Gedankenwerkstatt – Reflexionen über die Unvernunft

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die Psychologie irrationalen Denkens
Gedankenwerkstatt

Menschen, so sagt man, sind vernunftbegabte Wesen. Sie können aus einzelnen Beobachtungen Naturgesetze destillieren, künftige Entwicklungen extrapolieren und vorbeugend handeln. Sie können moralische Regeln aufstellen und ihr Leben danach ausrichten. Sie wissen, das Sport und bestimmte Nahrungsmittel gut für sie sind und haben es in der Hand, einen gesunden Lebenswandel zu führen. Nur, mit schöner Regelmäßigkeit ignorieren sie alle Warnungen, missachten heilige moralische Regeln und essen Schokolade statt Salat. Ich muss zugeben: Das fasziniert mich, zumal ich auch nicht besser bin.

„Herr Doktor, sie wissen doch, wie das ist!“

Jeder Arzt hört diesen Satz mehrmals täglich, wenn der Patient zerknirscht zugibt, er habe trotz ständiger Rückenschmerzen noch immer keine Gymnastik begonnen, angesichts von Diabetes und Herzinfarkt seine Diät wieder einmal abgebrochen oder auch nach mehreren Kuren zur Besserung seiner gefährlich eingeschränkten Lungenfunktion das Rauchen noch nicht aufgegeben.

„Gleich morgen fange ich damit an. Ich habe schon die Prospekte für eine Kursus herausgesucht!“

Warum fällt es den Menschen so schwer, die Gebote der Vernunft auf sich selber anzuwenden?

In den USA kocht derzeit die Volksseele. Die Menschen sind wütend über die millionenschweren Boni, die der notleidende Versicherungskonzern AIG seinen Topmanagern auszahlt. Zuvor war bekannt geworden, dass Konzern einen Verlust von mehr als 100 Milliarden US$ für das Jahr 2008 eingefahren hatte. Über 170 Milliarden US$ an amerikanischen Steuergeldern hatte die Konzernleitung erbettelt, um eine Pleite abwenden zu können. Inzwischen fürchtet der Vorstand um die persönliche Sicherheit der leitenden Mitarbeiter.

Weder die Konzernmanager noch ihre Gegner handeln in entferntesten rational. Mehr noch: beide Parteien sehen das Recht auf ihrer Seite. Liest man die Stellungnahmen der beteiligten Manager, so bekommt man den Eindruck, sie seien von einer Katastrophe heimgesucht worden, die ohne jede Warnung von außen über sie hereinbrach. Sie sehen sich als Opfer, keinesfalls als Täter. Ihr eigener kleiner Arbeitsbereich, so sagen sie, könne schließlich niemals eine weltweite Krise ausgelöst haben, und natürlich hätten sie ihr Bestes getan, um Schaden von ihrer Firma und ihren Kunden abzuwenden. Niemals, so argumentieren sie, hätten sie so viel arbeiten müssen und gleichzeitig so wenig Anerkennung dafür erhalten. Der Bonus, der ihnen nach ihrem schließlich Vertrag zustehe, sei redlich verdient. Ja, eigentlich sei er nur ein schwacher Trost für den Verlust an Ansehen und die tägliche Furcht vor der Entlassung.

Das Volk sieht dagegen eine kollektive Schuld der Bankmanager, die sehenden Auges die Weltwirtschaft über die Klippe getrieben haben und trotz ihres jämmerlichen Versagens einen beträchtlichen Teil der Staatsgelder in die eigene Tasche umleiten, statt ihre Firmen zu sanieren oder ihre Kunden zu entschädigen.

Hätten sich alle Beteiligten vernünftig verhalten, hätte es die Krise nie gegeben. Sie beruht letztlich darauf, dass die amerikanischen Banken im Vertrauen auf steigende Immobilienpreise den Kauf von Häusern ohne ausreichende Sicherheiten zu 100% finanziert haben. Konnte der Kunde seine Raten nicht bezahlen, verkaufte er eben das Haus und löste den Kredit ab. Weil die Hauspreise stetig stiegen, blieb auch dem Kunden unter dem Strich ein schöner Gewinn. Das lief gut, solange die Häuser immer teurer wurden, aber das konnte nicht ewig so weiter gehen. Also kamen die Banken auf die glänzende Idee, die unsichersten (und damit am höchst verzinsten) Kredite in Wertpapieren zu bündeln und zu verkaufen. Andere Banken wiederum fassten die Wertpapiere zu Paketen zusammen und diese Pakete zu neuen Paketen. Die ganze Konstruktion musste allerdings zusammenfallen, sobald die Hauspreise in den USA nicht mehr stiegen, und sei es nur an wenigen Orten. Das alles war bekannt. Hätten die Beteiligten vernünftig gehandelt, dann hätten die Hauskäufer sich nicht bis über das Dach verschuldet und die Banken keine solchen Darlehen angeboten.

Die Manager hätten allerdings weniger verdient und viele Amerikaner hätten sich nur beträchtlich kleinere Häuser leisten können. Letztlich haben alle an dem Kartenhaus mitgebaut und gegen jede Vernunft gehofft, dass sie den absehbaren Zusammensturz heil überstehen würden. Das ist menschlich, aber vollkommen irrational – und schädlich. Der angesehene amerikanische Psychologe und Psychotherapeut Albert Ellis hat im Jahre 1975 in diesem Vortrag eine Liste von über zweihundert Ausprägungen menschlicher Irrationalität zusammengestellt. Nahezu alle Menschen, so sagt er, handeln irrational und schädigen damit sich selbst oder ihre Umwelt.

Das gilt gleichermaßen für das persönliche Umfeld einzelner Menschen wie für menschliche Gemeinschaften oder die Menschheit an sich. Man mag das beklagen, aber die großen Dramen der Weltgeschichte wären nicht geschrieben worden, wenn die Menschen stets rational handeln würden. Als rein vernunftgesteuerte Wesen würden wir nicht einmal verstehen, warum sich die Personen auf der Bühne so seltsam benehmen. Es ist die Kunst der großen Schriftsteller, das irrationale Handeln der Personen plausibel zu machen. Wir verstehen Hamlet und Faust, können ihre Konflikte nachvollziehen und ihrer vernunftwidrigen Handlungsweise einen Sinn abgewinnen.

Damit ist klar, dass bestimmte Aspekte des Irrationalen allen Menschen gemeinsam sind. Menschliche Irrationalität ist nicht einfach das Fehlen der Vernunft, ein zufälliges Abirren vom rechten Weg, sondern folgt bestimmten Regeln, die wir intuitiv und gefühlsmäßig verstehen können.

In diesem Blog wird es in Zukunft um die Gesetze menschlicher Unvernunft gehen, um die Ziele, Gefühle, Konflikte und Motive, die uns daran hindern, dem Weg der Vernunft zu folgen, selbst wenn wir ihn klar erkannt haben.

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Veröffentlicht von

www.thomasgrueter.de

Thomas Grüter ist Arzt, Wissenschaftler und Wissenschaftsautor. Er lebt und arbeitet in Münster.

5 Kommentare

  1. Na dann mal los

    Hallo,
    vielen Dank für Ihre zukünftige Arbeit hier, würde mich freuen, wenn ich Ihnen mit der Logik in der Unlogik entgegenhalten könnte.

    Gruß Uwe Kauffmann

  2. “Hätten sich alle Beteiligten vernünftig verhalten, hätte es die Krise nie gegeben.”

    Kontrafaktische Konditionalsätze sind immer wahr, weil ihre Prämisse falsch ist. (U.Eco)

    “Vernunft” hat, wie man sieht, eine historische Dimension. Was gestern noch klug erschien, wirkt heute unfassbar dämlich.

    “Vernuft wird Unsinn, Wohltat Plage…”
    (der Fliegenmeister)

    Oh, das wird ein spannender Blog!

  3. Lieber Herr Grüter,

    auch von mir ein herzlicher Willkommensgruß. Ich denke, gerade die Ökonomie dürfte reichlich Stoff für Ihren Blog hergeben. Ich freue mich auf Ihre Beiträge.

  4. An alle

    Vielen Dank für den freundlichen Empfang. Das Thema der menschlichen Irrationalität bietet genügend Ansatzpunkte für Blogbeiträge, ich werde mich also sicher des Öfteren melden.

  5. Ich tippe mal, dass das Verhalten der Bankmanager nicht unvernünftig sondern nahe liegend war. Manager die bei dem riskanten Spiel nicht mitgemacht hätte, hätten kurzfristig schlechtere Renditen erzielt und wäre ersetzt worden. Wie bei anderen Pyramidenspielen mit absehbarem Ende konnte man sich auch hier einbilden, schlauer als die anderen zu sein und rechtzeitig aussteigen zu können. Also statt Unvernunft eher eine Mischung aus Eigeninteresse und Selbstüberschätzung, alles völlig menschlich.