Kipp-Punkte im Gehirnklima

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Die gefürchteten, in der Klimaforschung Kipp-Punkte genannten, abrupten Übergänge begegenen uns in der Hirnforschung wieder bei paroxysmalen Krankheitsverläufen. 

Stellen Sie sich vor, man würde versuchen möglichst viele der messbaren Eigenschaften des Klimasystems der Erde zu messen, in Wetterstationen vor Ort, auf hoher See, mit Satellitenbilder vom Weltraum. Kein Weg zu weit, keine Kosten zu hoch. Es geht um das Klima. Diese Daten würden dann Fachleute bewerten in dem sie darauf gucken, ganz ohne Computermodell. Wie gut wären Vorhersagen dann?

In diesem dritten Teil (s. Teil 1 und Teil 2, plus einem Prolog) zu dem Workshop "Computational Neuroscience and the Dynamics of Disease States" komme ich auf Migräne und Epilepsie zu sprechen. Es geht um das Klima im Gehirn.

Vorab schrieb ich, dass beide Gemeinsamkeiten haben, auf zellulärer Ebene, im Krankheitsverlauf und in den Fragen, die wir mit den jeweiligen Computermodelle beantworten wollen.

Auf zellulärer Ebene kennzeichnen sich gewisse Phasen der Epilepsie und Migräne durch extrem hohe Zellaktivität aus, in denen wesentliche Teile der vorhandenen Energie der Zellbatterieren (chemische Gradienten über der Zellmembran) verbraucht wird. 

Zudem ist bei beiden der Krankheitsverlauf anfallsartig (paroxysmal). Was jeweils zu der Frage führt, wie beginnt der Übergang von normaler zur pathologischer Zelllaktivität und wie hört diese wieder auf, denn die Anfälle enden ja auch ohne Intervention, zum Glück, aber wieso eigentlich?

Genau diese Fragen kann man mit Computermodellen beantworten. Das klingt jetzt vielleicht zu sehr nach Frage und Antwort. Gemeint ist eher: Idee bekommen, evtl. Forschungsantrag schreiben und jahrelange Arbeit, dabei u.a. sich auf Workshops austauschen und Beiträge im Blog schreiben, um sich breiter auszutauschen (aber auch um Gedanken beim Niederschreiben neu zu reflektieren).

Am Anfang stehen immer die mathematischen Gleichungen, die auf Basis der Physiologie hergeleitet werden müssen. Das ist der Teil der am meisten von allem erfordert, Fachwissen, mehr noch fachübergreifendes Wissen und Erfahrung mit einen Schuss Intuition, denn man muss entscheiden, was man bei der Modellierung einer Erkrankung getrost weglassen kann (s. Kommentar zum 1 Teil).

Interessanterweise kann ich, selbst wenn ich die mathematischen Gleichungen noch nicht kenne, doch die möglichen Mechanismen aufzählen, die in Frage kommen für den Übergang des Gehirns in die krankhafte Dynamik des Anfalls und wieder heraus. Vier Möglichkeiten wurden auf dem Workshop diskutiert. Sie haben jeweils etwas andere Charakteristika, was Folgen hat, z.B. in der Anfallsdauer und Anfallsverteilung der akuten Attacken.

Diese Folgen, die sich allein aus den Eigenschaften der prinzipiell möglichen Übergänge herleiten, bringen mich zu einem zentralen Aspekt dieser Methodik. Deswegen eine Bemerkung dazu vorab, bevor ich dann die verschiedenen Übergänge aufzähle. Es wird eine Brücke geschlagen! Wenn Übergänge fundamentale Eigenschaften der zellulären Physiologie sind, deren Folgen sich im Krankheitsverlauf zeigen, dann kann man die Vorhersagen der zellulären Modellierung mittels klinischen Daten des Krankheitsverlaufs (Anfallsdauer und Verteilung) eventuell1 überprüfen (vgl. Suffczyński et al, 2004). 

Was sind das für vier Übergänge?

Es folgt nun eine sehr von der Krankheit abstrahierende Erklärung, denn diese Übergänge sind universell. Solche Übergänge werden in der Klimaforschung z.B. gerne als Kipp-Punkte bezeichnet (siehe Beispiel hier), wobei die Analogie an einer Stelle nicht stimmig scheinen mag, sie es aber ist. Bei der Klimaentwicklung wird meist an langsame Veränderungen (Drift) von klimarelevanten Parametern gedacht, wobei an einer bestimmten Stelle dann das Klima abrupt kippt und dies irreversible Auswirkungen hat. Das Gehirn wiederum wird meist als ein stationäres System (keine Drift) betrachtet, dass durch Trigger (Rauschen oder normale Varianz physiologischer Größen) in den Krankheitszustand hinein und so – oder auch anders – aus diesem auch heraus kippen kann (reversible, zumindest bei paroxysmalen Hirnkrankheiten). Der scheinbare Unterschied der Übergänge in Klima-und Gehirnmodellen ist aber kein prinzipieller, zumindest nicht in der Sprache der Mathematik. Gar nicht so selten sitzt der Klimaforscher auf einem Workshop neben dem Hirnforscher oder man ist gleich beides in Personalunion.

Zählen wir nun auf: Vormals gesunde Zustände2 können durch äußere Einflüsse verformt werden (Bifurkationen), es könnten der gesunde und kranke Zustand zusammen existieren und man springt von einem zum anderen über (Bi- oder Multistabilität), es könnten gesunde und krankhafte Phasen beide Teil einer Trajektorie sein (Intermittenz), oder ein Anfall wird angeregt indem der Gesunde Zustand über eine Schwelle angehoben wird und diese Störung zwar abklingt aber erst nach einer Exkursion im Phasenraum (transiente Dynamik).

Diese abstrakten Erklärungen für Übergänge sind ganz ohne Vorkenntnis von dynamischen Systemen nicht leicht zu verstehen. 

Mein Vortag auf der Tagung lautete "Transient patterns in a subexcitable medium and their relation to migraine diagnostics and non-medical treatment". Ich arbeite also zur Zeit an einer Theorie, die den vierten Übergang für Migräne postuliert, eine transiente Dynamik. Bei Epilepsie wird eher von Übergängen mittels Bifurkationen oder Bistabilität ausgegangen (Suffczyński et al, 2004), wobei es nicht eine Epilepsieerkrankung gibt und somit auch nicht notwendigerweise nur einen Mechanismus3

Ich erachte die mathematische Modellierung von Hirnkrankheiten als eine bedeutende Entwicklung auf diesem klinischen Forschungsgebiet, vergleichbar mit der der nichtinvasiven Bildgebung, mit der sie eng verzahnt werden sollte, weil gerade ohne eine mathematische Modellierung diese in einer Sackgasse bunter Bilder stecken bleibt.

 

 

Fußnoten

1 Ich formuliere das bewußt sehr vorsichtig, denn einige Übergänge unterscheiden sich dann doch nicht hinreichend und es gibt die Problematik, dass krankhafte Dynamik manchmal klinisch still verläuft (keine Symptome auftreten), ohne das wir bisher verstehen warum. Trotzdem ist diese Brücke da. 

2 Der Begriff Zustand ist hier im abstrakten mathematisch-physikalischen Sinne gebraucht. Wenn ich also von einer Verformung von gesunden zu kranken Zuständen spreche ist dies mit dem alltäglichen Gebrauch von "Zustand" leider wohl wenig hilfreich und muss als abstraktes Konzept hingenommen werden.   

3 In der Tat könnte die Erkenntnis, dass es möglicherweise verschiedenen Übergänge gibt, die Diagnoseformen der Migräne beeinflussen. Daher auch der Hinweis auf die Diagnoseform im Vortragstitel. Krankheiten nach Symptom (wie bisher), oder Ursache (ätiologisch), oder nach Entstehung (Pathogenese) zu klassifizieren, ist aber ein ganz eigenes Thema, das einen eigenen Beitrag bedarf. 

 

Literatur

[1] Suffczyński, P., Kalitzin S. & Lopes da Silva, F.H. Dynamics of non – convulsive epileptic phenomena modeled by a bistable neuronal network. Neuroscience, 126: 467-484, 2004.

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

20 Kommentare

  1. @Markus: Merci

    Obwohl Migräne nun wirklich weit entfernt von meinen Themen liegt, denke ich bei deinen posts immer, daß ich versteh, was du da machst.

    Vielleicht hast du ja irgendwann mal Zeit, einen post für deine fachlich vorbelasteten Leser zu machen: fachlicher, mehr ein Destillat der physikalischen und mathematischen Intuitionen.

    Denn

    “Gar nicht so selten sitzt der Klimaforscher auf einem Workshop neben dem Hirnforscher oder man ist gleich beides in Personalunion.”

    ist natürlich eine verdammt coole Sache! 🙂

  2. Sichtbarkeit und Verbreitung

    Verlockend, aber dann doch fast lieber gleich in Englisch als Review in einer Zeitschrift (was ich gerade so wie so machen will).

    Ein Zwischenformat findet hier vielleicht auch mal seinen Platz. Dann kann ich dolle Dinge schreiben: von parabolischen Differentialgleichungen, von einem Sattel-Punkt dessen stabile und instabile Mannigfaltigkeit die Bedingungen für Anregbarkeit des Typs I liefert, d.h. Schwelle bzw. Phasenraum-Umweg …

    Weißt Du, es fällt schwer wenn man schon so konkret wird nicht gleich wirklich ein Review zu schreiben, was mit DOI etc. dann doch eine andere Sichtbarkeit und Verbreitung hat.

    Sobald das fertig ist, kann ich aber gerne versuchen, hier eine kondensierte Version zum besten zu geben!

  3. wow, ist eine wirklich interessante analogie, obwohl ich keine ahnung vom wetter habe 😉
    bin auch nicht sicher, ob gesamtaussage des blogs richtig verstanden, aber die frage nach dem warum für start und ende von Epilepsie-/Migräneanfällen hat mich etwas verwundert: sind nicht alle energieabhängigen prozesse selbstlimitierend? womit das ende gar nicht so rätselhaft, und zum start fällt mir zuerst das berühmte fass ein, das beim nächsten tropfen überläuft… also laufen patienten evtl. mit einem randvollen fass umher, dass duch trigger immer mal überschwappt und nicht-patienten haben größere fässer, deckel oder weniger füllung…

  4. Energie

    Der Einwand mit der Energie ist sehr gut! In der Tat ist das ein Limit. Wobei es natürlich sein könnte, dass schnell genügend Energie nachgeliefert wird, wenn das betroffene Gebiet an sich gering ist und so der Verbrauch begrenzt.

    Angeblich kann Status epilepticus über Jahre anhalten und die Anfälle können zum Beispiel auf den zuckenden Daumen begrenzt sein.

    Auch wird bei der Migräne mit Aura viel mehr Energie verbraucht als bei Epilepsie (das müsste ich nun noch etwas genauer erklären), dort entladen sich die Zellbatterien fast komplett. In diesem Fall aber ist nicht die ganze Hirnrinde betroffen. Es stellt sich die Frage nach der örtlichen, nicht zeitlichen, Grenze. Warum passiert rechts und links davon nichts, statt warum vorher und nachher nichts. Diese Fragen sind in einem gewissen mathematischen Sinne durchaus ähnlich.

    Morgen vielleicht noch etwas ausführlicher zu dieser Thematik.

  5. berühmte Fass

    … und das Fass vergaß ich zu kommentieren. Diese Metapher habe ich noch nie bildlich verstanden. Der Tropfen bringt doch das Fass genau um nur einen Tropfen zum überlaufen, dann ist aber auch schon wieder Schluss. Oder?

    Die gute alte Toilettenspülung ist wirklich eine bessere Verbildlichung für eine anregbare Dynamik.


    (Quelle Wikipedia,Mcgill, CC-SELF; CC-BY-SA-2.5.)

  6. Spaß

    Wegen des Tropfens, haben wir heute im Büro kontrovers diskutiert und ein “Modell” geschaffen das unsere Überlegungen verifizieren sollte, wir sind nicht gut mit Formeln also musste ein Glas und Wasser reichen 😉

    Es läuft mehr über. Der letzte Tropfen reißt all die Flüssigkeit mit sich, die sich zuvor halbkugelförmig über den Rand gewölbt hat.

    Echt so war’s

  7. hmm…

    … hat das nicht mit Kohäsion zu tun, dass dann mehr als nur dieser eine Tropfen überläuft? Meine Chemiekenntnisse sind allerdings leider schon mehr als versickert. 😉

  8. Unabhängig vom Migränethema:

    Es läuft mehr über. Der Schlüssel ist die Oberflächenenergie.

    Das Wasser “stapelt” sich im Glas höher als es quasi geometrisch sollte, weil die Gewichtskraft des Wassers über dem Rand von der Oberflächenenergie ausgeglichen wird. D.h. zum Überlaufen müsste sich die Oberfläche vergrößern und dafür ist die Lageenergie nicht da.

    Wenn aber mehr Wasser hinzukommt, überwindet die potentielle Energie im Gravitationsfeld die Oberflächenenergie, und das Wasser fließt (unter Vergrößerung der Oberfläche) über den Rand.
    Ab diesem Punkt existiert aber schon die Oberfläche des über den Rand fließenden Wassers, so dass dass das komplette Wasser über dem Rand abfließt (weil es überschüssige potentielle Energie verglichen mit dem Niveau des Randes hat und die zusätzliche Oberfläche zum Abfließen nicht mehr erschaffen muss). Wenn das Wasser knapp das Niveau des Glasrandes erreicht hat, ist die Oberflächenenergie des abfließenden Wassers wieder größer als die Lageenergie des restlichen Wassers im Glas, und der “Schlauch” abfließenden Wassers kollabiert.

    Ich hoffe das war verständlich. ^^ Die kurze Antwort ist: Es fließt mehr ab als der eine Tropfen der hinzu gekommen ist.

  9. So ist Forschung!

    Erst mal eine Idee ‘rein rufen (Dank an DJ), sofort ein passendes Experiment im Büro machen (Dank an Alex) und dann die Theorie aufstellen (an Frau Frank und Lars, danke!). Großartig.

    Jetzt muss in einem zweiten Schritt das Modell nochmal erweitert werden:

    Wenn ein tropfender Wasserhahn da wäre, der (sehr langsam) immer Nachschub liefert, würde es regelmäßig zu solchen Überläufen kommen.

    Wäre das Überlaufen chaotisch, so dass mal mehr mal weniger Wasser abfließt, also der Zeitpunkt an dem der virtuelle Schlauch kollabiert, von dem Lars sprach, unvorhersagbar variiert — ich denke, das ist auch so –, wäre das wohl ein Beispiel für Intermittenz (sonst nur ein einfach zyklisches Modell).

    In diesem Beispiel wäre folglich die Dauer der anfallsfreien Zeit stark korreliert mit der Dauer des Anfalls, denn wenn weniger abfließt ist das Glas auch schneller wieder voll. Ergo, wir können vom Mechanismus auf den Krankheitsverlauf schließen.

    In diesem Fall scheint das Modell auf Migräne nicht zu passen. Aufpassen muss man allerdings mit der Frage, ob der Abfluss von dem Wasser mit der Kopfschmerzphase korreliert oder sich vielleicht gar nicht klinisch direkt manifestiert! Mit anderen Worten, die Symptome könnten nochmal recht unabhängig vom der Abflussdauer nur angestoßen werden, dann aber stereotyp verlaufen. Dann wäre das nach wie vor ein passendes Modell. Wir müssten dann nach anderen neuronalen Korrelaten für dieses Überlaufen suchen.

    Genau so ist Forschung!

  10. Gutes Beispiel

    Ich finde, dass sich dieses Beispiel gar nicht schlecht auf das Migränegeschen übertragen lässt.

    Die Oberflächenspannung bleibt ja immer gleich und der Zeitpunkt des Überlaufens ist nur abhängig von der Wasserzufuhr. Abgesehen davon, es kommt kein Öl mit dazu. 😉

    Hat man nun ein Glas mit Wasser, in das von einem Wasserhahn immer die gleichmäßige Menge an Wasser tropft, kann man vorausberechnen, wann das Glas wieder überlaufen wird.

    Nimmt man nun an, dass der Wasserhahn die Migränetrigger verkörpert und das Wasser daher in unregelmäßigen Abständen und auch in unterschiedlichen Mengen zuläuft, ist das Überlaufen des Glases nicht mehr vorauszuberechnen.

    Nun könnte man noch weiter überlegen und das Glas mit dem Serotoninspeicher vergleichen. So könnte man nun sagen, dass nach dem Überlaufes des Glases die Serotoninspeicher erschöpft sind und sich erst wieder füllen müssen.

    Da die zulaufende Wassermenge auch unterschiedlich ist, läuft mal mehr, mal weniger Wasser aus.

    Ist zuvor viel Wasser ins Glas gelaufen und in einem Schwall (mehrere Migränetrigger kamen zusammen und lösen einen schweren Anfall aus), wird auch mehr Wasser überlaufen, als bei nur einem einzigen Trigger und langsamer Wasserzufuhr. D.h. es dauert in diesem Fall wieder eine längere Zeit, bis das Glas erneut überläuft.

    Für unser Migränebeispiel würde es bedeuten, dass dies die Zeit ist für die Serotoninspeicher, sich wieder zu füllen und dann auf den nächsten Anfall zu “warten”.

    Kann noch einer folgen? Ich bin jetzt ganz wirr. 😉

  11. steter Tropfen

    @ Frau Frank, doch, doch… ich bin noch bei Ihnen – denke ich mal.

    Und Migräniker haben Probleme den Hahn, also den Wasserzufluss zu kontrollieren? Ist es so gemeint?

  12. fehlt aber was

    so gut mir die Analogie auch gefällt, haben wir doch ein Problem – das Wasser, es steht für die Trigger und auch für die Ernergie innerhalb der Zelle, es steht für beides, ich meine das haut nicht hin.

    Wir brauchen einen zweiten Zulauf oder etwas in der Art, der für den normalen Inhalt der Zelle sorgt.

    Übrigens, herzlichen Dank Herr Fischer, sowas kann mich solange es nicht aufgeklärt ist endlos beschäftigen.

  13. Wasser zu Limonade

    Der Einwurf von DJ war ja nur eine Metapher für den Übergang der normalen in die pathologische Nervenzellaktivität, aus dem wir dann, durch zunächst zwei Erweiterungen, versuchten eine vollständige Analogie zu machen. So ein Vorgehen ist auch gar nicht so unüblich in der wissenschaftlichen Herangehensweise.

    Wir sollten uns aber im Klaren sein, dass es natürlich unzählige Metaphern gibt, die als Ausgangspunkt dienen könnten, die meisten werden kaum dazu taugen, erweitert zu werden, so dass in Kunstgriffen nicht nur Wasser zu Limonade wird, um das Fest zu retten.

    Übrigens, viele Metaphern kommen aus der Meteorologie (Beispiel: Gewitter im Kopf), aber das nur nebenbei.

    Wann ist eine Metapher mehr und kann wirklich zum analogen Modell ausgebaut werden? Vielleicht nie befriedigend, aber da es nur wenige — wie ich oben im Beitrag schreibe — prinzipiell mögliche Übergänge gibt, geht es auch nicht darum alles eins zu eins abzubilden (Wasser ist Wasser, Limo ist Limo) sondern die Art des Übergangs zu treffen.

    Ich fürchte, dazu muss man schon ein wenig den Begriff des Phasenraums verinnerlicht haben, also den Raum (oder einfacher: die Menge) aller möglichen Zustände die ein sich zeitlich änderndes System im Prinzip einnehmen. Da dies für ein Pendel noch sehr einfach ist, für ein überlaufendes Fass aber schon unmöglich, wird es für das Gehirn nicht besser als für das Fass sein.

    Dass es trotzdem meist einfache Übergänge sind, liegt an etwas, was Hermann Haken mal Versklavungsprinzip (Achtung, wieder eine Metapher) nannte. Ganz einfach ausgedrückt, auch ein Gehirn ist am Ende kaum komplizierter als ein Pendel, da die vielen möglichen Zustände, die es einnehmen könnte, alle versklavt sind und von wenigen Sklaventreibern kontrolliert und auf wenige Marcozustände reduziert werden.

    Das heißt, ja, es gibt sehr gute einfache Modellvorstellungen über das, was im Hirn schief läuft, jedoch bleibt es eine wissenschaftliche Kunst, diese zu entwickeln. Wir sind ein gutes Stück diesen Weg hier top down gegangen!

    Genau so darf man sich Wissenschaft vorstellen.

  14. Gehirnklima oder Gehirnwetter?

    @Markus A. Dahlem
    Falls Ihre Migräne-Modelle die Merkmale chaotischen Verhaltens zeigen, wäre dann nicht ein Vergleich mit dem Wettergeschehen ohnehin treffender? Sie erwähnen Chaos hier zwar nur beiläufig in einem Ihrer Kommentare und nicht im Artikel, sodass nicht ganz klar wird, welche Rolle das Chaos dabei spielt — und ob überhaupt. Die Klimamodelle sind typischerweise jedenfalls nicht chaotisch, wie Stefan Rahmstorf in seinem Blog angelegentlich betont hat. Auch ein “Kippen” des Klimas, also abrupte Klimaveränderungen etwa im Zushg. mit den Eiszeit-Zyklen der Milankovitch Theorie, bedeutet ja noch nicht Chaos, und im Buch von Rahmstorf und Schellnhuber (Der Klimawandel, C.H. Beck, 2006) findet man das Stichwort Chaos folglich auch gar nicht.

    Wäre sicherlich interessant, wenn Sie irgendwann noch mehr zu Ihren Konzepten hier posten würden, schliesse mich da Elmar Diederichs’ Meinung an.

  15. Chaos und Migräne

    Chaos spielt auch bei der Migräne (in meinen Modellen) keine Rolle.

    Ich habe das mal, etwas länglich vielleicht, in einem eigenen Blogbeitrag “Migraine and Chaos” auf Gray Matters (scilogs.eu) beschrieben.

    Auch in dem dortigen Beitrag bleibe ich eine tiefer gehende Erklärung noch schuldig, sondern umschreibe nur, warum Migräne und Chaos oft zusammen erwähnt werden.

    Ich hoffe bald mal mehr Zeit zu finden und darüber dann auch hier mehr zu schreiben.

    PS: Vielen Dank auch noch mal für Ihre erklärenden Kommentare damals in dem oben auch schon verlinkten Post “Kipp-Punkte in der Arktis“?
    von Stefan Rahmstorf.

  16. @Markus A. Dahlem

    Besten Dank für Ihren erläuternden “Gray Matters” Link, diesen Essay hatte ich zuvor nicht gesehen.

    Bitte um Nachsicht, aber im Zweifelsfall ist einmal dumm gefragt besser als immer dumm geblieben.

  17. @Chrys

    Gerne, ich wollte diesen Beitrag eigentlich schon verlinken als Elmar nach mehr Informationen fragte, nur, dass eben dort auch noch nicht wirklich etwas ganz konkret gesagt wird. Dann hab’ ich es gelassen, weil ich dachte, das befriedigt dann auch nicht.

    Aber sehr konkretes wäre natürlich auch fast schon wieder eher was für eine Zeitschrift.

    Wie auch immer, bitte immer gleich nachfragen!

  18. Pingback:Suche nach Biomarkern für Anfallsvorhersage und -verhinderung bei Migräne › Graue Substanz › SciLogs - Wissenschaftsblogs

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