Diese Woche: Farbenblind und hyperaktiv bei Migräne

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Der Streifzug durchs Netz beschäftigt sich mit Farbenfehlsichtigkeit und Hyperaktivität bei Migräne, einigen kardiovaskulären Aspekten der Migräne und ob Computer Migräne diagnostizieren können.

Hängt Migräne bei Männern mit Farbenfehlsichtigkeit zusammen? Dieser Frage ging eine Studie nach [1] und kommt zumindest zu dem Schluss, dass beides häufiger als durch Zufall erklärbar zusammen auftritt. Warum weiß man noch nicht. Einen kleinen Ausflug kann ich gleichwohl liefern, um wenigstens den Kontext dieser aktuellen Publikation herzustellen. Wahrscheinlich denken einige, die sich intensiv mit Migräne und anderen Fehlfunktionen des Gehirns beschäftigen, wie ich auch an das Buch von Oliver Sacks: „Insel der Farbenblinden“.

Sacks beschreibt in dem Buch seine Reise nach Pingelap, ein kleines westpazifisches Atoll, zugehörig zum Inselstaat Mikronesien.1  Rund 10% von Pingelaps Bevölkerung ist farbenblind, ebenso wie Sacks Reisebegleiter, der Psychologe Knut Nordby, von dem Sacks wiederum berichtet, er würde an Miräneattacken leiden. Sacks fragte sich, ob Nordby (und andere Farbenblinde) Farbe doch sehen können, nämlich während der Migräneattacke. Er hinterfragt offensichtlich folgenden Mechanismus: Was wenn während einer Migräneaura Gehirnzellen der Großhirnrinde von der Migränewelle (Spreading Depression) aktiviert werden, die bei normalen Menschen für das Farbsehen zuständig sind? Ist dann die Halluzination in Farbe?

Es ist umgekehrt zumindest die Fallgeschichte einer 49-jährigen Frau in der Fachliteratur bekannt, bei der die Migränewelle selektiv die Farbwahrnehmung ausgeschaltet hat [1]. Die Frau ist während der Migräneaura farbenblind. Die Farbenblindheit, von der hier die Rede ist, darf man nun aber nicht mit der Farbenfehlsichtigkeit (Rot-Grün-Sehschwäche) verwechseln, von der bei der aktuellen Publikation die Rede war [1]. Farbenfehlsichtigkeit wird allerdings umgangssprachlich oft auch als Farbenblindheit bezeichnet und beides führt zumindest zu ähnlichen Fragestellungen über das Gehirn und Migräne.

Diese Studie wurde am 18. September veröffentlicht [1]. Es ist also eigentlich ein Nachtrag aus der Woche, als der Streifzug durch die Fachliteratur ausfiel. Und es gibt noch einen Nachtrag aus dieser Woche, vom 16. September. Er betrifft eine Veröffentlichung über sympathische Hyperaktivität  bei Migräne. Migräne wird demnach als eine stressbedingte Erkrankung betrachtet [3]. Um dies zu beleuchten, untersuchen die Forscher den Einfluss rhythmischer Atmung im 10 Sekunden Takt sowie den eines Stresstests bei dem Migräniker Kopfrechenaufgaben lösen mussten (subtrahieren einer immer gleichen zweistelligen Zahl von einer variablen vierstelligen Zahl). Gemessen wurden dabei kardiovaskuläre Merkmale, nämlich die Variabilität der Herzfrequenz und die Hautleitfähigkeit. Es gab allerdings keine signifikanten Unterschiede zwischen den Migräneerkranken und Kontrollen hinsichtlich der gemessenen Parametern. Trotzdem – oder erst recht – ein Grund für mich nochmal genauer zu fragen: Erklärt Hyperaktivität Migräne?

Zur letzten Woche. Eine Veröffentlichung befasst sich mit dem Zusammenhang der Migräne mit Schlaganfall [4], was wieder die kardiovaskulären Aspekte (s. oben) der Migräne hervorhebt. Ebenso befasst sich eine weitere Arbeit mit den Blutgefäßen. Es geht um die klinisch äußerst relevanten Frage, wie bei Patienten, die unter Migräne mit Aura leiden, die Migränewelle – die schon oben erwähnte Spreading Depression, eine massive Übererregungswelle in der Hirnrinde – konkret ausgelöst wird. Vorgeschlagen wird, dass der Verschluss sehr kleiner Blutgefäße die Spreading Depression auslöst, sog. Mikroembolien [5], was wieder zu dem Thema Schlaganfall anschließt. Hans Christoph Diener, prominenter deutscher Migräneforscher, relativiert diese Ergebnisse bis hin zur deren Bedeutungslosigkeit [6]. So sicher bin ich mir da nicht.

Abschließend ein Verweis auf eine neue Publikation [7], die zeigt, wie ein PC mit Windows XP primäre Kopfschmerzen auseinander hält. Das brachte mich auf die Frage: Arzt oder Computer – Wer macht eigentlich die bessere Diagnose? (Der Beitrag kommt erst im Laufe der Woche.)

 

Fußnote

1 Einige Tausend Kilometer durch den Pazifik weiter östlich liegen übrigens die Pitcairninseln, deren (seit 1856 übersiedelten) Einwohner überwiegend Nachfahren der Meuterer der Bounty und ihrer polynesischen Frauen waren und die ebenso eine spannende Migränegeschichte aufweisen.

 

 

Literatur

[1] Berger A, Findler M, Korach T, Yativ OF, Gronovich Y, Hassidim A. Is Male Migraine Associated With Color Vision Deficiency? Findings Among Israeli Adolescents Between 2007 and 2013. J Child Neurol. 2015 Sep 18. pii: 0883073815604226. [Epub ahead of print]

[2] Lawden, M. C., & Cleland, P. G. (1993). Achromatopsia in the aura of migraine. Journal of Neurology, Neurosurgery & Psychiatry, 56(6), 708-709.

[3] Rauschel, V., Straube, A., Süß, F., & Ruscheweyh, R. (2015). Responsiveness of the autonomic nervous system during paced breathing and mental stress in migraine patients. The Journal of Headache and Pain, 16(1), 82. (open access)

[4] Tietjen GE, Rundek T. Migraine and cryptogenic stroke: The clot thickens. Neurology. 2015 Sep 30. pii: 10.1212/WNL.0000000000002070. [Epub ahead of print]

[5] Petrusic I, Podgorac A, Zidverc-Trajkovic J, Radojicic A, Jovanovic Z, Sternic N. Do interictal microembolic signals play a role in higher cortical dysfunction during migraine aura? Cephalalgia. 2015 Sep 29. pii: 0333102415607191. [Link]

[6] Diener HC. What triggers migraine aura? Cephalalgia. 2015 Sep 28. pii: 0333102415607177. [Epub ahead of print]

[7] Wu, Y., Duan, H., & Du, S. (2015). Multiple fuzzy c-means clustering algorithm in medical diagnosis. Technology and Health Care, 23(s2). Link 

 

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

1 Kommentar

  1. Gäbe es Migräniker, bei denen eine vegetative oder andere Form “globaler” Hyper- oder Hypoaktivität mit den Migräneanfällen korreliert wäre, dann ergäbe sich daraus möglicherweise ein Therapieansatz um bei diesen Migränikern die Anfallshäufigkeit zu reduzieren oder/und um anhand von Messwerten das Risiko für einen baldigen Anfall zu bestimmen. Deshalb scheint mir die Studie [3] (Responsiveness of the autonomic nervous system during paced breathing and mental stress in migraine patients., die ja nach einer Art “Biomarker” bei Migränikern sucht, durchaus sinnvoll. Die Studie wurde nicht fündig. Zudem sollte man wohl den ersten Halbsatz des Abstracts, nämlich “Migraine is a stress-related disorder,..” in dieser Form in Frage stellen, denn dieser Halbsatz ist eine Feststellung und solch eine Feststellung wäre nur korrekt, wenn sie sich auf ein allgemein akzeptierten Faktum bezöge.
    Die Studie schliesst aber nicht aus, dass es eine Subgruppe von Migränikern gibt, bei denen es den gesuchten Zusammenhang gibt. Womöglich ist die Migräne ein Krankheitssympton bei einer ganzen Familie von pathologischen Veränderungen unerschiedlicher Ätiologie.Verschiedene Subgruppen müssten dann eventuell unterschiedlich behandelt werden.

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