schön, dass Charakterisierungen und Konzepte wie “Erregung” und “Hemmung” oder “Über-” und “Untererregung” auf jeder Ebene für jede Funktion eigenständige und wohl definierte Bedeutungen besitzen. Das heißt im Umkehrschluss, es ist absolut keine sinnvolle Aussage zu sagen, Menschen die unter Migräne leiden sind das eine oder das andere. Es kommt auf den konkreten physiologischen Mechanismus und dessen Ebene an, auf die man sich immer mitbeziehen muss. Sonst werden es bloße Worthülsen. Die Brücke zwischen den Ebenen mit mathematischen Methoden zu schlagen und das Zusammenspiel zu enträtseln nennt man Systemmedizin.

 

Weiterlesen:
Dahlem MA, Schumacher J, Hübel N. (2014) Linking a genetic defect in migraine to spreading depression in a computational model. PeerJ 2:e379 http://dx.doi.org/10.7717/peerj.379

 

Fußnoten

*Ja, für die die mitgezählt haben, das ist das dritte Paper im Mai. Über die Zeitschrift PeerJ habe ich schon berichtet.

Die Rede ist von der familiären hemiplegischen Migräne (FHM), eine seltene Unterart der Migräne mit Aura. Die hier beschriebene Mutation ist die in dem noch selteneren Untertyp FHM3.

 

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

7 Kommentare

  1. Migränepatienten sind also andere Menschen mit mindestens quantitativ anderen Wahrnehmungen. Mit Schwächen beispielsweise bei der Erkennung von Bewegungen, der Wahrnehmung von Formen und der Unterdrückung von visuellem Rauschen.
    Ich habe schon immer vermutet, dass nicht allen Menschen alle Erfahrungen aller anderen Menschen zugänglich sind und dass uns die gemeinsame Sprache mit dem gemeinsamen Wortschatz über schwer überbrückbare Unterschiede im Fühlen und in der Warhnehmung hinwegtäuscht. Dass die visuelle Wahrnehung von Migränikern sich auch in den anfallsfreien Phasen von der von Nicht-Migränikern unterscheidet nehme ich als Unterstützung für meine Vermutung. Bis zu einem gewissen Grade ist diese Erkenntnis bereits in Topois wie “Männer und Frauen verstehen sich nicht” gefasst. Doch das wird meist als Kommunikationsproblem abgetan. Dass es Empfindungen geben könnte, die anderen kaum oder gar nicht zugänglich sind wird dagegen kaum je angenommen. Dabei könnte das häufiger der Fall sein als allgemein gedacht.

    • Das kann ich so nicht unkommentiert stehen lassen.

      Die Veränderungen in der Wahrnehmung sind sehr subtil. Untersucht wurde der Nachhall der Wasserfall-Illusion (Shepherd, Brain, 129,1833, 2006), die Wahrnehmung kohärenter Bewegung von Punktmengen vor einem Hintergrund inkohärenter Bewegung von Punktmengen (Antal A et al. Cephalalgia. 25,788, 2005) und ähnliches.

      Sie dagegen machen ein viel größeres Fass auf. Und das in diesem Zusammenhang zu unrecht.

      …dass nicht allen Menschen alle Erfahrungen aller anderen Menschen zugänglich sind und dass uns die gemeinsame Sprache mit dem gemeinsamen Wortschatz über schwer überbrückbare Unterschiede im Fühlen und in der Warhnehmung hinwegtäuscht.

      Das mag in einem Teil, der die Warhnehmung betrifft so stimmen, aber nur wenn man zum Beispiel an einen Menschen denkt, der gehörlos ist oder farbenblind. (Fühlen? Hier müsste erstmal gesagt werden, was das bezeichnen soll?) Menschen, die unter Migräne mit Aura leiden, sind vielleicht durch die Auraphase besondere Erfahrungen exklusiv zugänglich, die sich nicht mit unserer Sprache gut fassen lassen. Aber all das bleibt bei Ihrem Kommentar etwas im Hintergrund und man bekommt leicht den Eindruck, hier werden Unterschiede herbeigeredet, die nicht vorhanden sind.

      Deswegen: Menschen, die unter Migräne leiden, sind ganz sicher nicht in irgendeiner dieser Weisen “unterscheidbar” in der anfallsfreien Zeit. Übrigens auch nicht im “positiven” Sinn, also dass sie als Gruppe zusätzliche Fähigkeiten besitzen. Zumindest gibt es dafür keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse. Und genauso wenig haben sie als Gruppe Schwächen, ich will es mal Schwächen in höhere kognitive Fähigkeiten nennen — in der anfallsfreien Zeit!

      Das widerspricht nicht den Untersuchungen. Diese betreffen jedoch eben diese recht subtilen Wahrnehmungsunterschiede, die in den Alltagssituation nicht hervortreten.

      • Zugegeben, da habe ich zuviel in ein paar subtile Wahrnehmungsunterschiede hineingelegt.Des weiteren ist mein Einwand nicht alle Wahrnehmungen und nicht jedes Fühlen sei sprachlich fassbar ja überhaupt nur sinnvoll für Personen, die miteinander sprechen – und die zudem noch über ihre Wahrnehmungen und Empfindungen sprechen. Sprache ermöglicht erst die Illusion, den andern verstehen zu können – denn nicht selten ist es eine Illusion.

  2. Sind die Zellen außerhalb des Gehirns auch betroffen? Ich glaube schon, oder? Wie geht es dem übrigen Körper damit, haben die Betroffenen außer Migräne noch andere Probleme?

    • Gute Frage. Wir haben die FHM3 Mutation betrachtet. Der in diesem Fall betroffenen Natriumkanal (Na) ist für die Impulse (Aktionspotentiale) in Gehirnzellen notwendig. Er wird durch das Membarnpotential (V) gesteuert und bekommt so den Namen Nav-Kanal. Siehe hier.

      Aktionspotentiale kommen in den meisten anderen Zelltypen nicht vor, daher braucht man dann nicht den Nav-Kanal. Dort gibt es nichtspannungsaktivierten Natriumkanäle.

      Allerdings gibt es Aktionspotentiale auch in Muskelzellen und z.B. auch in Betazellen der Bauchspeicheldrüse. Ich denke, dass jeder dieser Zelltypen eine spezielle Unterart dieses Nav-Kanals hat, die auch einen eigenen Genabschnitt (durchnummeriert SCN1A bis SCN11A).

      Ich müßte mich da aber auch erstmal besser einlesen, um das genauer zu beantworten.

    • Wenn ich im Text oben selber Frage: “Was im Körper?” dachte ich daran, dass Körperfunktionen vom Gehirn gesteuert werden und nicht an eine direkte Beeinflussung durch die Mutation. Ist aber eigentlich eine sehr interessante (andere) Frage.

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