Megatsunami in der Lituya-Bucht

Inundationshöhe der Lituya-Bucht beim Megatsunami 1958, Quelle: George Pararas-Carayannis

Eine schmaler Schlauch von einem Fjord, 2-3 Kilometer breit und 15 Kilometer lang. Zum Meer hin durch einen Landvorsprung zu drei Vierteln abgeschlossen, der nur einen engen Kanal freilässt, in dem sich durch die Gezeiten gefährliche, schnelle Strömungen und Strudel bilden. Zu beiden Seiten von mehrere hundert Meter hohen, stellenweise fast senkrecht aufsteigenden Berghängen begrenzt. Am Ende münden in den Fjord zwei Gletscher aus verschiedenen Richtungen, sodass die Formation, von oben betrachtet, einem T ähnelt.

Luftaufnahme der Lituya-Bucht nach dem Megatsunami von 1958, Quelle: George Pararas-Carayannis, USGS

Das ist die Lituya-Bucht in Alaska (Google Maps). Keine zehn Pferde würden mich in einen solchen Ort kriegen, egal, wie beeindruckend die Szenerie ist. Man kommt nicht leicht hinein und noch schwerer wieder hinaus, mit dem Boot und erst recht zu Fuß. Wenn man den falschen Moment gewählt hat, in diese Falle zu gehen, kann man seine ungeteilte Aufmerksamkeit einem Naturschauspiel widmen, auf das die meisten von uns gut verzichten könnten (Ausnahme sind vielleicht Extremsurfer): einem Megatsunami.

Wenn von einem der zwei Gletscher am Fjord-Ende eine große Eismasse abrutscht, oder schlimmer noch, an einer der Steilwände ein massiver Erdrutsch abgeht und in das Wasser der Bucht fällt, dann kann das verdrängte Wasser nur in eine Richtung: in Form einer Riesenwelle den Fjord hinunter Richtung Meer. Durch den engen Durchbruch am oberen Ende hindurch, um die Cenotaph-Insel in der Fjordmitte herum, bis sie an der Landzunge in der Fjordmündung ankommt. Diese Landzunge versperrt der Welle den Weg. Sie wird aber, wenn die Welle groß genug ist, einfach überlaufen. Dabei bricht sich die Welle und ergießt sich als gewaltiger Sturzbach auf der anderen Seite ins offene Meer.

Das ist nicht nur ein theoretisches Szenario. Seit 1854 sind vier solche Ereignisse bekannt. Das mit Abstand gewaltigste war heute vor 55 Jahren, am 9. Juli 1958. Obwohl das Risiko bekannt gewesen sein musste (nur 22 Jahre zuvor, im Jahre 1936, entstand dort ein bis zu 150 Meter hoher Tsunami), wurde die Lituya-Bucht immer wieder, vor allem von Sportfischern, als geschützter Liegeplatz genutzt. Am Abend des  9. Juli 1958 lagen drei Boote mit insgesamt wahrscheinlich 6 Personen an Bord in der Bucht. Eines wurde über das Ufer hinaufgetragen und dann wieder in die Mitte der Bucht zurückgerissen. Es blieb aber schwimmfähig; die Insassen konnten damit später die Bucht unter eigener Kraft verlassen. Das zweite wurde über die Landzunge ins offene Meer gespült und dabei so schwer beschädigt, dass es sank; die zwei Menschen an Bord konnten sich aber in ein kleines Beiboot retten. Das dritte verschwand spurlos.

Nordwand des Gilbert-Inlet mit Narbe des Felsabganges, Quelle: USGS, 1960
Nordwand des Gilbert-Inlet mit Narbe des Felsabganges, Quelle: USGS, 1960

Das Ereignis wurde durch ein schweres Erdbeben in der Fairweather-Verwerfung ausgelöst. Das wahrscheinlichste Szenario ist wie folgt: Infolge des Bebens gingen an der Steilwand an der Ostseite des Gilbert-Inlets (wenn man sich die Form der Bucht als T vorstellt, ist dies der linke Querbalken) etwa 30 Millionen Kubikmeter Gestein aus bis zu 900 Metern Höhe ab und lösten den Tsunami aus. Dieser breitete sich in drei Richtungen aus:

  • Nach Norden zum Lituya-Gletscher, von dessen Mündung große Eismassen abgerissen wurden. Dadurch entleerte sich schlagartig ein See aus Schmelzwasser, der sich in einer Vertiefung auf der Gletscheroberfläche gebildet hatte. Dies vergrößerte noch das bewegte Wasservolumen des Tsunami.
  • Nach Süden in den Crillon-Inlet, wo sie auf die Mündung des North Crillon-Gletschers traf.
  • Nach Westen auf die gegenüberliegende Steilwand des Gilbert-Inlet, wo bis auf eine Höhe von mehr als 500 Metern über dem Wasserspiegel sämtliche Vegetation einfach abrasiert wurde. Die Welle muss also bis in diese Höhe noch eine gewaltige Kraft gehabt haben.

Danach lief der Tsunami die Bucht hinunter nach Westen. Die Angaben über die Wellenhöhe sind immer verwirrend und widersprüchlich, was daran liegt, dass sie überall unterschiedlich war. Die Wassertiefe in der Bucht nimmt in Meeresrichtung hin zu. In tiefem Wasser verteilt sich die Energie der Welle über eine größere Wassermenge, die sichtbare Wellenhöhe nimmt ab. Trifft die Welle aber auf seichteres Wasser, türmt sie sich schlagartig wieder auf. Deswegen wird sie an den Ufern der Bucht und beim Auftreffen auf die Cenotaph-Insel sehr viel höher gewesen sein als im tiefen Wasser in der Mitte.

Oft wird auch Wellenhöhe und Run-up verwechselt. Eine Welle kann viel höheres Gelände erreichen, als ihrer eigentlichen Höhe entspricht. Die Höhe des Run-up hängt von der Topologie ab – in einem flach ansteigenden, trichterförmig zulaufenden Tal kann sie sehr weit ins Land hinein gelangen. Im Nachhinein kann das Run-up anhand der hinterlassenen Verwüstung abgeschätzt werden. Auf der Cenotaph-Insel wurde die Vegetation bis zu einer Höhe von mehr als 100 Metern entfernt. An der Steilwand südwestlich vom Gilbert-Inlet reichte die Zone der Verwüstung sogar bis auf mehr als 200 Meter.

Inundationshöhe der Lituya-Bucht beim Megatsunami 1958, Quelle: George Pararas-Carayannis
Inundationshöhe der Lituya-Bucht beim Megatsunami 1958, Quelle: George Pararas-Carayannis

Die Überlebenden hatten ungeheures Glück. Sie hatten es ja nicht nur mit einer einzigen Riesenwelle zu tun, was schon schlimm genug gewesen wäre. Vielmehr war die gesamte Wasserfläche der Bucht in Aufruhr. Wenn man etwas ins Wasser wirft, erzeugt dies nie nur eine Welle, sondern immer eine ganze Kette. Durch Reflexion an den Ufern entstand eine sehr komplexe Überlagerung, die erst nach und nach abebbte. Die Wasseroberfläche war zudem auch noch bedeckt von Eisbrocken von den zerschmetterten Gletschermündungen und von entwurzelten Bäumen aller Größe, die ohne weiteres ein Boot zermalmen konnten.

Dies war eine Katastrophe mit Ansage. Die Topologie der Bucht, die auch noch in einer seismisch sehr aktiven Zone direkt über einer Verwerfung liegt, führt zwangsläufig zu einem hochbrisanten Szenario. Hier kann ohne Vorwarnung jederzeit wieder so etwas passieren. Zusätzlich zu den bekannten vier Ereignissen seit Beginn des 19 Jahrhunderts muss es bis in prähistorische Zeiten zurück immer wieder Megatsunamis in de Lituya-Bucht gegeben haben. Bereits der Reisebericht des französischen Entdeckers Jean-François de Galaup aus dem Jahr 1786 erwähnt die Beobachtung, dass der Baumbewuchs entlang des gesamten Ufers der Bucht bis zu einer gewissen Höhe wie mit dem Rasiermesser abgeschnitten erscheint – klare Anzeichen für die zerstörerische Wirkung früherer Tsunamis. Die geologische Untersuchung der Felswände auf Spuren alter Hangabrutschungen, aber auch die Überlieferungen der Ureinwohner dürften wichtige Hinweise liefern.

Simulation der (überhöht dargestellten) Wellenhöhe infolge des Hangabrutsches am Nordufer des Gilbert-Inlet am 9. Juli 1958, erstellt durch Simon Day und Steven Ward

Weitere Information

George Pararas-Carayannis: The Mega-Tsunami of July 9, 1958 in Lituya bay, Alaska – Analysis of Mechanism, 1999. Interessante wissenschaftliche Analyse des Ereignisses aus Sicht eines Seismologen mit sehr gutem Bild- und Kartenmaterial.

Lituya Bay Close-Up, kurzer Artikel von der Tsunami Working Group der University of Southern California

Sammlung von Post-Tsunami-Bildmaterial (1936 und 1958), QUelle: USGS

geology.com: World’s Biggest Tsunami

S. Day, S. Ward: The 1958 Lituya Bay Landslide and Tsunami – A Tsunami Ball Approach, Journal of Earthquake and Tsunami, Vol. 4, No. 4 (2010= 285-319, DOI: 10.1142/S1793431 110000893 (PDF)

P. Fradkin: Wildest Alaska. Journeys of Great Peril in Lituya Bay (bei Google Books). Etwas blumig und nicht immer glaubwürdig, aber dennoch mit interessanten Details.

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Ich bin Luft- und Raumfahrtingenieur und arbeite bei einer Raumfahrtagentur als Missionsanalytiker. Alle in meinen Artikeln geäußerten Meinungen sind aber meine eigenen und geben nicht notwendigerweise die Sichtweise meines Arbeitgebers wieder.

4 Kommentare

  1. „Katastrophe mit Ansage“

    Was in Alaska auf natürliche Weise entstanden ist, hat man in Norditalien in den 1950er Jahren nachgebaut, natürlich ohne die Absicht, einen Tsunami auszulösen. Den gab es aber dann doch im Jahr 1963, als ein Berghang in den Vajont-Stausee rutschte.

    Der Aufprall setzte eine Energie frei, die jener von drei Hiroshima-Atombomben vergleichbar ist. 25 Millionen Tonnen Wasser schwappten über den Staudamm, eine 160 Meter hohe Flutwelle vernichtete fünf Dörfer im Tal. Fast 2000 Menschen starben.

    So hat es Axel Bojanowski auf Süddeutsche.de formuliert (19. Mai 2010, http://www.sueddeutsche.de/…en-see-fiel-1.908218)

    Danke für den interessanten Beitrag.

  2. @Balanus: Vajont-Unglück

    Es ist ein interessanter Zufall, dass auch Sie das Vajont-Unglück ansprechen. Dieses kam auch mir gleich im Zusammenhang mit dem Lituya-Megatsunami in den Sinn. Da sich dieses Unglück diesen Herbst zum 50sten Male jährt, habe ich mir bereits vorgenommen, etwas darüber zu schreiben. Die Öffentlichkeit gibt sich gern der Illusion hin, erneuerbare Energien seien per se harmlos. Das Vajont-Unglück führt uns vor Augen, dass dies ein Trugschluss ist.

    Was das Vajont-Unglück (oder eigentlich jedes Staudammunglück) mit den Lituya-Ereignissen gemeinsam hat, ist die Schnelligkeit, mit der eine friedliche Szenerie sich in ein unvorstellbares Inferno verwandelt. Das ist natürlich beängstigend, aber auch faszinierend. Man stellt sich das immer wieder vor.

  3. Vajont-Unglück

    Das Vajont-Unglück wurde vor kurzem auf Servus-TV erwähnt. Diese Katastrophe war mir vorher überhaupt nicht präsent. 1963 war das Jahr, in dem Kennedy ermordet wurde, an diese Todes-Nachricht kann ich mich noch erinnern. Aber nicht an eine Nachricht über 2000 Tote in Norditalien…

  4. @Balanus: öff. Wahrnehmung

    Ich kann mich erinnern, wann ich das erste Mal vom Lituya-Tsunami las. Das muss Mitte der Siebziger gewesen sein, und zwar in einem Band der damals ziemlich beliebten Reihe “Readers Digest Jugendbücher”, den ich am Tag zuvor auf dem Flohmarkt erstanden hatte. Der Artikel stützte sich vorwiegend auf die Augenzeugenberichte der vier Überlebenden.

    Die Überschrift war so reißerisch, dass ich mich fast 40 Jahre später immer noch daran erinnere: “Eine 500 Meter hohe Welle kommt auf uns zu”. Das ist natürlich nicht wahr, wie oben zu sehen ist. Selbst das Run-up der Welle ist in Nähe der Landzunge so zwischen 10 und 30 Meter hoch, in der Mitte der Bucht, also in tiefem Wasser, muss die Wellenhöhe nochmals deutlich geringer gewesen sein. 500 Meter Run-Up erreichte die Welle, wie gesagt, nur an der gegenüberliegenden Wand des Crillon Inlet.

    Das Wort Tsunami war damals im Westen nur in Fachkreisen bekannt. Ich las diesen Bericht keine 20 Jahre nach dem Ereignis und das Buch war aus den 60ern, also nur knapp 10 Jahren nach dem Ereignis. Da hätte so etwas eigentlich noch präsenter im öffentlichen Gedächtnis sein müssen. Ich hatte davon aber weder zuvor noch hinterher gehört. Nicht einmal im Zusammenhang mit dem Weihnachtstsunami 2004, als doch eigentlich überall Tsunami-Geschichten hervorgekramt wurden.

    Es ist klar, warum Ihnen die Ermordung Kennedys im Gedächtnis haften blieb: Anfang der 60er war ein dritter Weltkrieg etwas, worum sich jeder konkret Sorgen machte. Ich habe von vielen Leuten gehört, dass sie 1963 fürchteten, nach der Ermordung Kennedys sei es so weit. Entsprechend hoch wird das Thema aufgehängt gewesen sein.

    Warum nun das Vajont-Unglück so wenig bekannt ist – und es ist in der Tat kaum bekannt – erschließt sich mir nicht. Immerhin ist es eins der gravierendsten Staudammunglücke der Geschichte, sicher das schwerwiegendste in Europa.

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