Keine scharfe Grenze zwischen Auslöser und Symptomen bei Migräne

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Kann Schokolade Migräne auslösen? Oder ist Schokoladenessen nicht vielmehr Symptom einer Migräneattacke? Wir haben ein neues Manuskript auf arXiv. Dessen zentrale Aussage ist, dass wir bei Migräne die Aufweichung der sonst scharfen Grenze zwischen Auslöser und Vorbotensymptome erklären können. Wir lernten von der Klimaforschung.

Migräne ist eine von Natur aus dynamische Krankheit. Attacken kommen und gehen – oft unregelmäßig. Im Gehirn laufen dabei die Ereignisse in einem komplexen Geflecht vernetzt und voneinander gegenseitig abhängig ab. Es gibt daher wahrscheinlich keinen einfachen Verlauf dieser Ereignisse von A nach B. In dem neuen Manuskript beschreiben wir deswegen das prinzipielle Verhalten unabhängig vom konkreten Verlauf in diesem komplexen Netzwerk im Rahmen der allgemeinen Theorie der Kipp-Punkte (Tipping Points) und erklären wie Auslöser (trigger) und Vorbotensymptome (prodromal phase) der Migräne von Betroffenen verwechselt werden können.

Über dieses „Mysterium“ wurde auch kürzlich in einem Nature News Feature (“Aura of mystery”) berichtet.

Eigentlich ist es gar nicht geheimnisvoll. Verwirrung über scheinbar widersprüchliche Ursachen in der Nähe von Kipp-Punkten ist z.B. im Klimasystem der Erde bekannt und gut untersucht. Der Mechanismus, der diesen scheinbaren Widerspruch (s.u.) aufklärt, ist direkt mit dem Problem der Verwechslung von Symptomen mit Auslösern bei Migräne verwandt. Genau wie bei Migräne betrifft die Verwirrung die “Vorbotensymptome” des Klimawandels.

tippingPointsIllustrated
Ein Kipp-Prozess: Diese Illustration erklärt vereinfacht große Schwankungen nahe am Kipp-Punkt (prodromal phase). Sie wurde u.a. im Rahmen eines Workshops mit 36 führenden Klimaforschern im Oktober 2005 in der britischen Botschaft in Berlin gezeigt und später in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift, die von der Akademie der Wissenschaften der Vereinigten Staaten herausgegeben wird, veröffentlicht (“Tipping elements in the Earth’s climate system”, PNAS). Wir haben diese Theorie für Migräne adaptiert.

Extrem harte Winter, wie die von 2005-06 und 2009, scheinen einer globale Erwärmung zu widersprechen. Richtig ist dagegen, dass solche Ereignisse als Teil großer Schwankungen in der Nähe von einem Kipp-Punkt zu erwarten sind (s. Abbildung).

Es gibt halt keine einfachen Antworten auf einfache Fragen in sogenannten nichtlinearen Systemen und eine Interpretation der Kausalität ist schwierig.

So ist es möglich, das Essen von Schokolade für einen Trigger zu halten, während dies tatsächlich eine spezielle Heißhungerattacke ist, oder grelle Lichtblitze als Auslöser zu interpretieren, während in Wahrheit man nur extrem lichtempfindlich ist (Photophobie), Stress ist ebenso ein Beispiel bei dem die Interpretation der Kausalität leicht schief laufen kann. In all diesen und weiteren Fällen können großen Schwankungen in einem bestimmten Untersystem des Gehirns dieses Verwischung zwischen Auslöser und Vorbotensymptom erklären.

Wichtig ist nun, dieses Untersystem im Gehirn zu identifizieren.  Basierend auf einer Hypothese über ein einheitliches Untersystem im Gehirn (Unitary hypothesis for multiple triggers of the pain and strain of migraine), das mehrere Migräneauslöser erklären kann, schlagen wir nun vor, genau dort die großen Schwankungen als Biomarker der Migräne zu suchen.

Dieses Untersystem ist ein Teilnetzwerk und liegt im limbischen System sowie in den prä- und postganglionären parasympathischen Nervenzellen, die das vegetative Nervensystem steuern. Computermodelle und quantitative Modellierungsansätze etablieren sich immer mehr. Gleichzeitig steht die klinische Forschung vor der nicht leichten Aufgabe, wenn schon nicht die mathematische Konzepte genau zu durchdringen, so doch zumindest die relevanten Aussagen in die eigene Forschung zu integrieren. Wir hoffen nun in einem Projekt im europäischen Rahmenprogramm diese transdisziplinäre Forschung weiter voranzutreiben.

 

PS

Drüben in der Klimalauge kann man mehr zu Kipp-Prozessen lesen, z.B. Sicherheitsrisiko Klimaspiralen – Are we “tumbling down the rabbit hole”?

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

2 Kommentare

  1. Ist es denn möglich vom erreichten Kipp Punkt in den normalen Zustand zurückzukehren oder ist es von diesem Moment an zwangsläufig so das es kippen muss? (Ich beziehe mich jetzt auf Migräne, nicht aufs Klima) Ich glaube es lässt sich mehr rückgängig machen, aber… aber hieße das nicht auch das Migräne ein notwendiges Geschehen wäre um den normalen Zustand wiederherzustellen?

    • Das ist die Frage. Solange das System nicht gekippt ist, sollte es im Prinzip möglich sein den Weg umzudrehen. Wobei sehr nahe am Kipp-Punkt jederzeit durch internes Rauschen das System von alleine Kippen kann und man sehr schnell umdrehen müsste.

      Letztlich ist es bei Migräne und beim Klima ein Frage welchen Zugriff man hat. Wir können ja nicht jede physiologische oder Klima Größe getrennt und ziegenau beeinflussen.

      Ich gehe darauf noch mal mit einem eigenen Beitrag ein.

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