Das unverstandene Gehirn – Teil 1

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die Psychologie irrationalen Denkens
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Kann man ein menschliches Gehirn simulieren? Das Projekt Blue Brain möchte es zumindest versuchen. Aber bislang reicht selbst der größte und schnellste Rechner der Welt nicht einmal annähernd aus, um die Funktion von der immensen Zahl Nervenzellen nachzubilden, aus denen ein Säugetiergehirn besteht. Ein menschliches Gehirn hat ca. 30 Milliarden Nervenzellen, die über ein kompliziertes Geflecht von Ausläufern (Dendriten und Axone) miteinander verbunden sind. Deshalb will Blue Brain mithilfe eines Blue Gene/L Supercomputers zunächst eine Funktionseinheit des Gehirns, eine sogenannte kortikale Säule simulieren.
Was ist das: eine kortikale Säule? Die Großhirnrinde des Menschen besteht aus sechs übereinanderliegenden Schichten. Ihr genaues Aussehen ist je nach Gehirnregion verschieden: Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts fand der deutsche Anatom Korbinian Brodmann insgesamt 52 unterscheidbare Gebiete (die noch heute Brodmann-Areale heißen). Senkrecht zur Oberfläche stehende, also sozusagen übereinanderliegen Zellen arbeiten eng zusammen. In der Embryonalzeit wandern die Nervenzellen entlang eines Gerüsts von Stützzellen (sogenannten Gliazellen) von ihren Entstehungsregionen nahe der Hirnventrikel senkrecht zur Oberfläche der Hirnrinde nach außen. Sie bilden phylogenetische Säulen, die durch Gliazellen getrennt sind. Wie sich diese Säulen aber im weiteren Verlauf der Entwicklung verändern oder organisieren, ist nicht sicher bekannt. Es gibt eine Theorie, nach der eine Verband aus ca. 100 Zellen eine Minisäule bildet und sich wiederum einige Hundert davon zu einer Säule zusammenschließen.
Das Blue Brain Projekt geht davon aus, dass solche kortikalen Säulen einheitliche Funktionsgruppen bilden, sozusagen fertig verschaltete Grundbausteine des Gehirn. Blue Brain möchte als erstes eine einzelne kortikale Säule in einem Großrechner simulieren. Der Einfachheit halber handelt es sich dabei un die kortikale Säule aus dem Gehirn einer jungen Ratte. Deren internen Abläufe sollen entschlüsselt und dann in optimierter Weise nachgebildet werden. Aus diesen Funktionseinheiten will das Blue Brain Projekt ein komplettes Säugetiergehirn nachbilden und – in letzter Konsequenz – ein menschliches Gehirn.
An dieser Stelle erlaube ich mir die Vorhersage, dass ihnen das nicht gelingen wird. Nicht etwa, weil ich es ihnen nicht wünschen würde, oder weil es ein Computer grundsätzlich nicht mit einem Säugetiergehirn aufnehmen könnte, nein das Modell geht von einer falschen Voraussetzung aus.
Es baut darauf auf, dass abgrenzbare kortikale Säulen die einheitlichen Grundbausteine der Säugetiergehirne sind. Auf ihrer Website schreibt das Projekt: Die kortikale Säule ist von Maus bis Mensch und in verschiedenen Gehirnregionen sehr einheitlich.
Diese Meinung ist, vorsichtig ausgedrückt, sehr optimistisch. Eine Reihe von aktuellen Publikationen kommt zu ganz anderen Ergebnissen. Bislang ist nicht einmal sicher erwiesen, dass kortikale Säulen als eigene funktionelle Einheiten existieren, geschweige denn, dass sie über die Grenzen der Tierarten hinweg und in allen Gehirnregionen ähnlich arbeiten. Ich persönlich halte das für nicht sehr wahrscheinlich.
Nur: Wenn die Prämisse falsch ist, kann das Ergebnis nicht richtig werden. Da helfen auch die vollmundigen Interviews nichts, die der Projektleiter Henry Markram ab und zu gibt.
Eventuell könnte man tatsächlich einen Computer bauen, der die anatomischen Strukturen des Gehirns nachbildet, aber was ist mit dem Einfluss von Hormonen und Botenstoffen? Dem von Müdigkeit und Blut-pH? Der ganzen komplexen Biochemie der Nervenzellen und des Stützgewebes?
Ein Gehirn wächst nach der Geburt nur dann normal, wenn es typischen Außenwelteinflüssen ausgesetzt ist, wenn es Kontakt mit anderen Menschen aufnimmt und seine Umwelt selbst erkundet. Das ist kaum nachzubauen, und wenn, dann liefe es nur in Echtzeit ab, denn nur durch den Kontakt mit wirklichen Menschen könnte das simulierte Gehirn seine Erfahrungen sammeln. Jeder Versuch würde also mindestens 10-20 Jahre laufen müssen, bevor er ausgewertet werden könnte. Selbst auf einem Supercomputer würden aber die ersten Versuche sicher nicht in Echtzeit, sondern deutlich langsamer ablaufen.
Und schließlich müssten noch vor Beginn der eigentlichen Experimente Tausende von Fehlern gefunden und beseitigt werden (wie bei jedem Großprojekt). Irgendwann aber wäre eine Stufe erreicht, in der das künstliche Gehirn so komplexe Fehler aufweist, dass unser Wissen nicht mehr ausreicht, sie zu finden. Wie sollten man dann vorgehen? Wäre dann nicht das Ende des Projekts erreicht, das Scheitern also vorprogrammiert?
Ein menschliches Gehirn könnte unmöglich seinen eigenen Simulator verstehen, denn es kann lediglich einen Bruchteil seiner Nervenzellen an das Problem setzen (der Rest ist fest für andere Aufgeben vergeben). Bei komplexeren Fehlern müssten sich also Dutzende von Spezialisten zusammensetzen, um Korrekturvorschläge zu erarbeiten. Das kostet sehr viel Zeit. Dann müsste das Gehirn in einen früheren Zustand versetzt werden, um die Auswirkungen der Korrektur zu testen. Letztlich käme man so nicht weiter.
Dieser Einwand betrifft jede Simulation, nicht nur Blue Brain.
Das möchte hier einmal zur Diskussion stellen. In Teil 2 werde ich eine Idee vorstellen, wie man tatsächlich die menschliche Intelligenz im Computer nachbauen kann und in Teil 3 wird um die Folgen eines solchen Experiments gehen.
Literatur:

Jonathan C. Horton & Daniel L. Adams (2005) The cortical column: a structure without a function. Philosophical Transactions of the Royal Society B 360, 837-862.

Suzana Herculano-Houzel et al. (2008) The basic nonuniformity of the cerebral cortex. Proceedings of the National Academy of Science 105:12593-12598

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Veröffentlicht von

www.thomasgrueter.de

Thomas Grüter ist Arzt, Wissenschaftler und Wissenschaftsautor. Er lebt und arbeitet in Münster.

11 Kommentare

  1. Grundlagenforschung v.s. Spielerei

    Sehr geehrter Herr Grüter,
    ich teile grundsätzlich Ihre Kritik und möchte sie sogar noch um den Aspekt der Neurogenese erweitern.
    Aber ist das nicht Grundlagenforschung?
    Ein Wissenschaftler kommt immer in Argumentationsnot wenn er Abermillionen von Euro und kostbare, da nur begrenzt zur Verfügung stehende Rechenzeit auf Großrechnern, für seine Arbeit braucht, da er nur ungenügend mit unmittelbaren Nützlichkeit seiner Arbeit argumentieren kann.
    Vollmundige versprechen und hoch gesteckte Ziele sind da schnell ins Feld geführt, da zu dem Zeitpunkt an dem resümierende Kritik angesagt wäre von den
    wahren Kritikern wohl keiner mehr lebt und Kritik durch eine Nützlichkeitsanalyse ersetzt werden wird.
    Für mich stellt sich da eher die Frage, ob es sich um sinnvolle Grundlagenforschung handelt. Dazu könnte sich ja mal Herr Schleim äußern, denn die
    Kritik sollten wohl die aüßern, deren Arbeit in Zukunft mit dieser Grundlagenforschung weitergeführt werden muss.
    Das Herr Markram und seine Kollegen spielen gehen dürfen ist wohl geklärt, was dabei herauskommt wird die Zukunft weisen.

    M.f.G. Uwe Kauffmann

  2. Unser Gehirn, ein “perfektes” Original?

    Letztendlich wäre es wie bei einem perfekten Clone. Selbst dieser würde sich in seinem „Wesen“ von seinem Original unterscheiden. Sicher ließe sich eine perfekte biologische (physikalische) 1:1 Kopie herstellen, ebenso sicher vielleicht auch mal eine perfekte Übertragung in ein Softwaremodel. Doch in seinem Wesen wird sowohl der Clone wie auch ein “Model” ebenso sicher etwas völlig einmaliges sein (werden …). Und was die „Fehler“ betrifft … wer kann sich ernsthaft sicher sein, das unser Gehirn (als Vorbild für diese Simulation) ein fehlerfreies „Original“ ist?

  3. Logik v.s. Fuzzy

    Hallo,
    ich denke mal, dass wenn es Sinn machen würde unsere so komplexe Welt mit in sich schlüssiger Logik zu betrachten, hätte die Evolution schon der Schritt gewagt und aus dem vernunftbegabtem Wessen ein vernünftiges Wessen entwickelt. Mir scheint aber die Welt so komplex und nur unzureichend absthrahierbar, dass Fuzzylogik im Moment immer noch das Mittel der Wahl ist.

    Gruß Uwe Kauffmann

    (*Ein Hundeganggedanke 🙂 *)

  4. Fehler

    1) Aktuelle Sinneseindrücke werden abgespeichert und dann jeweils beim Wiedererinnern mit dem aktuellen Verstand neu bewertet. => dies ist eine Fehlerquelle, welche nicht nachgebaut werden kann. (z.B. wenn Sinneseindrücke eines jungen Babys mit dem Verstand eines Erwachsenen beurteilt werden)
    2) Unser Gehirn verknüpft aktuelle Sinneseindrücke(innerhalb eines kurzen Zeitfensters) auch wenn sie gar nicht zusammengehören => hier entstehen Fehler, welche nicht nachgebildet werden können.
    3) Fehlerhafte Beurteilungen entstehen, wenn eine aktuelle Situation zunächst falsch und erst nach mehreren Rückkopplungen richtig beurteilt wird (z.B. auf dem Weg liegendes längliches Objekt (Ast) kann zunächst als Schlange bewertet werden) => es ist nicht möglich, per Computer Fehler zu generieren. Weil ein Computer nicht zwischen Realität und Fehler unterscheiden kann
    4) Unser Gehirn entwickelt aus aktuellen Sinneseindrücken und Erinnerungen immer etwas ´sinnvolles´. Auch wenn dies falsch ist. => auch dies läßt sich nicht im Computer nachbilden.

    Fazit: Unser Gehirn arbeitet dermaßen fehlerhaft, dass es nie mit einem korrekt arbeitenden Computerprogramm nachgebildet werden kann. Aber gerade diese Fehlerhaftigkeit ist der entscheidende kreative Vorteil unseres Gehirns. Denn es macht dadurch auch aus Unsinn etwas Sinnvolles.

  5. Das Chaos hat keine Fehler

    Hallo KRichard,

    Dein Fazit möchte ich ein wenig verändern: Unser Gehirn arbeitet dermaßen chaotisch (im positiv-mathematischen Sinn der Chaostheorie) , dass es nie mit einem binär arbeitenden Computerprogramm nachgebildet werden kann. Aber gerade diese Unberechenbarkeit ist der entscheidende kreative Vorteil unseres Gehirns. Denn es macht dadurch auch aus unzusammenhängenden Daten etwas Sinnvolles.

    „Was ist Sinn?“ muß nun gefragt werden. Diese Frage sollte auch mit Hilfe der Hirnforschung, jedoch nicht ohne Kenntnis der Luhmannschen Systemtheorie und der Mandelbrotmenge beantwortet werden.

    Steffen

  6. @Uwe kauffmann (Grundlagenforschung)

    Grundlagenforschung ist notwendig. Sie darf auch viel Geld kosten, nur sollte sie ihre Fragestellung mit geeigneten Methoden angehen, bevor sie anfängt, in großem Maßstab Mittel zu verbrauchen. Gerade im Fall des Blue Brain Projekts bezweifle ich aber bereits die Grundlage der Arbeit, also die Existenz einer bei allen Säugetieren einheitlich aufgebauten kortikalen Säule. Es wäre hilfreich, diesen Eckpfeiler des Projekts ganz fest zu verankern, bevor man darauf aufbaut.

  7. Fuzzy Logik und Computer

    Computer können sehr wohl eine fast biologisch anmutende Reaktion auf die Umwelt simulieren, und zwar über den Aufbau eines sogenannten künstlichen neuronalen Netzes. OCR- und Spracherkennungssysteme arbeiten beispielsweise mit dieser Technik. Das sollte nicht mit Fuzzy-Logik verwechselt werden. in diesem Aufsatz finden Sie eine gute Erklärung der Unterschiede zwischen den beiden Verfahren. Auf die Frage nach dem Sinn möchte ich erst einmal nicht einlassen, mir geht es hier nur um die Frage der grundsätzlichen Durchführbarkeit.

  8. Sinnfrage

    Biologische Systeme wie das Gehirn arbeiten schlampig und unpräzise und passen sich dadurch neuen und unbekannten Situationen leicht an – aus Unsinn wird dabei eine sinnvolle Information/Erkenntnis gebildet(auch wenn diese eventuell eindeutig falsch ist).
    Präzise arbeitende Systeme (Computer) wären mit ungenauen/neuartigen Situationen überfordert und würden ´aussteigen´.
    Beispiel: wird ein auf dem Weg liegendes längliches Objekt (Ast) im ersten Eindruck vom Gehirn als Schlange identifiziert. Dann ist diese Schlussfolgerung des Gehirns eindeutig falsch. Und man springt unnötig zurück.
    Nimmt sich das Gehirn aber die Zeit, dieses längliche Objekt erst korrekt und eindeutig zu identifizieren, bevor eine Körperreaktion einsetzt – dann stammt die Menschheit nicht von solchen Menschen ab, bei denen das längliche Objekt eine Giftschlange war.

    Wenn unser Gehirn also aus Unsinn etwas Sinnvolles macht, dann könnte man diesen Vorgang als Kreativität bezeichnen. Computerprogramme, welche Teile oder das ganze Gehirn virtuell nachbilden sollen, müssten in der Lage sein, schöpferisch Neues zu entwickeln.

  9. moins

    Sehr geehrter Herr Grüter,
    ich habe Fuzzy bewusst gewählt und die damit verbundene sprachliche und sachliche Ungenauigkeit war gewollt.
    Das widerstrebt natürlich der wohl von Ihnen gewohnten Anwendung von Genauigkeit.

    Gelder für blue brain oder ähnliche oder überhaupt wissenschaftliche Großprojekte loszueisen, driftet immer ins politische ab und dazu könnte ich nichts sagen ohne unfeine Ausdrücke zu gebrauchen.

    Ich bin noch weit weg von Ihrer Art mit dem Problem umzugehen, mein Interesse fußt auch noch er beim erkunden der Problematik als denn dem umsetzen eines technisch mathematischen Modells.

    Ich denke die Forschung sollte in Richtung der Entwicklung von finieten neuronalen Elementen laufen (ja auch wieder ein mathematischer Griff ins Klo).
    Aber ich hoffe Sie wissen wo ich hin will.
    Ich gehe davon aus das sich aus jeder realen Datenmenge, n mehr oder weniger scharfe Relationsketten bilden lassen. Wie man dann die dort beinhalteten
    korrelierten Zusammenhänge nennt, ist mir dann eher egal. Es sollte darum gehen eine Technik zu entwickeln, die die Geisteswissenschaften wieder zurück an den Tisch holt.
    Das diese Art von Prestigeprojekten nicht ziel führend sein müssen, oder vielleicht sogar eher schädliche Wirkungen aufweisen könnten. Da bleibt mir nur das übliche Schulterzucken, na Politik halt.

    Ich denke mal der noch für lange Zeit Rechnerkapazität, der begrenzende Faktor sein wird. Leider ist der Sideefekt der meisten Profielneurosen nicht der Bau von
    Großrechenzentren, mit dem eigenen Namesschildchen drauf.

    Warte schon mit Spannung auf den zweiten Teil.

    M.f.G. Uwe Kauffmann

  10. Kolumne ist noch nicht verstanden

    Hier mal ein Hinweis auf eine Arbeit der Arbeitsgruppen Feldmeyer und Lübke in Jülich, die zur kortikalen Kolumne, der Grundeinheit des Großhirns2007 ein Review verfasst hatten. Hier eine Zusammenfassung in der PM, die ich damals verfasst hatte. Fazit: Selbst die Grundeinheit, die Kolumne, ist noch lange nicht verstanden. Wie wollte man dann ein aussagekräftiges Modell erstellen.

    Hier geht’s zum Paper-Abstract.

  11. Die zweiwertige Logik reicht nicht

    Hallo Herr Grüter,

    ein sehr interessantes Thema.

    Ich stimme Ihnen grundsätzlich zu, wenn Sie sagen, dass die Technik noch sehr weit davon entfernt ist, künstliche Intelligenz zu konstruieren. Als Problem sehe ich da aber vor allem, dass die Mathematik inklusive der zweiwertigen Logik (nach Aristoteles) für das Bauen dieser KI nicht ausreicht. Alle Computer arbeiten derzeit nach dieser Logik.

    Ich habe diese Problematik und mögliche theoretische Auswege auf meinem Blog gepostet: http://blog-conny-dethloff.de/index.php?s=K%C3%BCnstliche+Intelligenz

    Denkerische Grüße,
    Conny Dethloff