Das Versklavungsprinzip

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Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Buchbesprechung

Ein Schelm, wer bei dem Titel an eine Fortsetzung meines letzten Blogpots über Karrieremodelle in der Wissenschaft denkt. Heute geht es um das Buch "Die Erforschung des Chaos" von den Autoren John Argyris, Gunter Faust, Maria Haase, und Rudolf Friedrich.

Um es gleich vorweg zu sagen, dies ist Fachliteratur.  Doch ist das Buch als  "Eine Einführung in die Theorie nichtlinearer Systeme" (so der Untertitel) von fachübergreifenden Interesse.

Weder der Begriff Chaos noch nichtlineares System vermag sofort zu erklären, wovon dieses Buch handelt. Besser geeignet ist in meinen Augen der Begriff dynamisches System. Dynamik meint zeitlich veränderliche Größen, sei es der Börsenkurs, der Herzschlag oder die Erderwärmung, nur um drei Beispiele zu nennen. Wer wissen möchte, wie sich komplexe Systeme mit der Zeit verändern können, sollte dieses Buch lesen. Wobei ich dies einschränken möchte auf Studenten ab dem 2. Studienabschnitt bis hin zu in der Forschung aktive Wissenschaftler.

Die mathematischen Grundlagen von sich zeitlich verändernden Systemen (Börse, Herz, Erde, …) werden in diesem sehr detaillierten Lehrbuch vom Grund auf beschrieben. Dass völlig unterschiedliche Systeme, die auch noch sehr komplex sind, sich oft nur entlang weniger Freiheitsgrade ändern können und damit deren Dynamik eine überschaubar kleine Menge an gemeinsamen Grundmustern zeigen, erklärt das Versklavungsprinzip, aber dazu erst am Ende mehr.

Das Buch wurde zuerst 1994 von der Vieweg Verlagsgesellschaft herausgegeben. Nun erscheint es in überarbeiteter und aktualisierter Neuauflage bei Springer. Leider ist der Titel geblieben, der dem Chaos-Hype der 1990er Jahre geschuldet ist. Damals hieß der Untertitel allerdings: Eine Einführung für Naturwissenschaftler und Ingenieure. Das ist zu eng gefasst. Denn auch Wirtschaftswissenschaftler werden in Kapitel 1 (Einführung) als Leser angesprochen "ohne dabei allzu große mathematische Vorkenntnisse vorauszusetzen", so das Versprechen. Aber auch Mediziner, Psychologen, Soziologen und eigentlich alle (werdenden) Wissenschaftler, die über sich zeitlich ändernde Systeme forschen (wollen), sind potentielle Leser.

Es stimmt zwar, mathematische Vorkenntnisse werden kaum vorausgesetzt, jedoch ohne Bereitschaft sich mit einigen Einsatz in die mathematische Formulierung dynamischer Systeme einzudenken, wird dieses Buch seinen Wert nicht entfalten können. (Man findet kaum Seiten ohne mathematische Formeln.)

Auf über 890 Seiten werden in zehn Kapiteln (s. Inhaltsverzeichnis) die wesentlichen Eigenschaften dynamischer Systeme beschrieben. Da ist genug Platz um zum Beispiel auf acht Seiten einen historischen Abriss über Kausalität – Determinismus (Kapitel 2.1) zu bieten. Außerdem werden auf fast 40 Seiten die Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitstheorie (Kapitel 3.9) eingeführt, oder auf mehr als 40 Seiten das Konzept der fraktalen Dimensionen erklärt (Kaptiel 5.5). So dass der Leser nicht nur weiß, wie sich die Länge der Küstenlinie von Großbritannien berechnen lässt, sondern auch, wie dies mit dem Langzeitverhalten dynamischer Systeme zusammenhängt. Vielleicht zu viele Details und Ausflüge. Aber diese ausführlichen Ausflüge in Themengebiete, die sonst nicht unbedingt in Lehrbüchern über Chaos und dynamische Systeme zu finden sind, machen das Buch auch zu einen Nachschlagewerk.

Das alles wurde mit zahlreichen Zeichnungen und 30 Farbtafeln gut illustriert und ist für 59,95 Euro für ein Lehrbuch sehr preiswert. 

Ein Schwerpunkt neben der Chaostheorie (Kapitel 8) ist die Turbulenzforschung (Kapitel 9). Mein Lieblingskapitel aber ist Kapitel 6 Lokale Bifurkationstheorie. Bifurkationen beschrieben qualitative Änderung des Verhaltens dynamischer Systeme. Man denke wieder an den Börsenkurs, den Herzschlag oder an die Erderwärmung, um die Relevanz von plötzlich auftretenden, qualitativen Änderungen sofort einzusehen.

Die Bifurkationstheorie — oder Verzweigungstheorie, im Buch wird Bifurkation und Verzweigung synonym verwandt, eine einheitliche Bezeichnung wäre vielleicht besser gewesen — ist für mich daher das Herzstück in jedem Buch über dynamische Systeme. Mit über 130 Seiten ist Kapitel 6 so auch das längste. Wichtiger aber noch, es ist sehr gut aufgebaut.

Mit einem Kapitel Motivation (6.1) beginnend, werden ad hoc die wichtigsten drei Bifurkationen erklärt: die Sattelknoten-Verzweigung (siehe meinen Inaugural-Blogpost), die transkritische Verzweigung und die Gabelverzweigung. Viele ähnliche Lehrbücher, wie das von Steven Strogatz [1], welches gerne von Studenten genutzt wird, enden hier. In Die Erforschung des Chaos wird darauf folgend dass notwenige Rüstzeug (Zentrumsmannigfaltigkeit, Kap. 6.2  und Normalenformen Kap. 6.3) sehr ausführlich erarbeitet, um dann diese drei Bifurkationen erneut, nun aber systematisch abzuhandeln (Normalenformen von Verzweigungen einparametriger Flüsse, Kap. 6.4).

Dies wird sonst nur in den englischsprachigen "yellow math"-Büchern von Springer in dieser Tiefe erklärt, also in den Klassikern von Stephen Wiggins [2],  Yuri A. Kuznetsov [3], John Guckenheimer und Philip Holmes [4] oder Jack Carr [5]. Diese sind übringens bis zum 31. Juli 2010 noch zu Yellow Sale-Sonderpreisen zu haben.

Kapitel 6 endet dann mit einem Exkurs in die Synergetik (Kapitel 6.8) und dessen Kernstück, dem Versklavungsprinzip. Dieses wird nur angerissen, aber der Zusammenhang mit den zuvor beschrieben Theorie der Zentrumsmannigfaltigkeit ist völlig ausreichend erklärt. Der Leser begreift warum die Beschreibung von komplexen Systemen, wie die Börse, das Herz, die Erde, u.v.m., aus so unterschiedlichen Gebieten wie Wirtschaftswissenschaften, Medizin, Geophysik, u.v.w., sich einer gemeinsamen Sprache bedienen kann, die der Bifurkationstheorie.

Kurzum: unbedingte Kaufempfehlung für alle, die tiefer als populärwissenschaftlich aber deutschsprachig in die Thematik einsteigen wollen. 

Verweise zur online Bestellung

Link zu Springer

"Die Erforschung des Chaos" im Science-Shop

Weiterführende Literatur 

[1] Steven Strogatz, Nonlinear Dynamics and Chaos: Applications to Physics, Biology, Chemistry, and Engineering: With Applications to Physics, Biology, Chemistry and Engineering (Verlag: Westview Press) 2000

[2] Stephen Wiggins, Introduction to Applied Nonlinear Dynamical Systems and Chaos (Verlag: Springer) 2003

[3] Yuri A. Kuznetsov, Elements of Applied Bifurcation Theory (Verlag: Springer) 2010

[4] John Guckenheimer and Philip Holmes, Nonlinear Oscillation, Dynamical Systems and Bifurcations of Vector Fields (Verlag: Springer) 2002

[5] Jack Carr, Applications of Centre Manifold Theory (Verlag: Springer) 1981

Inhaltsverzeichnis 

1. Einführung.

2. Hintergrund und Motivation.

3. Mathematische Einführung in dynamische Systeme.

4. Dynamische Systeme ohne Dissipation.

5. Dynamische Systeme mit Dissipation.

6. Lokale Bifurkationstheorie.

7. Konvektionsströmungen: Bérnard-Problem.

8. Wege zum Chaos.

9. Turbulenz.

10. Computerexperimente.

 

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

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