Diese Woche: Mahnung an die Ärzte – Dringlichkeit der Migränebehandlung

Der Streifzug durchs Netz bringt vier Artikel zu Tage: über die Dringlichkeit der Migränebehandlung, über eine Region im Gehirn, deren Aktivität mit den psychosozialen Aspekten der Migräne korreliert, über Auslösefaktoren und über Migräne und die Menopause.

Der neuste Artikel zu Migräne in der medizinischen Datenbank Pubmed stammt von zwei renommierten Forschern. Er trägt den schönen, weil mehrdeutigen Titel „Taking the headache out of migraine“. Noch ist mir nicht mehr als die Zusammenfassung verfügbar. Es geht, soweit ersichtlich, um recht neue Erkenntnisse aus bildgebenden Methoden, die zeigen, dass Migräne Strukturen im Gehirn verändert. Zum einen könnten diese Veränderungen schon genetisch veranlagt sein, anderseits können die Attacken selbst solche Veränderungen hervorrufen – so oder so: die Veränderungen sind wahrscheinlich* umkehrbar. Diese Erkenntnis erfordert, dass Ärzte ihre Herangehensweise verändern. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass Migräne nicht mit hinreichender Dringlichkeit behandelt wird [1].

takethemigraine

Aus der Zusammenfassung dieses Papers geht nicht mehr hervor. Einer der beiden Autoren ist Koautor der auch recht aktuellen Studien über Migräne und Stress (2012 und 2013). Sie zeigen, wie Stress das Gehirn bei Migräne verschleißt [2-3]. So lässt sich zumindest vermuten, worum es in dem neuen Artikel geht. Natürlich muss der Schmerz bekämpft werden – Taking the headache out of migraine. Wahrscheinlich geht es jedoch um deutlich mehr: Man muss den Menschen mit seiner Migränekarriere ernst(er) nehmen. Als die beiden vorangegangenen Studien dieses Jahr auf dem 57. Jahrestreffen der amerikanischen Headache Society vorgestellt wurden, gab es drei konkrete Handlungsweisen, wie sich durch Migräne veränderte Gehirnstrukturen wieder normalisieren, egal, ob nun genetisch oder durch Attacken verändert: regelmäßig Sport treiben, Stress besser verarbeiten, z.B. mit Mindfulness-Based Stress Reduction, und soziale Unterstützung und Integration suchen, die einen ausgeglichenen Gemütszustand ermöglichen. Es geht um die richtige Bewältigung der Krankheit.(„Taking the mickey out of someone“ bedeutet, jemanden, oft öffentlich, subtil und doch gutmütig, nicht allzu Ernst zu nehmen.)

Wie dem auch sei, es ist auffällig, wie die besondere Rolle psychosozialer Prozesse in den letzten Jahren in vielen neuen Studien über Migräne hervorgehoben wird. Dem wurde lange kein Wert zugemessen, nicht mal mehr ein heuristischer. Vermutlich sollte Migräne keinesfalls wieder in die Ecke psychogener Schmerzen rücken (also ohne organische Ursache), aus der der Neurologe Harold Wolff die Krankheit Anfang des 20. Jahrhundert herausgeholt hatte. Heute können psychosoziale Prozesse im Gehirn lokalisiert werden: in einem weiteren, aktuellen Artikel vom 19. August wird eine zentrale Schaltstelle in der Inselrinde identifiziert. Sie soll die psychosozialen Prozesse quasi organisch vertreten, so dass wir wieder eine somatogene Krankheit vor uns haben. Der Artikel stammt teils von den gleichen Autoren, wie die zuvor zitierten [1-3], und trägt den Titel „The Insula: A ‘Hub of Activity’ in Migraine“ [4].

Die Stoßrichtung der Aussage „migraine .. is not taken seriously … [and] … is currently not treated with the urgency that it deserves“ [1] (dass also Ärzte Migräne weder ernst genug nehmen, noch mit hinreichender Dringlichkeit auf eine Behandlung hinwirken) wird damit zwischen den Zeilen lesbar. Zumindest kann ich das nur so lesen: wenn die Bedingungen, die Migräne aufrechterhalten, nicht geändert werden und wenn daraufhin Komplikationen und Chronifizierung eintreten, die nachweislich Schäden im Gehirn verursachen, dann darf man von Behandlungsfehlern ausgehen. Ärzte wissen, dass ohne nachweisliche Schäden der Patient auf sich allein gestellt ist. Ihm obliegt grundsätzlich die Beweislast, käme es zu dem Vorwurf eines Behandlungsfehlers (es sei denn, der Arzt macht groben Behandlungsfehler). Die Zusammenfassung des aktuellen Artikles kann man in diesem Kontext durchaus als Mahnung an die Ärzte lesen.

Ein weiterer aktueller Artikel [5] berichtet von der Häufung folgender Auslösefaktoren bei Migräne mit Aura: verschlafen, prämenstruelle Phase, belastende Ereignisse im Leben, heißes/kaltes Wetter, Entspannung nach Stress, Menstruation, Wind, intensive Emotionen, Hunger und hellem Sonnenlicht. Untersucht wurde eine Gruppe von 116 Patienten in Griechenland. Wirklich neu ist das nicht. Es gibt allerdings nur wenige Arbeiten, die versuchen Auslösefaktoren einzelnen Unterformen der Migräne zuzuordnen. Darin könnte zukünftig ein Wert liegen – gerade weil ich dem oft zu einfach interpretierten Konzept der Auslösefaktoren eher kritisch gegenüber stehe.

Abschließend noch ein Hinweis zu einem vierten Artikel, veröffentlicht im August – es war ja nicht nur eine Woche, sondern ein Monat Pause, bedingt durch Urlaub und Ferienzeit; allein wöchentlich werden übrigens durchschnittlich 30 Artikel über Migräne publiziert, die Wochen- bzw. Monatsschau hebt also nur eine kleine, persönliche Auswahl wichtiger Themen hervor (ein Blogbeitrag folgt noch zu einem eigenen wissenschaftlichen Artikel veröffentlicht im August) – Abschließend also noch ein neuer Artikel: „Migraine in menopausal women: a systematic review“ [6]. Diesen Artikel fasse ich vielleicht auch nochmal in einem eigenen Beitrag zusammen. Die Einleitung ist auch für Laien gut zu lesen und dass ist mein Lesetipp.

menopauseMigraine

Literatur

[1] Borsook, D., & Dodick, D. W. (2015). Taking the headache out of migraine. Neurology: Clinical Practice, 5(4), 317-325. (Link)

[2] Borsook, D., Maleki, N., Becerra, L., & McEwen, B. (2012). Understanding migraine through the lens of maladaptive stress responses: a model disease of allostatic load. Neuron, 73(2), 219-234. (open access)

[3] Maleki, N., Becerra, L., Brawn, J., McEwen, B., Burstein, R., & Borsook, D. (2013). Common hippocampal structural and functional changes in migraine. Brain Structure and Function, 218(4), 903-912. (open access)

[4] Borsook, D., Veggeberg, R., Erpelding, N., Borra, R., Linnman, C., Burstein, R., & Becerra, L. (2015). The Insula A “Hub of Activity” in Migraine. The Neuroscientist, 1073858415601369. (Link)

[5] Iliopoulos, P., Damigos, D., Kerezoudi, E., Limpitaki, G., Xifaras, M., Skiada, D., … & Skapinakis, P. (2015). Trigger factors in primary headaches subtypes: a cross-sectional study from a tertiary centre in Greece. BMC Research Notes, 8(1), 393. (open access)

[6] Ripa, P., Ornello, R., Degan, D., Tiseo, C., Stewart, J., Pistoia, F., … & Sacco, S. (2015). Migraine in menopausal women: a systematic review. International journal of women’s health, 7, 773. (open access)

 

* In der ersten Fassung hatte ich noch nicht “wahrscheinlich” geschrieben, die Autoren sind allerdings an dieser Stelle vorsichtiger, weil eben nur Ergebnisse von der Stressforschung übertragen werden. (Nachtrag am Montag, 7. Sept. 9:50)

 

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

7 Kommentare

  1. Na, das klingt doch gut. Nur:

    “regelmäßig Sport treiben, Stress besser verarbeiten, z.B. mit Mindfulness-Based Stress Reduction, und soziale Unterstützung und Integration suchen, die einen ausgeglichenen Gemütszustand ermöglichen.”

    … als Behelfsstrategien gegen die Symptome – sowas lässt sich doch nicht eben mal hinreichend in einer kleinen Studie entnehmen? Viel zu komplex. Wie lange lief die Studie? 0,2 oder 20 Jahre?

    • Die Ergebnisse schlagen eine Brücke zur Stressforschung und übertragen dies auf die Migräne. Insofern ist das nicht mal “eben” gemacht worden.

      Mir geht es auch nicht um diese drei Aspekte (Sport, Stressreduktion, Ausgeglichenheit durch soziales Umfeld). Fakt ist, der Umgang mit der Krankheit, mit dem Schmerz, das sog. Coping, hat eine nicht zu unterschätzende Wirkung. Leider wird durch die Krankheit das Leben oft sehr stark eingeengt. Während der Attacke sowieso, doch ebenso in der anfallsfreien Zeit. Dann versucht man oft mit Überaktivität verlorenes zu kompensieren. So geraten Betroffene leicht einen Teufelskreis.

      Solche dysfunktionalen Muster kann man mit den drei Vorschlägen, und vielen anderen auch, durchbrechen. Die ärztliche Reaktion auf Migräne entspricht dem komplexen Sachverhalt leider kaum. Wobei die Patienten auch schnell die eigene Integrität bedroht sehen, wenn Ärzte mit solch allgemein gehaltenen Ratschlägen kommen, weil man sich in der psychogenen Ecke wähnt. Von diesem monokausalen Denken — bei Arzt wie Patient — gilt es wegzukommen. Ich glaube darum geht es den Autoren.

      Gleichzeitig sind klinische Studien natürlicherweise immer so angelegt, dass nur ein Einflussfaktor untersucht wird, alles andere wird in der Studie festgehalten, vereinfacht gesagt. So funktioniert nun mal die Evidenz-basierte Medizin (und das hat schon seine Berechtigung). Das bedeutet aber gerade auch, dass man eben die Stressforschung mit ihren Ergebnissen übertragen muss und darf.

      • Ja, natürlich. Und die Ratschläge sind ja nicht aussergewöhnlich. Mich wundert eben, das es jetzt plötzlich eine Dringlichkeit geben soll – wie kommt man drauf? Das sind eigentlich gute Ratschläge in allern Lebenslagen. Immerschon.

        ich meine aber auch, dass es mit den Ratschlägen und die Involvierung der Ärzte nicht getan sei, weil sich dann allermeist nichts im Leben der Menschen ändern wird. Einzig der Sport wäre selbstbestimmt durchführbar.
        Stressreduktion? Gibt es da was von Ratiopharm – weil es scheinbar (gesundheitliche) Lebenslagen gibt, in der der Stress per Trockenübungen nicht abbaubar sei.

        Nur angemerkt. Antwort nicht nötig, nur falls eine Besondere vorliegt.

        • Möchte nachfragen:

          Einzig der Sport wäre selbstbestimmt durchführbar.
          Stressreduktion? Gibt es da was von Ratiopharm – weil es scheinbar (gesundheitliche) Lebenslagen gibt, in der der Stress per Trockenübungen nicht abbaubar sei.

          Wie ist das gemeint? Könnte ich nicht auch selbstbestimmt Stressreduktion lernen? Oder umgekehrt brauche ich beim Sport ja u.U. auch eine gewissen Anleitung. Wieso ist Stress nicht per “Trockenübung” abbaubar? (Mich interessiert sehr, wie das gesehen wird — auch von anderen, die hier vllt. mitlesen, es sind keine rhetorischen Fragen.)

          • Aus eigner Erfahrung kann ich sagen, dass Stress durchaus mit Übungen reduzierbar ist. Ich habe in einer Schmerztherapie verschiedene Verfahren kennen lernen dürfen die für mich unterschiedlich gut funktionieren:
            – Körperwahrnehmung (Achtsamkeitstraining)
            – Muskelentspannung nach Jacobsen
            – Gedankenreisen
            Für mich kann ich sagen das ein regelmäßiges Anwenden von streßreduzierenden Verfahren den Grundsrtreßlevel gesenkt hat.
            In Situationen in denen ich merke, dass ich akut Stress habe, nehme ich mir ganz bewußt trotzt der Zeitnot ein paar Minuten und mache eine kurze Übung und in den meisten Fällen hilft es zumindest ein bisschen.

            Ich sehe hier eine Analogie zum Sport gegeben, wer nie angeleitet wurde Sport zu machen hat damit meist Probleme und braucht anfangs Hilfe ebenso ist es bei der Stressreduktion. Wenn die Verfahren eingeübt wurden und die Person weiß welches Verfahren für Sie geeignet ist, kann diese die Übungen auch eigenständig weiterführen.

            Allerdings fühlte sich das ganze am Anfang für mich schon recht seltsam an, und ich hatte einen Widerwillen mitzumachen ohne genau zu wissen warum.

  2. Ich meine, das Stress etwas ist, das mir passiert. Ich kann mir vorstellen das es erlernbar ist, die eine oder andere Situation lockerer anzugehen, aber das Leben ist kein Ponyhof und irgendwas ist immer.

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