Europa, Fußballstadion, Großhirnrinde

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Der Schwarzer Tod wanderte sechs Jahre durch Europa und Fußballfans lassen La Ola-Wellen im Stadion laufen. Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun? Falsch — Wie ein Perspektivenwechsel zu neuen Sichtweisen auf  Vorgänge im Gehirn bei Migräne führt.

Was haben die im Titel aufgeführten Begriffe »Europa, Fußballstadion, Großhirnrinde« gemeinsam? Alle wären gültige Antworten auf die Frage …

“… ja wo laufen sie denn?”

Wer läuft da? Keine Pferde, Erregungswellen laufen durch Europa, im Fußballstadion und in der Großhirnrinde. Die Aufzählung im Titel könnte weiter gehen: Waldboden, Froschei, Katalysator und weiteres mehr. Überall dort laufen sogenannte Erregungswellen.

Erregungswellen? Fangen wir mit einem Beispiel an: Im Stadion geben Fußballfans ihre Erregung durch Aufspringen und Hinsetzen ihren Sitznachbarn weiter. So organisiert sich eine Welle, ganz ohne einen Koordinator, der dies dirigiert. In der Physik sprechen wir von Selbstorganisation. Auf Europa und die Großhirnrinde will ich noch im Detail kommen. Der Vollständigkeit halber zuvor kurz zu dem Waldboden, Froschei und Katalysator.

Im Waldboden organisieren sich einzellige Amöben des Schleimpilzes Dictyostelium Discoideum bei Nahrungsmangel durch Erregungswellen zu einem überlebensfähigen, vielzelligen Fruchtkörper. Spannende Sache. Was genau den Erregungszustand bei den Amöben ausmacht, muss aussen vor bleiben. Das würde zu weit führen. In Froscheiern wurden Calcium-Wellen gemessen, die die typischen Charakteristika von selbstorganisierten Erregungswellen zeigen. Und Erregungswellen wandern auf der Oberfläche eines Platin-Katalysators. Letzteres Beispiel, das mir sehr am Herzen liegt – apropos Herz, hier führen Erregungswellen zur Kontraktion aber auch zum Herzflattern und -flimmern – der Platin-Katalysator also liegt mir am Herzen, denn der Nobelpreisträger Gerhard Ertl hat als Mitbegründer der modernen Oberflächenchemie diese Wellen untersucht. Im Rahmen seines vor 12 Jahren ins Leben gerufenen Sonderforschungsbereich “Komplexe Nichtlineare Prozesse” arbeite ich heute.

Erregungswellen sind also eine universelle Erfindung der Natur. Offensichtlich führen einfache Regeln, so einfach, dass Amöben und Fußballfans kein Problem bei deren Umsetzung haben, zu recht komplexen Verhalten.

Nun über Europa und zur Großhirnrinde. Zur Beulenpest und zur Migräne!

Beulenpest oder Migräne?

Ausbreitung der Pest in Europa zwischen 1347 und 1351, Creative Commons License, Autor: Roger Zenne

Im Jahr 1346 erkrankten die ersten Menschen nahe der östlichen Grenze des damaligen Europas an einer seltsamen Krankheit. In einem Akt biologischer Kriegsführung banden Truppen der Golden Horde ihre mitgebrachten Seuchentoten auf Katapulte und schleuderten sie über die Mauer einer Hafenstadt auf der Krim*. Wahrscheinliche wäre die Krankheit jedoch durch Ratten auch so übertragen worden.

Wie dem auch sei, die Zeit zwischen 1347 bis 1353, in der nun diese Krankheit durch ganz Europa als Erregungswelle sich ausbreitete, wurde später als der Schwarze Tod bekannt. Es war wahrscheinlich die Beulenpest.

Würde ich die obigen Daten über dem Ausbreitungsverlauf der Beulenpest durch Europa als einfache Kontourlinie, so dass Europas Umriss nicht mehr erkennbar ist, Fachärzten präsentieren, nämlich Neurologen, die sich auf die Krankheit Migräne spezialisiert haben, und würde ich behaupten, es handele sich um den Verlauf einer pathologischen Erregungswelle gemessen in der Großhirnrinde zwischen 13:47 und 13:51, diese Fachärzte hätten wohl kaum eine Chance meinen Schwindel aufzudecken. In der Tat entstand dieser Blogbeitrag, weil ich genau das in meinem nächsten Vortrag vorhabe. (Nachtrag: es hat funktioniert!)

Messungen pathologischer Erregungswelle in der Großhirnrinde, die Migräne auslösen können und die auch bei Schlaganfall auftreten, sehen zum Beispiel so aus, wie in der folgenden Abbildung gezeigt (N. Hadjikhani et al. PNAS 2001).

Kernspintomographie des Verlaufes einer Erregungswelle bei Migräne in der Großhirnrinde  (N. Hadjikhani et al. PNAS 2001)

Wir sehen oben einen Ausschnitt der Großhirnrinde in flacher Darstellung, d.h. die dunkelgrauen Bereiche liegen normalerweise inseitig, die hellgrauen außen auf unserer wallnussförmigen Hirnrinde. Farbig ist der Verlauf einer sich ausbreitenden Erregungswelle zu sehen, genau wie bei dem Verlauf des Schwarzen Todes. Vom rot zu blau vergeht eine Viertelstunde in der in etwa 4.5 cm der Hirnrinde von einem bestimmten Erregungszustand überquert wurden. Die Länder heißen hier Areale und tragen so fantasielose Namen, wie V1, V2, V3 …

Es ist durchaus hilfreich, über diese pathologische Welle im Hirn in Analogie zur Ausbreitung der Beulenpest nachzudenken. Durch diesen Perspektivenwechsel erkennen wir, dass eine ausschließlich molekulare oder auch zelluläre Beschreibung dieser Pathologie der Großhirnrinde keine Aussagen erlaubt, ob und wie sich eine Erregung ausbreitet. Denn wir können auf der molekularen und zellulären Ebene alles über die Beulenpest wissen (oder auch die Schweinegrippe, um ein aktuelles Beispiel zu nennen). Dies allein sagt uns nicht, ob sich der Erreger ausbreitet! Wir können vielleicht einen Impfstoff entwickeln, aber wie wir ihn sinnvoll einsetzen, ist eine Frage der Ausbreitungscharakteristik der Erregungswelle, die dieser Erreger eventuell auslösen könnte. Ob und wie schnell er sich ausbreitet, hängt zum Beispiel davon ab, ob wir in Flugzeugen durch die Gegend fliegen, oder nur gelegentlich mit Katapulten über Stadtmauern geschossen werden. Darüber weiß der Erreger natürlich nichts.

Pathologien des Gehirns müssen folglich auf zwei komplementären Ebenen beschrieben werden, der lokalen zellulären Ebene und der Ebene der Transmission innerhalb des neuronalen Gewebes. Im Gewebe sind die Regeln programmiert, wie Erregungszustände sich ausbreiten. Diese Regeln gilt es zu verstehen, möchten wir eine Ausbreitung durch einen therapeutischen Eingriff verhindern.

Vorschau
Im nächsten Beitrag soll es dann um die Schweinegrippe und Epilepsie gehen. Beides breitet sich nicht als Welle sondern quasi schlagartig aus, in Europa, ja der ganzen Welt bzw. in der Großhirnrinde.

* Fußnote: Mein Dank an Prof. Theo Geisel vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, Göttingen, der auf bei einem Vortrag auf der Krim 2006 diese Anekdote zum besten gab.

 

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

8 Kommentare

  1. “bestimmte(r) Erregungszustand”

    Was bitte darf ich mir darunter vorstellen?

    Weiß man was über den Mechanismus der Entstehung?

    Die Welle wandert ja vergleichsweise langsam. Oder täuscht dieser Eindruck?

  2. Erregungszustand

    Über den Erregungszustand der einzelnen Nervenzellen, die sich dann zu einer Migränewelle in der Großhirnrinde formieren, weiß man recht genau Bescheid.

    Dies ist im wesentlichen ein chemisches Ungleichgewicht, was man als ein ent- und wieder aufladen der Batterien einer Nervenzelle bezeichnen könnte. Dies kann, ähnlich wie bei einem epileptisch aktiven Herd (Fokus) im Gehirn, z.B. durch eine hohe Feuerrate der Nervenzellen ausgelöst werden.

    Als Fachliteratur würde ich das Buch “Ions in the Brain: Normal Function, Seizures, and Stroke” von George G. Somjen empfehlen. Ich hatte mit vorgenommen auch noch einen Blogbeitrag zu dieser lokalen Dynamik zu schreiben.

    Der Erregungszustand allein verrät aber noch nichts über die Ausbreitungsgeschwindigkeit.
    Darum ging es mir in diesem Beitrag.

    Warum breitet sich die Schweinegrippe heute schneller aus, als die Beulenpest im Mittelalter? Das ist eine Frage, dessen Antwort nicht allein im Erreger liegt sondern auch von der Art der verfügbaren Transportwege. Aber nun will ich nicht den nächsten Blogpost vorwegnehmen in dem es um schnellere Ausbreitungsformen gehen soll.

    Beste Grüße,
    Markus Dahlem

  3. zelluläre Ebene vs. Gewebe

    Nach meinem Verständnis wird die Ausbreitung der Erregung bei Neuronen durch die zellulären Vorgänge (z.B. durch die Gewichtung der Synapsen) zumindest mitbestimmt. Weiter verändert sich die Gewichtung aufgrund der Erregungswellen auch durch die zellulären Mechanismen. Würde man nicht, falls man nur das Gewebe betrachtet und so die die (zellulären) Verbindungen statisch ansieht, einen wichtigen Teil der Erregungsausbreitung, zumindest im Gehirn, vernachlässigen?

    Im Übrigen ein großes Lob für den hervorragenden Blog

  4. Mitbestimmung und BZ Reaktion

    Zunächst ein Dank für den Hinweis als Link zur Belousov-Zhabotinsky-Reaktion.

    Es ist mir zunächst gar nicht aufgefallen, dass ich die BZ Reaktion in diesem Blogpost gar nicht erwähnte. In “Migraine and Chaos” auf scilogs.eu gehe ich näher auf diese Reaktion ein.

    http://www.scilogs.eu/en/blog/gray-matters/2009-11-25/migraine_and_chaos

    @Nic: Ja die lokale Dynamik bestimmt die Geschwindigkeit mit. Man kann den Anteil analytisch in einfachen Reaktions-Diffusions-Modellen abschätzen, was 1963 von Alan Lloyd Hodgkin für die Migränewellen gemacht wurde.

    Wie schon im ersten Kommentar bemerkt, kommt man auf eine sehr sehr langsame Ausbreitung bei diffusiver Kopplung. Wenn man alle synaptischen Kontakte blockiert (im Tierexperiment), läuft die Welle immer noch. Der Beitrag über die Synapsen ist also nicht notwendig.

  5. Hinter Erregenswelle steckt vermutlich immer ein Potenzial (Energie), das sich durch Anregung entläd und ausbreitet. Die induzierte Emission im Laser dürfte ein Extrembeispiel sein. Fragt sich ob das im Gehirn auf einer nützlichen Eigenschaft beruht oder eine Nebenwirkung ist.

  6. induzierte Emission im Laser und Hirn

    Der Hinweis auf die induzierte Emission im Laser als Beispiel ist ganz richtig.

    Ich arbeite z.Z. ja an einen Institut in dem eigentlich Laserdynamik im Vordergrund steht. Die Modelle für Laser und Nervenzellen sind sehr ähnlich in ihrer mathematischen Struktur.

  7. Pingback:Abbrennen einer Lunte – unbelebte Modelle in der Biologie › Graue Substanz › SciLogs - Wissenschaftsblogs

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