Was geschieht, wenn nichts geschieht? (dritter Teil: die Beobachter)

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die Psychologie irrationalen Denkens
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Irgendwie wundert man sich doch, warum eine Weltuntergangsbewegung nicht zerfällt, wenn der Termin des Untergangs und der Erlösung verstreicht, ohne dass etwas geschieht. Die Zeugen Jehovas haben beispielsweise im zwanzigsten Jahrhunderts mehrfach den Anbruch des Gottesreichs vorhergesagt. Trotzdem ist die Bewegung nicht erloschen. Auch die Milleriten haben zwar sehr viele Anhänger verloren, aber ihre Bewegung ist nicht erloschen und mehrere Nachfolgeorganisationen sind bis heute aktiv.

In den fünfziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts stellten die Psychologen Leon Festinger, Henry W. Riecken und Stanley Schachter eine Theorie dazu auf. Danach müssen fünf Bedingungen erfüllt sein, damit Gläubige nach dem Scheitern der Weltuntergangsprognose nicht aufgeben, sondern sogar stärker als zuvor um neue Anhänger werben:

  1. Der Glaube muss aus tiefer Überzeugung kommen und muss Auswirkungen auf die Handlungen oder das Benehmen des Gläubigen haben.

  2. Der Gläubige muss aufgrund seines Glauben Dinge getan haben, die schwer rückgängig zu machen sind.

  3. Der Glaube muss ausreichend genau und weltbezogen sein. Nur dann kann er durch bestimmte Ereignisse oder das Ausbleiben davon unbestreitbar widerlegt werden.

  4. Ein solches Ereignis (oder sein Ausbleiben) muss tatsächlich geschehen und der Gläubige muss diese Tatsache auch anerkennen.

  5. Der Gläubige muss von anderen unterstützt werden. Ein einzelner isolierter Gläubiger könnte dem Druck der Widerlegung seines Glaubens wohl nicht standhalten. Mehrere enttäuschte Gläubige könnten sich aber gegenseitig bestärken, ihren Glauben zu behalten.

Die Psychologen versuchten, ihre Theorie anhand der bekannten historischen Weltuntergangsbewegungen zu überprüfen, aber die Berichte waren zu ungenau. Aus den Archiven ließen sich keine ausreichenden Daten zur Befindlichkeit einzelner Anhänger der Bewegungen gewinnen. Das erschien ihnen aber sehr wichtig, denn letztlich ist ja das gesamte Christentum aus einer enttäuschten Endzeitbewegung entstanden. Als Jesus am Palmsonntag unter dem Jubel der Zuschauer in Jerusalem einzog, erwarteten viele seiner Anhänger, er werde die Römer aus dem Land jagen und als von Gott eingesetzter Erbe König Davids über die Welt herrschen. Wenige Tage später war er tot. Trotzdem breitete sich der christliche Glaube in den folgenden zweitausend Jahren über die ganze Welt aus.

Eine Theorie, mit der man die Ausbreitung von Religionen trotz des Scheiterns eines zentralen Glaubenssatzes erklären konnte, wäre deshalb von großer Bedeutung. Aber wenn man die Theorie nicht stützen oder widerlegen konnte, schrumpfte sie zur bloßen Spekulation. Das wäre natürlich bedauerlich.

An diesem Punkt kam den Psychologen ein unglaublicher Zufall zu Hilfe. Im September 1954 berichtete die örtliche Zeitung (Minneapolis, Minnesota): Eine Hausfrau in einem Vorort der Stadt habe vorausgesagt, die Stadt werde am 21.12. 1954 von einer Flut zerstört werden. Diese Nachricht sei ihr von übermenschlichen Wesen in fliegenden Untertassen vom Planeten „Clarion“ gesandt worden. Zum Zeitpunkt des Berichts hatte sie bereits eine kleine Schar von Gläubigen um sich versammelt.

Die Psychologen beschlossen, diese Gruppe zu beobachten. Dazu mussten sich selbst als Gläubige ausgeben. Um genügend viele Daten sammeln zu können, heuerten sie einige Studenten an, die ebenfalls Mitglieder der Gruppe wurden.

Dieses Vorgehen ist sicherlich problematisch, denn die vergleichsweise sehr kleine Anzahl von echten Gläubigen wurde natürlich durch die bloße Anwesenheit der Beobachter schon in ihren Überzeugungen bestärkt. Was geschah, wenn ein Bekenntnis verlangt wurde, oder aktive Missionsarbeit? Würde Schweigen als Skepsis ausgelegt werden?

Als der Herbst voranschritt, wurden die Vorhersagen der Prophetin immer genauer. Am Abend der Katastrophe sollten die Gläubigen von einem UFO abgeholt werden, und so die Flut überleben. Die Gruppe missionierte vorläufig kaum, denn in einem UFO ist notwendigerweise nicht beliebig viel Platz.

Würde sich das aber nach dem Ausbleiben des rettenden Raumschiffs ändern? Leider waren die Ergebnisse der Beobachtergruppe in diesem Punkt nicht schlüssig, denn zaghafte Versuche einer Missionstätigkeit nach dem Ausbleiben des Weltuntergangs provozierten feindselige Reaktionen der Nachbarschaft. Die Polizei deutete an, dass die Prophetin möglicherweise in die Psychiatrie einliefern würde, woraufhin sie erst einmal flüchtete. Andere Gläubige hatten wegen des offenen Bekenntnisses zu der Gruppe ihre Arbeit verloren, oder sie in Erwartung der Großen Flut selbst gekündigt. Auch sie verließen die Stadt. Deshalb steht eine experimentelle Bestätigung der Theorie von Festinger bis heute aus, denn es hat bislang keine weitere Studie dieser Art gegeben.

Aus der minutiösen Beobachtung der Sekte vor und nach dem Termin entstand das Buch „When Prophecy fails“, das sich inzwischen zu einem Klassiker der sozialpsychologischen Forschung entwickelt hat. Die erste Auflage von 1956 ist nur noch antiquarisch zu bekommen, aber 2011 ist ein Nachdruck der Erstauflage erschienen. Empfehlen würde ich aber eher die in England gedruckte Neuauflage von 2008 mit einem Vorwort von Elliot Aronson.

Literatur:

Leon Festinger, Henry W. Riecken, Stanley Schachter (2008) When Prophecy fails. Pinter & Martin, London

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Veröffentlicht von

www.thomasgrueter.de

Thomas Grüter ist Arzt, Wissenschaftler und Wissenschaftsautor. Er lebt und arbeitet in Münster.

5 Kommentare

  1. Kurzer Einwurf

    Ja, ich hätte mich da schon länger beteiligen wollen. Fällt ja wohl in mein Fachgebiet. Viele historische Einzelheiten trotzdem so nicht gewusst. Schön, dieser Überblick über ein weites Feld… Danke!
    Vielleicht wäre es gut, mal ausführlich mündlich ein paar Dinge zu durchleuchten.
    Ich vermute auch: In der Woche zwischen dem Palmsonntag und dem Karfreitag ist wohl wirklich der Schlüssel versteckt zum Verständnis dazu, wie die jesuanische Endzeiterwartung in die christliche umschlug. In meinem Bild aus dem Beitrag von Ende Dezember : Hier ist wohl das Kraterloch des Vulkans. Am Kraterrand sieht man so merkwürdige Restfetzen wie die sich öffnenden Gräber am Karfreitag, und die daraus Auferstandenen „erscheinen“ in Jerusalem vor „vielen“ … (Matth. 27,52+53). – und das dabei miterwähnte Erdbeben und die (Sonnen-)Finsternis gehören auch dazu Aber weiter steige ich hier nicht in den Krater.
    Spannend und nicht bloß absonderlich interessant finde ich dann eben, wie eine produktive Spannung aufgebaut wurde, die weltverändernd wirkte. Und die wurde dann nie konkret widerlegt, weil man – normalerweise, siehe dagegen unten – einer konkreten Datierung der Prognose zu widerstehen verstand. Und dem ging ich in dem erwähnten Artikel nach.
    Da war streckenweise was Sozialrevolutionäres drin (das dann auch wieder streckenweise lahm gelegt wurde.): ein wenigstens in Grundlinien deutliches Aktionsprogramm, das nach außen wirken soll. Und ein Imperativ wie : „Handelt, bis ich wiederkomme“. Die individualistische Frömmigkeit mancher Sekten und H.Campings eignet sich nicht. Eher Müntzer, Wiedertäufer ff. , die sich dann aber u.a. mit ihrer konkreten Datierung wieder selber widerlegten.
    Also, da würde ich gern mal ausführlicher drüber plaudern. Jetzt nimmt mich ja in meinem Blog einiges in Beschlag.

  2. @Hermann Aichele

    Der Verweis auf das Christentum als Beispiel für den Bestand eines Glaubens trotz der Widerlegung einer fest geglaubten Prophezeiung (hier: weltliche Erlösung durch den Messias) stammt aus dem zitierten Buch von Festinger, ist nicht allein von mir.
    Unabhängig davon sollten wir uns wirklich mal ausführlich unterhalten. Vielleicht haben wir ja beim Bloggertreffen in Deidesheim Gelegenheit dazu.

  3. @ Aichele

    “Spannend und nicht bloß absonderlich interessant finde ich dann eben, wie eine produktive Spannung aufgebaut wurde, die weltverändernd wirkte. Und die wurde dann nie konkret widerlegt, weil man – normalerweise, siehe dagegen unten – einer konkreten Datierung der Prognose zu widerstehen verstand. Und dem ging ich in dem erwähnten Artikel nach.”

    Na Klasse.

    Ich bewerbe mich hiermit als Prophet.

    Ich prophezeihe: “Etwas wird passieren. Ich weiss bloss noch nicht, wann, wie, wo und ob. Macht was draus!”

    Ich prophezeihe: die Freiheit. Nebenher auch die Sinnfreiheit.

  4. Nun ja, @Helmut Wicht

    Ich bewerbe mich hiermit als Prophet. Ich prophezeihe: “Etwas wird passieren. Ich weiss bloss noch nicht, wann, wie, wo und ob. Macht was draus!” .
    So absonderlich ist das nicht. In der Richtung hat was am Anfang des Christentums gezündet. Da wurde als Auftrag des getöteten Meisters geglaubt: Er wird wiederkommen. Wann? Wo? wie? Das wissen wir zwar nicht, aber gerade deshalb müssen wir in seinem Auftrag handeln.
    Das ergab eine produktive Spannung.

    Und auf säkularisierte Weise hat sich’s auch wiederholt – im Marxismus.
    Der Meister hielt ja die Kritik der Religion „im wesentlichen beendigt“. Und so hat er keine Prophezeiung gemacht sondern – auf seine Weise mit seiner Art wissenschaftlicher Akribie – eine Prognose aufgestellt: die klassenlose Gesellschaft wird kommen, mit unerbittlicher Notwendigkeit. Es „wird passieren. Ich weiss bloss noch nicht, wann, wie, wo [‚und ob’ – das wäre wohl zu streichen] . Macht was draus!”
    Ja, und entsprechende Marxisten glaubten dann nicht mehr religiösen Propheten sondern einer „wissenschaftlichen Weltanschauung“. Das war natürlich viel moderner. Und auch die ergab eine produktive Spannung. – s’ist nicht ganz sicher, ob dieser Versuch wirklich schon beendet ist.
    Ist diese Parallelisierung zu gemein?

  5. Macht was draus

    Ich gebe Hermann Aichele vollkommen recht. Irgendjemand muss nur wortgewaltig und mit ernster Miene eine Plörre daherreden und Stuss versprechen, schon findet er Gläubige. Es gibt zu jeder Zeit solche Typen. Historisch, also rückwärts gewandt, kann man dann leicht analysieren wie es sich entwickelt hat, nur ist es immer noch sehr schwer vorherzusagen, welcher der heute lebenden Typen in Zukunft den größten Zulauf bekommt, welche Plörre sich zu einer stabilen Religion entwickeln wird, welche verdrängt wird oder welche nicht einmal die erste Generation überlebt. Da muss die (Chaos-)Wissenschaft noch liefern.

    Die von Herrmann Aichele “produktive Spannung” scheint auch mir notwendig zu sein, ist aber sicher nicht hinreichend für den Erfolg einer Bewegung.

    In diesem Sinn ist es auch lobenswert, wenn Forscher einmal einen Kriterienkatalog vorschlagen, wie den im Blog beschriebenen, auch wenn dieser sich nur speziell auf Weltuntergangsbewegungen und enttäuschte Erwartungen bezieht (und offensichtlich noch nicht ausgereift ist). Irgendwo muss man ja anfangen.

    Hiermit bewerbe im mich als erster Jünger des Propheten Wicht.

    “Etwas wird passieren,
    macht was draus!

    Etwas wird passieren,
    macht was draus!”

    Eine Prophezeiung des Propheten scheint mir auch schon eingetreten zu sein, wenn ich mich so umschaue, vieles wirkt, als sei es vollkommen sinnfrei.