ExoMars: Woran man alles denken muss …

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Raumfahrt aus der Froschperspektive
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“Sh*t happens!” – so bringen es die Amerikaner mit ihrem unvergleichlichen Talent für prägnante Formulierungen auf den Punkt. Der Spruch trifft immer zu, also auch in der Raumfahrt. Ganz besonders in der Raumfahrt, und damit auch bei ExoMars 2016. Alle, die mit der Missionsplanung zu tun haben, müssen deswegen einen “Plan B” für alle möglichen Eventualitäten aufstellen, wobei sie inständig hoffen, dass der betreffende Fall nie eintritt, dass der Plan B nie gebraucht wird und dass deswegen ihre Arbeit für die Katz’ ist.

Die Fehlerfälle sind von Mission zu Mission unterschiedlich, weil die Raumsonden jeweils ganz unterschiedlich sind. Deswegen ist auch der jeweilige “Plan B”, den man für jeden der vorher identifizierten Fehlerfälle aufstellt, meist eine maßgeschneiderte Neuanfertigung, die man nicht einfach so von einer anderen Mission übernehmen kann.

ExoMars 2016

Die europäisch-russische Mission ExoMars 2016 umfasst zwei Raumfahrzeuge, die als Komposit zum Mars fliegen und sich erst drei Tage vor der Ankunft trennen:

  • Der Landedemonstrator Schiaparelli wird in die Mars-Atmosphäre eintreten und in der Tiefebene Meridiani Planum landen. Seine Aufgabe ist es, zu zeigen, dass die europäische Industrie es hinkriegt, eine Landesonde zu bauen, die erfolgreich auf dem Mars landen kann
  • Der Orbiter TGO, objektiv gesehen der weitaus wichtigere Teil der Mission, wird in eine Bahn um den Mars eingeschossen und im Verlauf des nächsten Jahres per Aerobraking (atmosphärische Abbremsung) auf eine niedrige Bahn manövriert, um von dort aus eine Untersuchung der zeitlichen und räumlichen Verteilung von Spurengasen in der Atmosphäre nebst ausführlicher wissenschaftlicher Untersuchung der Oberfläche vorzunehmen. Zudem wird der TGO als Relais für zukünftige Landemissionen fungieren.

Ein möglicher Fehlerfall

Am 16. Oktober 2016, drei Tage vor der Ankunft, werden nach einer wochenlangen, intensiven Navigationskampagne an Bord von ExoMars 2016 Kommandos zum Zünden von Sprengbolzen ausgeführt werden. Diese Bolzen halten Schiaparelli und den TGO gegen die Kraft eines Federmechanismus zusammen.

Das ExoMars-2016-Komposit aus TGO und Schiaparelli in der Konfiguration beim Transfer, Quelle: ESA/ATG medialab
Das ExoMars-2016-Komposit aus TGO und Schiaparelli in der Konfiguration beim Transfer, Quelle: ESA/ATG medialab

Wenn die Bolzen gesprengt werden, drücken die Federn Schiaparelli sanft durch wendelförmige Führungsschienen vom TGO weg und versetzen ihn dadurch in Drehung, um sicher zu stellen, dass die inertiale Lage von Schiaparelli bis zum atmosphärischen Eintritt beibehalten wird.

Schiaparelli wiegt fast 600 Kilogramm. Angenommen, die Kommandos zum Auslösen der Sprengbolzen werden vorbereitet, gesendet, empfangen und ausgeführt … aber es passiert trotzdem nichts. Unwahrscheinlich, aber durchaus nicht ausgeschlossen.

Dann hat man ein Problem. Nicht nur gibt es dann keine Landedemonstrationsmission, sondern es hängen auch noch fast 600 kg zusätzlicher toter Masse am TGO. Der TGO hätte damit vor dem MOI eine Masse von knapp 3.8 statt 3.2 Tonnen, also 19% mehr. Das bedeutet aber 20% mehr an Treibstoffverbrauch für alle folgenden Manöver, sodass am Ende 300 kg mehr an Treibstoff gebraucht werden würde. Die Manöver, die nach dem Absetzen von Schiaparelli folgen, sind:

  • ORM: Orbiter Retargeting Manoeuvre, etwa 12 Stunden nach der Trennung von Schiaparelli: Delta-v 15 m/s
  • MOI: Mars Orbit Insertion am 19.10.2016, mehr als 1550 m/s. Wenn Schiaparelli noch mit dran hängt, ergeben sich höhere Gravitationsverluste. Das Delta-v steigt dadurch auf mehr als 1600 m/s,
  • ICM: Inclination Change Manoeuvre im Januar 2017 – fast 200 m/s, die aber vielleicht entfallen können, wenn man das ORM so verändert, dass der Einschuss gleich in die hohe Inklination von 74 Grad erfolgt. Bei einer nominalen Mission ist es notwendig, zunächst in eine niedrige Inklination einzuschießen, damit der TGO während der Landung von Schiaparelli dessen Daten empfangen kann
  • ALM: Apoares Lowering Manoeuvre, auch im Januar 2017: Dies verringert die Bahnperiode von vier Sols auf einen Sol (Sol=solarer Mars-Tag), indem es die Apozentrumshöhe von rund 96,000 km auf 33,000 km verringert.
  • Eine ganze Serie von Manövern während der Aerobraking-Phase, auf die ich zu gegebener Zeit noch detailliert eingehen werde.

Das mit Abstand größte Manöver ist MOI. Das ist auch das Manöver, an dem man nicht viel ändern ändern kann. ICM ließe sich vermeiden, wie beschrieben. ALM könnte man reduzieren, dann dauert halt Aerobraking länger. Aber MOI muss sein. Das würde mit dem zusätzlichen Klotz am Bein fast 300 kg mehr an Treibstoff kosten.

Problem: Wenn man alles zusammen kratzt, was in Nominalfall nach dem MOI noch an Treibstoff an Bord ist, inklusive der Treibstoffmenge , die zur Lageregelung gebraucht wird, und inklusive aller Notfallreserven, dann kommen weniger 400 kg zusammen. Man kann nicht einfach 300 kg davon für das MOI weg hauen, denn die darauf folgenden Manöver brauchen auch Treibstoff und sie sind auch missionskritisch. Sonst hat man vielleicht eine Raumsonde in einem Marsorbit. Aber das wäre ein hochexzentrisches Marsorbit. Ohne wissenschaftlichen Wert und obendrein noch instabil.

Der dazugehörige Plan B

Klarer Fall: Wenn das MOI das Problem ist, dann muss man das  MOI halt kleiner machen. Wenn das Ankunftsdatum am 19.10. bleibt, geht das nicht. Also muss man es verschieben. Das ist natürlich deswegen nicht so einfach, weil man ja erst drei Tage vor der Ankunft merken würde, dass Schiaparelli sich nicht abtrennen lässt. Da ist man aber nur eine knappe Million km vom Mars entfernt. Ein bisschen spät für eine große Umlenkung.

Das stimmt, aber zum Glück hat der Himmelsmechaniker immer noch die Geheimwaffe namens Swingby in der Trickkiste. Wenn sich die Ankunft am Mars nicht umgehen lässt, dann kann man diese Ankunft geschickt zielen und einfach das Einfangmanöver ausfallen lassen oder erheblich reduzieren, sodass aus dem Einfang eine gravitative Umlenkung wird.

Geschickt gezielt und ein wenig mit dem Triebwerk nachgeholfen verändert die Umlenkung die Bahn von ExoMars 2016 gerade so, dass das Raumsondengespann nach der Umlenkung in einer Bahn ist, die die gleiche große Halbachse und die gleiche Exzentrizität wie die Marsbahn hat, aber eine andere Neigung. Genau ein halbes Mars-Jahr nach dem Swingby würde ExoMars dann wieder auf den Mars treffen, dann aber nicht nahe am Perihel wie am 19.10.2016, sondern Ende September 2017, nahe am Aphel und mit deutlich geringerer Ankunftsgeschwindigkeit, wodurch sich auch das MOI kräftig verkleinert und es tatsächlich möglich wird, innerhalb des Treibstoffbudgets den Einfang, die Apozentrumsabsenkung und das Aerobraking durchzuführen. Die Inklinationsänderung entfällt, denn bei der Ankunft kann die Trajektorie ohne weitere Zusatzkosten so gelegt werden, dass sofort eine Neigung von 74 Grad relativ zum Marsäquator eingenommen wird.

Skizze des Zusatztransfers von Swingby am 19.10.2016 bis zum Einfang am 23.9.2017. Das ExoMars 2016-Gespann würde dabei deutlich aus der Bahnebene des Mars heraus gehoben werden. Der Einschuss findet nahme am Aphel der Marsbahn statt.
Credit: Michael Khan, ESA / Skizze des Zusatztransfers von Swingby am 19.10.2016 bis zum Einfang am 23.9.2017. Das ExoMars 2016-Gespann würde dabei deutlich aus der Bahnebene des Mars heraus gehoben werden. Der Einschuss findet nahme am Aphel der Marsbahn statt.

Bingo! Problem solved? Naja, noch nicht ganz … Aerobraking mit 600 kg zusätzlicher Masse entspricht auch nicht unbedingt jedermanns Vorstellung von Spaß. Die Mission, die man so zusammen bekommt, wird der Nominalmission nicht das Wasser reichen können. Allein schon wegen der 11 Monate Zusatztransfer zwischen Swingby und endgültigem Einfang.

Aber selbst eine Marsmission der Handelsklasse B ist allemal besser als gar keine, oder? Eben.

Aber trotzdem: Wenn ich es mir aussuchen kann, möchte ich die Realisierung dieses Notfallplans nicht erleben. Leider kann man sich sowas aber nicht aussuchen.

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Ich bin Luft- und Raumfahrtingenieur und arbeite bei einer Raumfahrtagentur als Missionsanalytiker. Alle in meinen Artikeln geäußerten Meinungen sind aber meine eigenen und geben nicht notwendigerweise die Sichtweise meines Arbeitgebers wieder.

5 Kommentare

  1. Plan “B” könnte auch ein Plan “A” sein selbst für den Fall wo die Abtrennung von Schiaparelli gelingt. Dann nämlich, wenn von vornherein der Treibstoff fehlt um eine direkte MOI durchzuführen. Das könnte sich ergeben, wenn die Nutzlast (hier das TGO) schwerer wird als ursprünglich geplant.
    Die Beschreibung von Plan “B” hat bei mir nämlich den Eindruck hinterlassen, dass ExoMars 2016 in jedem Fall ein SwingBy-Manöver durchführen könnte und es nur nicht tut, weil es nicht nötig ist.

    • Halt, vielleicht ist Plan “B” in jedem Fall ein Plan “B”, denn TGO muss ja auch die Funkdaten von Schiaparelli empfangen und weiterleiten. Allerdings könnte die Trennung von Schiaparelli + TGO erst nach dem SwingBy-Manöver stattfinden. Nur gäbe es dann keinen Plan “B” mehr, falls die Trennung misslingt.

      • Genau so ist es. Der Swingby erfordert einen Vorbeiflug sehr weit südlich, weil ja die Bahn nach Norder umgelenkt wird. Es wird gewissermaßen die überschüssige Relativgeschwindigkeit in der Inklination “geparkt”.

        Wenn Schiaparelli Richtung Äquator weiter fliegt, der TGO aber Richtung Südpol, dann könnte der TGO nicht die Funksignale von Schiaparelli während des Eintritts und der Landung empfangen.

        Eben deswegen wird ja der TGO auch zunächst in eine Bahn niedriger Inklination eingeschossen. Die Inklination wird im Januar auf 74 Grad erhöht.

  2. Sprengbolzen (Pyros) kommen in der Weltraumfahrt scheinbar sehr häufig zum Einsatz. Sie sind wohl auch sehr zuverlässig, andernfalls wären sie bei der Landung von Mars Curiosity kaum mehrfach verwendet worden. Dies zum obigen Abschnitt:

    Schiaparelli wiegt fast 600 Kilogramm. Angenommen, die Kommandos zum Auslösen der Sprengbolzen werden vorbereitet, gesendet, empfangen und ausgeführt … aber es passiert trotzdem nichts. Unwahrscheinlich, aber durchaus nicht ausgeschlossen.

    Dass die Sprengbolzen nicht funktionieren wird wohl zurecht als unwahrscheinlich beurteilt. Bei der Rückkehr der Soyuz-TMA11 von der ISS war ein Versagen von Sprengbolzen für den (nicht vorgesehenen) ballistischen Wiedereintritt verantwortlich:

    The principal reason for the unusual re-entry was failure of the service module to separate normally as a result of one of five pyro-bolts malfunctioning.[19] A similar anomaly occurred during the re-entry of Soyuz 5 in 1969.

    • Ja, die Wahrscheinlichkeit, das dieser Plan B gebraucht werden wird, ist zum Glück ausgesprochen gering.

      Einer der sich immer wieder aufs Neue bewahrheitenden Merksätze in der Raumfahrttechnik ist übrigens: “Hardware is more reliable that software”. Das bedeutet, dass es besser sein kann, das Risiko eines Versagens einer Hardwarekomponente zu akzeptieren, als zu versuchen, in der Onboard-Software alle möglichen Sicherungen einzubauen, um ein solches Versage abzufangen. Es kann dann wahrscheinlicher werden, dass sich fälschlich eine dieser Lösungen aktiviert und dadurch die Mission gefährdet, als dass die betreffende Hardwarekomponente ausfällt, deren Versagen man vorbeugen wollte.

      Die Soyuz-Wiedereintrittskapsel hat Eigenschaft, die der inhärenten Sicherheit zugute kommt: Sie richtet sich automatisch, einfach nur aufgrund ihrer massenverteilung und Formgebung mit dem Hitzeschild entgegen der Anströmung aus. Das hat schon einigen Insassen das Leben gerettet. Apollo beispielsweise hat dieses Feature nicht: bei der Kapsel gibt es zwei stabile Ausrichtungen, einmal mit dem Hitzeschild nach vorne, und die zweite mit der Spitze nach vorne.

      Ich würde lieber in einer Soyuz sitzen als in einem anderen System.

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