Diese Woche: Wer wie mit der Wimper zuckt

Beim Streifzug durchs Netz stoßen wir auf wissenschaftliche Publikationen, die das Auge unter Strom setzen (was durchaus sinnvoll ist) und chirurgisch Gesichtsmuskeln durchtrennen (was weniger sinnvoll scheint). 

Wo entstehen primäre Kopfschmerzen, Kopfschmerzen, die nicht Symptom und damit Folge einer anderen Erkrankung sind? Wo verlaufen die relevanten Schmerzfasern; welche Signale tragen sie und welche höheren Hirnzentren können die Schmerzwahrnehmung beeinflussen? Ungeklärte Fragen. Solange die Physiologie der Migräne unklar ist, bleibt auch die Behandlung mit pharmakologischen Wirkstoffen unklar.

Für Wo-Fragen verfügt die Neurologie über die neurologisch-topische Diagnostik. Mit einem neuen Test aus dieser alten neurologischen Werkzeugkiste kommt man vielleicht dem primären Kopfschmerz weiter auf die Schliche. Genutzt wird eine recht einfache Apparatur verbunden mit einer einfachen Idee. Zusammengefügt ist es raffiniert und der Physiker und Mediziner Hermann von Helmholtz hätte sicher seine Freude daran gehabt. Denn auch er beschäftigte sich mit der Reflexlehre und sein Berliner Kollege Emil Heinrich Du Bois-Reymond nutze Elektrizität für die medizinische Diagnostik. Erfunden hat die Apparatur aber Holger Kaube erst vor 15 Jahren. Mit einer elektrischen Stimulation nahe am Auge werden bestimmte, schnelle Schmerzfasern in der Oberhaut (Epidermis) selektiv angeregt. Der Lidschlussreflex als Reizantwort gibt dann Auskunft über die Schmerzleitung, was wiederum für diagnostische Zwecke genutzt werden kann.

blink_reflex

Der Trick funktioniert aufgrund einer konzentrisch gewählten Anordnung der Stimulationselektroden mit geringen Anoden-Kathoden-Abstand und hoher Stromdichte bei relativ niedriger Stromstärke. In dieser Konstellation dringt die elektrische Stimulation nicht in die tiefer liegenden Hautschichten. Dort liegen weitere schnelle Nervenfasern, die aber keine Schmerzfasern sind. Sie müssen ausgespart bleiben, um nur die reflektorisch körperliche Reaktion der Schmerzfasern studieren zu können. Untersucht wurde nun in freiwilligen gesunden Probanden wie der isolierte Anteil der reflektorischen Schmerzantwort von pharmakologischen Wirkstoffen beeinflusst wird [1]. Genauer: der Einfluss des Benzodiazepinrezeptors. Benzodiazepine sind angstlösende, entspannende Psychopharmaka mit antikonvulsiver (Antiepileptika) Wirkung.

Die Autoren schließen mit der Bemerkung:

„Studies of preventive medicines and putative new anti-migraine treatments may provide useful insights into both the pathophysiology of migraine and help accelerate medicine development.“

Es wird also sicher bald weitere Studien mit dieser Methode mit neuen Anti-Migränewirkstoffen geben.

Phase 3 Studie

Das nächste Thema dreht sich auch um neue Anti-Migränewirkstoffe. Dazu gab es schon am 2. Aug., 27. Sept. und letzte Woche am 11. Okt. jeweils kurze Neuigkeiten. Doch es ist nochmal einige Zeilen Wert. Eine neue Nachricht über die als Wunderwaffe geltenden humanisierten monoklonale Antikörper. Das biopharmazeutische Unternehmen Alder BioPharmaceuticals hat vor fünf Tagen zwei neue Studien angekündigt. Es sind die letzten vor der Marktzulassung, wenn sie positiv verlaufen. Mit etwa 600 Migränepatienten soll die Wirksamkeit für häufige episodische Migräne nachgewiesen werden. Danach folgt eine etwas kleinere Gruppe mit chronischer Migräne.

Migräne wegoperiert?

Zum Abschluss eine weitere Aktualisierung zu einem Thema, das häufiger schon vorkam. Der plastische Chirurge Bahman Guyuron verteidigt wieder einmal mehr seine Behandlungsmethode der Migräne. Migräne wird wegoperiert. Interessant ist für mich, dass Guyuron es in die Zeitschrift Headache schafte [2] – mit der Überschrift „Is Migraine Surgery Ready for Prime Time? The Surgical Team’s View.“ Wie der Titel vermuten lässt, gibt es eine zweiter Veröffentlichung dort als Gegenansicht: Alles Placebo [3].

Ob Guyuron nun wirklich neue Fakten präsentiert, kann ich noch nicht sagen, das Paper liegt noch nicht vor. Aber wie gesagt, das Thema gab es hier im Blog bereits. Sehr gut stellt die legendäre Pro-Contra Debatte in Boston vor zwei Jahren die Lage da, sie ist hier zusammengefasst (in Englisch). Ein älterer Beitrag von 2011 war in der Süddeutschen Zeitung. Überall der Tenor bisher: Alles Placebo.

So widersinnig es wäre, diese Aufklärungs- und Widerlegungsarbeit könnten diese Therapieform nun populär machen. Denn in der Prime Time gilt ja, dass jede Publicity gute Publicity ist, auch schlechte.

 

 

Literatur

 

[1] Marin J, Gantenbein AR, Paemeleire K, Kaube H, Goadsby PJ. Nociception-specific blink reflex: pharmacology in healthy volunteers. J Headache Pain. 2015 Dec;16(1):87. doi: 10.1186/s10194-015-0568-7. Epub 2015 Oct 8 (open access)

[2] Guyuron B. Is Migraine Surgery Ready for Prime Time? The Surgical Team’s View. Headache. 2015 Oct 16. doi: 10.1111/head.12714. [Epub ahead of print]

[3] McGeeney BE. Migraine Trigger Site Surgery is All Placebo. Headache. 2015 Oct 16. doi: 10.1111/head.12715.

 

 

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

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