Envisat torkelt vorbei

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Raumfahrt aus der Froschperspektive
Go for Launch

Am 8. April 2012 erlitt der 8 Tonnen schwere ESA-Umweltsatellit Envisat vollkommen unerwartet einen Totalausfall. Die Ursache ist nicht bekannt, aber eins ist sicher. Das Ding ist ein Problem – wenn auch eins, das man lösen kann. Ein kaputter Satellit bleibt genau so in seinem Orbit wie ein funktionierender. Wenn seine Bahn niedrig genug ist, wird der Satellit langsam durch atmosphärische Reibung abgebremst.

Durch die Abbremsung senkt sich die Bahn ab, weil ihr Energie entzogen wird, Bei einer Bahnhöhe von knapp 800 km dauert das aber lange. Envisat hat inzwischen aber auch offensichtlich eine Taumelbewegung angenommen. Das hat mit der Bahn erst einmal gar nichts zu tun, sondern es betrifft nur die Ausrichtung im Raum. Bei der direkten Beobachtung, die in diesen Tagen allabendlich möglich ist, macht sich diese Taumelbewegung durch beträchtliche Helligkeitsschwankungen bemerkbar.

Es muss dabei gar keine starke Taumelbewegung geben. Es könnte auch eine normale, dann aber schnelle Rotation ausreichen, wobei die Helligkeitsvariation durch unterschiedliche Reflektionseigenschaften verstärkt wird. Ein Satellit ist ja kein glatter Körper, sondern es sind Aggregate und Instrumente aufmontiert und das Ganze ist zur Wärmeisolierung mit metallisierter Kunststofffolie überzogen.

Überflug von Envisat über Mühltal-Frankenhausen am 18.7.2014, 23:14-23:20 MESZ, Komposit aus 10 Einzelaufnahmen, Canon EOS 600D mit Sigma EX 10mm, ISO 800, f2.8, je 15 s
Credit: Michael Khan, Darmstadt / Überflug von Envisat über Mühltal-Frankenhausen am 18.7.2014, 23:14-23:20 MESZ, Komposit aus 10 Einzelaufnahmen, Canon EOS 600D mit Sigma EX 10mm, ISO 800, f2.8, je 15 s

Hier ist ein Komposit (größere Version hier) aus insgesamt zehn Aufnahmen, die am 18.7.2014 von 23:14 bis 23:20 mit einer Kamera mit Fisheye-Objektiv auf einem feststehenden Stativ erstellt wurden. Die Einzelbilder haben individuelle Belichtungsdauern von 15 Sekunden. Diejenigen Aufnahmen in der Sequenz, in denen der Satellit nicht zu sehen ist, weil seine Helligkeit zu gering ist, um sich vom noch nicht allzu dunklen Himmel abzuheben, wurden weggelassen. Ebenso wurden alle Aufnahmen nach 23:20 weggelassen, weil der Satellit sich da gegen den Westhimmel nicht mehr durchsetzen kann. Sie sehen wahrscheinlich im kleinen Bild im Text gar nichts und sollten sich gleich die vergrößerte Version anschauen.

Die Unterbrechungen kommen keineswegs durch das Zusammenschneiden zustande, sondern durch die Helligkeitsschwankungen. Envisat machte sich erstmals durch einen kleinen Flare links über Antares bemerkbar, verschwand dann wieder und flarete im Verlauf von sechs Minuten noch mehrfach, Zunächst sehr deuitlich links über Libra, dann weniger stark links und rechts vom Arktur und dann zunehmend schwächer, was an der Beobachtungsgeometrie liegt. Je stumpfer der Winkel zwischen den Blickrichtungen vom Satelliten zum Beobachter bzw. zur bereits untergegangenen Sonne ist, desto weniger Licht kann er zum Beobachter reflektieren.

Die Rotation, oder was auch immer zur kurzperiodischen Helligkeitsvariation führt, ist schon seit Langem zu beobachten. Dies ist das erste Mal, dass ich das auch fotografisch dokumentieren konnte. Allerdings sicher nicht das letzte Mal – ein Kollege hat bereits angekündigt, dass er ein Computermodell zur Simulation der Helligkeitsvariation dieses Satelliten bei Überflügen anhand von tatsächlichen Beobachtungsdaten eichen möchte und will deswegen mit mir eine Beobachtungskampagne durchführen.

Die nächsten Möglichkeiten werden wir am 24. und 27. Juli haben. Es ist gar nicht so einfach: Der Satellit muss hell genug sein, der Himmel muss dunkel genug und klar sein, und der Mond darf nicht aufgegangen sein. Mal sehen, was ‘rauskommt – vielleicht ist sogar ein Paper drin.

So habe ich’s gern – ich knipse und andere machen die lästige Rechenarbeit.

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Ich bin Luft- und Raumfahrtingenieur und arbeite bei einer Raumfahrtagentur als Missionsanalytiker. Alle in meinen Artikeln geäußerten Meinungen sind aber meine eigenen und geben nicht notwendigerweise die Sichtweise meines Arbeitgebers wieder.

9 Kommentare

  1. Interessante Aufnahmen. Aber ich muss gestehen, ich hab die Sat-Flares auf dem grossen Bild auch nicht gleich gefunden, sondern musste auch erstmal die Satellitenanzeige von Stellarium bemühen um mir die Bahn dort genauer ansehen, bevor ich sie dann auf dem Bild gefunden habe.
    Ansonsten wünsche ich Ihnen viel Erfolg bei den weiteren Aufnahmen und zum eichen des Rechenmodells. Vielleicht kriegen Sie dann ja raus, was der Satellit tatsächlich macht. Gibt es inzwischen eigentlich schon eine nicht- oder wenigspekulative Erklärung dafür, warum der Satellit ausgefallen ist? – Das ist doch so ein Fall, wo man am liebsten hinfliegen würde um nachzusehen, wenn ich mich nicht irre. – Oder, da es keine geeigneten Fähren dafür gibt, einen kleineren Satelliten zur Beobachtung hinschicken. Ausser einer Kamera braucht da ja nicht viel Ausrüstung drauf sein. Evtl. noch ein Infrarotscanner und ein LiDAR für weitere Untersuchungen. – Und es wäre eine Gelegenheit, Formationsflug auf Distanzen kleiner als ein Kilometer zu üben…

    • P.S. Die meisste Rechenarbeit macht doch eh der Computer. Die Kunst besteht doch darin, den Rechenalgorithmus aufzustellen.

  2. @Hans:

    Wenn sie das große Bild öffnen, ist der helle Flare links kaum zu übersehen. Von diesem Flare (ein heller Lichtpunkt und eine kleine Strichspur) ausgehend kommt man schnell zu weiteren, weniger hellen Flares entlang des Überflugs. Wenn man sich vor Augen führt, dass das Ganze innerhalb weniger Minuten stattfand, ist das schon beeindruckend. Aber selbst der Flare ist überhaupt nicht zu vergleichen mit der Helligkeit, die die ISS erreicht.

    Nur den einen hellen Flare habe ich mit bloßem Auge sehen können, aber ich habe immer schön weiter geknipst, in der Hoffnung, auf den Bildern mehr Lichtspuren zu sehen. So war es ja auch.

    Das Problem liegt nicht allein in der Erstellung des Algorithmus. Ich bin mir noch gar nicht sicher, dass es gelingen wird, ein Modell der Rotation zu finden, das die beobachteten Lichtspuren beschreibt. Vielleicht taumelt der Satellit ja gar nicht stark. Bekannt ist meines Wissens eine Rotation des gesamten Satellit mit beträchtlicher Drehrate. Das würde schon mal erklären, wie es zu dder Folge von Flares kam. Aber das muss nicht alles sein. Es könnte zudem auch noch sein, dass sich ein Stück der Isolationsfolie teilweise gelöst hat und ganz allein die Lichtreflexe verursacht. Sowas kriegt man ja mit einer Software nicht raus. Allenfalls könnte man nachweisen, dass dies ein plausibles Szenario unter mehreren ist. Was genau da oben vorgeht, weiß man deswegen noch lange nicht.

    • Nun, ich hab die anderen Erscheinungen dann ja auch gefunden, nachdem ich mir ein wenig Hilfestellung geholt hatte.

      Und um genau zu erfahren, was da oben los ist, müsste man wahrscheinlich einen weiteren Satelliten hinschicken um nachsehen zu können. Wie ich oben schon vermutet habe, wird der wahrscheinlich nur eine Kamera brauchen, oder auch 2, falls man Stereobilder haben will. Ob man weitere Instrumente (wie den oben vorgeschlagenen Infrarotscanner oder das LiDAR) braucht, kann ich nicht beurteilen, (das ist ja Teil Ihres Jobs 🙂 ).
      Nur wird dafür wahrscheinlich niemand Geld ausgeben wollen, obwohl man den Satellit von der Stange haben könnte und er auch nicht all zu schwer ausfallen dürfte.

    • Man kann auch mit einer Messkampagne mit bodengestütztem abbildenden Radar eine Menge feststellen. Einen Satelliten braucht man auch, um Envisat zum kontrollierten Absturz zu bringen. Wie der das zuverlässig bewerkstelligen soll, wenn der Koloss da oben wirklich eine schnelle Rotation vollführt, weiß ich allerdings auch nicht auf Anhieb.

      Man wird dafür Geld ausgeben müssen. Sonst stellt Envisat ein nicht kalkulierbares Risiko dar, das schlimmstenfalls einen lawinenartigen Zuwachs an Trümmerteilchen auslösen kann.

      Der Plan war eigentlich schon langem, Envisat aktiv herunterzubringen. Deswegen hatte man den Satelliten auf eine etwas niedrigere Bahn verbracht, aber noch genug Treibstoff übrig gelassen, und Lageregelung und Ausweichmanöver bei drohenden Kollisionen gewährleisten zu können … für ein paar Jahre, bis eine ntsorgungsmission bereit ist. Diese hätte an einen kooperativen Satelliten andocken müssen. Da muss man ein bisschen aufpassen, aber es ist erst einmal keine extrem schwierige Sache.

      Dann machte aber der Satellit den Planern einen Strich durch die Rechnung, indem er unerwartet den Löffel abgab. Und schwupp, wurde das Problem ein ganzes Stück schwieriger. da niemand mit dem Ableben des Satelliten gerechnet hatte, war auch nichts passiviert worden. Die Tanks enthalten noch Treibstoff, die Batterien sind nicht gesichert udn die Schwungräder liefen noch mit hoher Geschwindigkeit und gaben ihren Drall über die Reibung in den Lagern an den Satelliten ab. Deswegen wohl die wahrscheinlich beträchtliche Rotationsgeschwindigkeit des Wracks.

      Das ist sozusagen ganz große …. nein, ich verkneife es mir.

      • Entweder täusche ich mich, oder Sie haben die Antwort oben verlängert; ich meine, gestern Abend nur den ersten Absatz davon gelesen zu haben…
        Wenn man früher oder später eh Geld ausgeben muss, um den Satellit herunter zu bringen, dann wird man ihn sich aber sicher aus der Nähe ansehen müssen, da es sich ja jetzt um ein unkooperatives Ziel handelt. Ich frage mich dabei gerade, ob das Netz, welches die JAXA kürzlich entwickelt hat, dabei hilfreich wäre? – Zwei Satelitten mit je einem Ausleger, an dem das Netz befestigt ist, fliegen links und rechts vorbei, so das Envisat im Netz landet. Dann zünden die beiden “Netzträger” ihre Triebwerke und bringen das Teil runter…
        Die Frage ist, ob das tatsächlich funktioniert, denn je nach dem, wie Envisat rotiert, könnte sich auch das Netz verheddern und im schlimmsten Fall einen noch grösseren Schrotthaufen verursachen, wenn nämlich die Rotation von Envisat so stark ist, dass er das Netz um sich herum aufwickelt und die zwei Träger so an sich ran zieht, dass sie mit ihm zusammen krachen. – Es sei denn, sie koppeln (sprengen?) das Netz rechzeitig ab.
        Sie sehen, meine Phantasie läuft gerade auch wieder zu hochtouren auf und zwischendrin meldet sich mal der Verstand zu Wort.

        P.S. Ich habe gerade mal (nachdem ich obige Zeilen geschrieben hatte) bei Wikipedia nachgesehen, wie gross das Teil ist. – Oh Schreck! Da darf wirklich bezweifelt werden, ob das mit dem Netz funktioniert. Andrerseits: Wenn der wirklich stark rotiert, dürfte es auch kaum möglich sein, zu versuchen, irgendwas ankoppeln. Also wird man nach meiner Auffassung nicht daran vorbei kommen, nachzusehen, was da oben genau los ist, bevor man irgendwelche weiteren Pläne macht, um das Ding runter zu bringen.

        • Ja, genau das ist das Problem. Tolle Ideen gibt es im Dutzend billiger, aber wenn Sie da oben so ein Trumm haben, das so groß und schwer ist wie ein Schulbus, aber – wie u.a. auch meine Aufnahmen nahelegt – mit einer Rotationsperiode von 2 Minuten oder weniger rotiert, dann muss da jeder Schritt sitzen, sonst hat man sehr schnell genau das in Gang gesetzt, was man um jeden Preis verhindern will.

          Das ganze ist … ja, wirklich, hochgradig unerfreulich.

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