Neurotechnologie im Kinderzimmer

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Ungefähr 150 Jahre hat es gedauert. Nun ist die Neurotechnologie im Kinderzimmer ankommen. Vergleichen muss man die EEG-gesteuerten Katzenohren mit Technik, die personenbezogene Daten aufzeichnet, mit Technik zur erweiterten Realität und mit Medizintechnik. Fachkompetent eine wissenschaftliche Risikobewertungen vorzunehmen ist daher eine echte Querschnittsaufgabe. 

Musik, die an die Augsburger Puppenkiste erinnert, unterlegt das Werbevideo. Es zeigt, wie moderne Neurotechnologie künstliche Katzenohren auf Mädchenköpfen montiert wackeln lässt. Das passt, es hat wirklich das Antlitz der schaurig-schönen Welt eines Marionettentheaters.

Dies wird kein Strohfeuer, das kurz auflodert und schnell verglüht, wie so viele kuriose Kinderspielzeuge. Diese plüschigen Katzenohren weisen auf ein Mulitmilliardengeschäft. Man muss sie sowie ihre Verwandten und Nachfolger nämlich in drei verschiedenen Kontexten sehen, einordnen und bewerten. Es geht neben der Körpererweiterung auch um digitale Selbstvermessung, Zurschaustellung und Medizin.

Sichtbar machen

Zum einen gibt es einen direkten Bezug zu Hard- und Softwarelösungen (meist Smartphones, externe Sensoren und Apps — Beispiel: Polar, fitbit, jawbone, nike fuel, runtastic, …), die heute Vitalparameter, körperliche Aktivität, Schlaf-Muster und weiteres vermessen und sichtbar machen. Genau das geschieht hier auch. Es geht nicht allein um gesundheitliche, sportliche oder auch gewohnheitsspezifische Fragestellungen sondern ebenso um emotionale, wie ein weiteres Video der Firma neurowear (Hersteller ist NeuroSky), die die Katzenohren (necomimi) vertreibt, zeigt.

Augmented Human Body

Diese Katzenohren erweitern auch die Realität, sie gehören damit in den Bereich des Augmented Human Body, ähnlich wie Google Glass und doch verschieden. Anders als bei Google Glass geht es hier um eine offene Form des Biofeedback. Als Biofeedback bezeichnet man Methoden, die ansonsten unsichtbare körperliche Veränderungen der normalen Sinneswahrnehmung zugänglich machen, um diese zu erlernende Funktion persönlich zu nutzen. Die Einschränkung auf das Persönliche ist bei den Katzenohren allerdings frappierend ins Gegenteil verkehrt. Alle – nur man selbst nicht – sehen, wie die aufgesetzten Plüschohren wackeln und damit (zumindest rudimentäre) Aspekte des eigenen Gemütszustands verraten. [Nachtrag: Stefan Greiner macht in seinem Kommentar unten wohl zurecht Aufmerksam darauf, dass Muskelartefakte eher als zentrale Gehirnaktivität die Ohren steuern, zumindest wenn Plüschohrenträger nicht still sitzen, Donuts essen oder auch nur mit der Wimper zucken.]

Der Hinweis auf Google Glass ist auch deswegen sinnvoll, da diese Daten sich leicht in die Cloud einfüttern und mit anderen Verfahren kombinieren lassen.

Medizintechnik

Cefaly
Cefaly-Set zur Migräne- und Kopfschmerzbehandlung

Der dritte Bereich, der hier betroffen ist, ist die Medizintechnik, denn die Grenze zwischen Spiel – für die Erwachsenen nennen wir es Lifestyle – und Gesundheit war schon immer verwaschen.

Dabei geht es über ein Monitoring hinaus. Man kann nämlich nicht nur elekromagnetische Felder des Körpers aufnehmen (und sich selbst oder anderen sichtbar machen) sondern man kann elekromagnetische Felder auch zurück in den Körper wieder einspeisen (Beispiel: Cefaly, eNeura, CerboMed). Gleichzeitig können dezentralisierte und crowd-source-basierte Diagnoseverfahren angewandt werden (Bespiel: Propeller sensor).

Verbindet man diese Techniken, zum Beispiel indem man Signale, statt sie in Ohrenwackeln umzusetzen, in das Gehirn zurückführt, bekommen wir eine closed -loop Kontrollschleife, wie sie die Natur für jedwede physiologische Steuerung nutzt. Der Cyborg grüßt.

Wessen Querschnittsaufgabe?

Für mich ist die Frage, wer eigentlich fachkompetent eine wissenschaftliche Risikobewertungen vornehmen kann? Wer informiert Verbraucher und die Öffentlichkeit? Liegen irgendwelche Forschungsergebnisse diesem “Spielzeug” zugrunde? Für Spielwaren wäre eigentlich das Bundesinstitut für Risikobewertung verantwortlich. Schaut man aber in dessen Aufgabenbereich, wird schnell deutlich, dass hier eine ganz anders gelagerte Kompetenz vorhanden ist, die mit der eigentlich betroffenen Datenerfassung, erweiterten Realität und Medizintechnik nur wenig gemein hat. Eine wissenschaftliche Risikobewertungen vorzunehmen überfordert zu diesem Zeitpunkt diese Bundesanstalt wahrscheinlich.

Die Entwicklung ist einfach schneller als Politik und Forschung, fürchte ich. Man kann die Katzenohren übrigens ebenso wie das Cefaly-Set zur Migräne- und Kopfschmerzbehandlung bei amazon.de kaufen. Mit Geschick und einem Lötkolben kann man beides auch vernetzen.

 

 

 

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

8 Kommentare

  1. stimme den prinzipiellen Schlussfolgerungen (Notwendigkeit politischer Vertretung und öffentliche Information etc) zu. Was die Biopsychologie jedoch angeht, werden momentan viele dieser Produkte als “Neurotechnologien” verkauft, wobei die Messmethode und somit die Steuerung der Bewegung der Katzenohren etc. auf Muskelstimulationen (also eigentlich auf Artefakte die bei einem EEG entstehen) und nicht auf neuronale Aktivitätsmuster zurückzuführen sind.

  2. Bodymonitoring als Vermessen möglichst vieler Vitalparameter für den permanenten Gesundheitscheck scheint das nächste grosse Ding zu sein. Im SingularityHUB Artikel Body 2.0 – Continuous Monitoring Of The Human Body liest man dazu

    Did you ever stop to think how silly and also how dangerous it is to live our lives with absolutely no monitoring of our body’s medical status? Years from now people will look back and find it unbelievable that heart attacks, strokes, hormone imbalances, sugar levels, and hundreds of other bodily vital signs and malfunctions were not being continuously anticipated and monitored by medical implants. We can call this concept body 2.0, or the networked body, and we need it now!

    Und natürlich werden solche Daten wohl auch auf den social-Media auftauchen. Es wird Leute geben, die solche Daten bewusst ins Netz stellen in einer Steigerung des schon jetzt vorhandenen digitalen Exhibitionismus

    Das Gesundheitsargument wird aber wohl die grösste Wirkung entfalten und gerade auch ältere Leute dazu bringen sich entweder auf eigene Initiative oder auf Initiative ihres Artzes (“Proteus Biomedical sensor measures when and if a patient takes their medication”) zu “verdrahten”.

    • Das Vermessen möglichst vieler Vitalparameter wird ein wichtiger Beitrag zur Lebensverlängerung sein.
      Besonders günstig wäre auch ein damit verbundenes automatisches Notrufsignal.
      Derzeit habe ich nur einen Passivitätsmelder, der nach acht Stunden Passivität telefonisch Alarm auslöst.

      Warum die weiblichen Figuren in den japanischen Animes und Mangas häufig Katzenohren haben, das ist eine ganz andere Frage.

  3. SPON meldet gerade Fitnessarmband-Daten [Jawbone]: New York schläft früh, Berlin lange

    Fitness-Armbänder können Unmengen von Daten sammeln. Nun hat ein Hersteller die Schlafzeiten großer Städte und ganzer Länder verglichen: Die rastlosen New Yorker gehen besonders früh ins Bett, in Berlin wird etwas länger geschlafen.

    Die menschliche Neugier wird mit der permanenten Überwachung selbst bis jetzt nur geahnter, nicht gewusster Gewohnheiten, geweckt.

    Der obige SPON-Artikel scheint die Daten von Jawbone-Armbändern ausgewertet zu haben.

  4. “Ungefähr 150 Jahre hat es gedauert.”

    Ich dachte immer, das Universum sei älter, wenn es überhaupt einen Anfang hat, aber wenn man den Beginn der Zeitrechnung geschickt legt, kommt das durchaus hin. Und ich dachte auch, Du schriebest nicht mehr hier? Was ist passiert?

    “Diese Katzenohren erweitern auch die Realität” – da kann man geteilter Meinung sein. Bzw. Du könntest vielleicht kurz umreißen, was “Realität” eigentlich ist und dann erläutern, wie und warum diese Katzenohren die Realität also erweitern.

    “Man kann die Katzenohren übrigens ebenso wie das Cefaly-Set zur Migräne- und Kopfschmerzbehandlung bei amazon.de kaufen”

    Danke für den Hinweis. Zahlt amazon für den Hinweis oder gibt es den gratis?

    Schick mir auch bitte nochmal deine email-Adresse, weil mein Computer einen infausten Hardwareschaden erlitt, der dich leider, zwar nur in effigie (~augmented?), aber immerhin ausgelöscht hat. Du sollst mir einen subjektiven Einblick in die Ukraine-Krise geben, die ja nun doch ungefähr eine Million mal wichtiger erscheint als irgendwelche, Entschuldigung, bescheuerten Gadgets aus der schrillen, bunten Welt der Neurotechnologie. Vielleicht läßt es sich auch in Beziehung setzen, wer weiß es, wer versucht es?

    • Ich rechne natürlich von den Anfängen der Messung bioelektrischer Signale. Würde etwas anderes mehr Sinn ergeben?

      Ich bin doch schon seid über einem Jahr mit dem Thema Gehirn zurück auf SciLogs und mit dem Thema Karriere und Hochschulpolitik war ich nie fort. Mehr ein andermal dazu.

      Der Begriff wird so doch im täglichen Sprachgebrauch verwendet (zum Beispiel auch in “virtuelle Realität”) und scheint mir auch deswegen auch klar. Was immer gemessen und dann sichtbar gemacht wird bekommt dadurch erst seine Bestimmtheit, was ja auch zu Problemen führt, wenn es zB Muskelartefakte als ich mag Donuts (kauen!) sich manifestiert.

      Gratis. Schreibe vielleicht in Zukunft “kann man im Internet bestellen”.

      Let me google that for you. Ich könnte am Wochenende mal vorbei kommen, seid ihr da?

  5. Ich begrüße diesen Trend insoweit, als dass dadurch endlich alltägliches Epilepsie-Monitoring für die nich so klaren Fälle möglich wird. Und man sich so _für reines Monitoring_ einen Aufenthalt im Krankenhaus ersparen kann. Mit entsprechender Konfiguration kann es dann Anomalien erkennen und die Aufzeichnung starten, und mit den gewonnen Daten bessere Therapieentscheidungen treffen.

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