Botox-Test vor operativen Eingriff selektiert Placebogruppe

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Fallstricke und Chancen der Placebo-Ansprechrate bei Migräne – Zwei aktuelle Publikationen.

Migräne kann in einer episodischen und einer chronischen Form verlaufen. Es gibt Behandlungsmethoden, die nur in der chronischen Form einen von Placebo unterscheidbaren Effekt aufweisen. Botox® (Botulinumtoxin), zum Beispiel, wirkt nur bei chronischer Migräne. Eine Wirkung von Botox über den Placebo-Effekt hinaus konnte bei der häufigeren episodischen Verlaufsform von Migräne nicht nachgewiesen werden.

Um nun die Erfolgswahrscheinlichkeit einer alternativen, chirurgische Behandlungsform (“migraine trigger site deactivation surgery (MTSDS)”) abzuschätzen, wird der Botox-Test durchgeführt. Er soll die Operation simulieren, da man wahrscheinlich annimmt, dass die Wirkung des chirurgischen Eingriffs der des Wirkstoffs Botulinumtoxin ähnlich ist. Nur wenn der Botox-Test eine Wirkung zeigt, wird eine Operation durchgeführt. Sollte nun die chirurgische Behandlung bei der episodischen Migräne durchgeführt werden, inklusive dem Auswahlverfahren über einen Botox-Test, wie hoch sind die Erfolgschancen?

Diese Frage wurde letztes Jahr auf dem Internationalen Kopfschmerzkongress in Boston diskutiert. Eine Zusammenfassung auf englisch ist in der Zeitschrift Headache erschienen: “A Critical Evaluation of Migraine Trigger Site Deactivation Surgery (elektronische Vorveröffentlichung)”. Selbst Erfolgsquoten von nahezu 80% wurden dem Placebo-Effekt zugeschrieben, denn der Botox-Test vor dem operativen Eingriff selektiert die Placebogruppe! Das allein war nicht der einzige Mangel. Detailliert wurde aufgelistet, in welcher Weise Studien zu der chirurgische Behandlungsform MTSDS bisher nicht richtig ausgelegt worden sind und inwiefern sie zum Teil weitere, erhebliche Mängel aufweisen. Auch wenn deswegen nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein chirurgischer Eingriff in einer Untergruppe der Migräne-Patienten Wirkung zeigt, fehlen zu diesem Zeitpunkt solide Daten, so dass ein solcher Eingriff außerhalb von klinischen Studien, die erst diesen Nachweis erst erbringen müssten, nicht empfohlen wird.

Placebo ist ein wichtiges Thema, wenn es um Migräne geht. Wir haben gerade erst im Rahmen des vorletzten Beitrages über Therapie mit Hilfe von externer Stimulation des Gehirns mit elektrischen und magnetischen Feldern (Neuromodulation) dies kurz diskutiert, leider zum Teil auch auf Facebook, was deswegen kaum jemand hier mitbekam. Auch bei der sogenannten Neuromodulation sind Studien mit einer Placebokontrolle mit methodischen Schwierigkeiten verbunden.

Heute bekam ich von Michael Horak (@fatmike182) den Hinweis über Twitter auf eine neue Studie (“Altered Placebo and Drug Labeling Changes the Outcome of Episodic Migraine Attacks (Sci Transl Med)”), die gestern veröffentlich wurde und zeigt, dass Placebo selbst dann episodische Migräne lindert, wenn die Behandelten darüber aufgeklärt werden, dass sie keine echten Medikamente einnehmen. Dazu vielleicht später nochmal mehr, bisher habe ich selber nur das Abstrakt gelesen.

Grundsätzlich will ich an dieser Stelle nochmal darauf hinweisen, dass ich kein Mediziner bin. Die Information in diesem Blog ist quasi ein Nebenprodukt meiner Forschung und hoffentlich so angelegt, dass sie auch die Beziehung zwischen Arzt und dem Leser (als Patient) unterstützen kann aber natürlich keinesfalls ersetzt. Sollten Sie Rat zu spezifischen Behandlungsmethoden suchen, geht kein Weg an einer ärztlichen Beratung vorbei.

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

7 Kommentare

  1. Lieber Herr Dahlem,

    wie schön, dass Sie dieses Thema aufgreifen! Die Corrugator-OP wird von jedem seriösen Neurologen abgelehnt. Dieser sog. Botox-Test besagt höchstens, dass dieser Patient eine eventuelle Wirkung auf Botox (!) zeigt. Er hat absolut nichts damit zu tun, dass man in Folge dann den Corrugator (M. corrugator supercilii) entfernt und sich Besserung für die Migräne erhofft. Was hat dieser arme Muskel zwischen den Augenbrauen mit Triggern wie Hormonen, Wetteränderungen, unregelmäßigem Tagesablauf, fehlenden Pausen im Alltag, emotionalen Befindlichkeiten, Blutzuckerabfall während langer Pausen von Nahrungsaufnahme, Schlafmangel usw. zu tun?

    Nichts! Patienten werden übelst abgezockt und wenn dann der Placebo-Effekt auch nicht mehr zum Tragen kommt, kann man folgendes Fazit ziehen: Außer Spesen nix gewesen und man ist um eine weitere Hoffnung betrogen.

    Der von Ihnen eingestellte Link zur “wichtigen” Studie, dass Migräneanfälle sogar therapiert werden können, wenn man dem Patienten schon im Vorhinein mitteilt, dass er kein wirksames Medikament erhält, soll uns nun irgendwie verklickern, dass eh alles Einbildung ist? 😉 Wird schon sehr emotional auf Facebook diskutiert.

    Ich werde gerne unsere kürzlich geführte Diskussion auf Facebook zur Neuromodulation hierher kopieren und wenn Sie dann auch Ihre Kommentare nach und nach reinkopieren, haben wir die Diskussion auch hier. 🙂

    • Die Studie wird in den Medien leider falsch dargestellt, das war fast zu erwarten und ist sehr sehr ärgerlich. So schreibt @DLF_Forschung auf Twitter (um jetzt nur ein kurzes Beispiel zu nennen) “Was bei #Migräne wirklich hilft? Erklären wir heute. Fazit: Nicht auf die #Pillen kommt’s an, sondern wie der #Arzt sie beschreibt. #Placebo”

      Das Fazit ist schlicht falsch. Richtig ist: Nicht nur auf den Wirkstoff in den Pillen kommt es an.

      Diese Studie ist dabei kaum spezifisch für Migräne, nur episodische Migräne erlaubt es, die Wirkung mit unterschiedlichen Bedingungen bei einer Person mehrmals zu testen, weil mehrer Anfälle aufeinander folgen. Allein deswegen wurde hier Migräne als Fallbeispiel genommen.

    • Übrigens: MTSDS umfasst vier verschiedenen chirurgischen Verfahren, die jeweils basierend auf den Kopfschmerztyp und Einsatz als präventive Behandlung durchgeführt werden.

      Vereinfacht aus der Publikation übersetzt (ohne Garantie, alles genau zu beschreiben, es gibt aber einen Eindruck, was etwas gemacht wird):

      (A) Für Patienten, deren Kopfschmerzen intranasal beginnen, wird durch den chirurgischen Eingriff die Nasenscheidewandverbiegung korrigiert und eine submuköse Resektion des Knochens der unteren Nasenmuschel durchgeführt.

      (B) Für Patienten, deren Kopfschmerzen frontal beginnen, wird am oberen Augenlid ein Einschnitt gemacht, um den Niederzieher der Augenbraue zu entfernen. Eine kleine Menge Fett aus dem oberen Augenlid wird auch verwendet, um den ausgeschnitten Bereich wieder zu füllen und die Nerven dort zu isolieren.

      (C) Für Patienten, deren Kopfschmerzen in der temporalen Region beginnen, werden zwei 1,5cm lange Einschnitte seitlich gemacht und eine Abzweigung des zweiten Asts des Nervus trigeminus reseziert. Biszu 3cm lange Segmente werden entfernt.

      (D) Für Patienten, deren Kopfschmerzen im Hinterkopf geginnen, wird ein 4 cm langer Mittellinienschnitt am Hinterhaupt gemacht, um ein 1 cm × 2,5 cm großen Teil des Musculus semispinalis zu entfernen. Der occipital Nerv wird dann mit Hilfe einer abgeschirmten subkutanschiedenen Klappe vom umliegenden Muskeln isoliert.

  2. Da stimme ich Ihnen zu! Schlimm an sich finde ich ja nun nicht mal die Studie selbst, da zu Placebo viel untersucht wird und der Effekt ja bewiesen ist. Was ich anprangere, ist dann der Sensationsjournalismus, der sich an einer winzigen Sache festhält, die er für einen “Bringer” hält und diesen dann als dominante Meldung herausbringt.

    Diese Überschrift alleine reicht schon aus, uns zu diskriminieren und die Migräne als eine eingebildete Krankheit herauszustellen.

  3. Ihr neuer Beitrag hatte sich jetzt vor meinen schon früher eingestellten gequetscht. 😉

    Ich muss gestehen, dass ich nur überflogen hatte zuvor und dachte, es ginge um die Corrugator-Sache. Was sich hier auftut, lässt mich nur noch den Kopf schütteln. An welchen Stellen des Körpers möchte man denn nicht auch noch versuchen, die böse Migräne rauszuschneiden? Das funktioniert nicht!

    Meine o. g. Argumentation ist für all diese anderen Verfahren auch gültig. Was wäre denn gewonnen durch die Entlastung/Entfernung einzelner in Verdacht geratener Nerven und Muskeln? Migräne entsteht doch nicht, weil ein einzelner Nerv oder Muskel gequetscht wird, sondern weil viele Faktoren/Trigger zusammenspielen, die dann eben die Überreizung des Nervensystems bedingen. Dies wiederum löst aufgrund des fehlenden Reizfilters die neurogene Entzündung aus.

    Ohne Verhaltensanpassung, nichtmedikamentöse und medikamentöse Prophylaxe und viel Mitarbeit durch den Patienten wird das nichts.

    Zu Ihrem Punkt A fällt mir nur ein, dass ein Schweizer Behandler die Foren spamt, um seine Methode an den armen Clustermann zu bekommen.

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