Denkanstöße – Wie die Evolution unser Denken prägt: Gerhard Vollmers “Was können wir wissen?”

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Warum ist dieses Buch wichtig?

 

"Ich halte den Durchbruch und die rasche Verbreitung der Evolutionären Erkenntnistheorie für das wichtigste geistesgeschichtliche Ereignis der letzten Jahre."

Kein Geringerer als der Nobelpreisträger Konrad Lorenz beginnt mit diesen Worten sein Geleitwort zu dem Werk, das hier vorgestellt werden soll. Und Gerhard Vollmer, der Autor der beiden Bände "Die Natur der Erkenntnis" und "Die Erkenntnis der Natur" mit dem gemeinsamen Titel “Was können wir wissen?”, hat die Evolutionäre Erkenntnistheorie geprägt wie kein anderer, und zwar bereits durch sein Buch “Evolutionäre Erkenntnistheorie” von 1975. Sie ist Ausgangs- und Mittelpunkt auch der Überlegungen in diesen beiden Bänden von 1985 und 1986, die zusammen über 600 Seiten umfassen und mittlerweile in vierter Auflage erschienen sind – ein Beleg für ihre Aktualität und Bedeutung.

Das Schöne an diesen Büchern – wie an allen Vollmer-Texten – ist ihre Lesbarkeit. Für seine herausragende und in der Wissenschaft leider viel zu seltene Fähigkeit, komplexe Inhalte so zu vermitteln, dass die Problematik erhalten bleibt und trotzdem für jeden verständlich ist, hat Gerhard Vollmer, Physiker und Philosoph und bis vor kurzem Professor für Philosophie in Braunschweig, sogar den hochdotierten Kulturpreis der Eduard-Rhein-Stiftung erhalten. So auch hier: Klar und präzise bringt er verworrene Probleme auf den Punkt, indem er alles Nebensächliche weglässt – was ja eine Kunst für sich ist. 

Was können wir wissen?

Die Lektüre ist also uneingeschränkt zu empfehlen. Aber worum geht es? Vollmer geht aus von der Hauptfrage der Erkenntnistheorie "Was können wir wissen?". Zunächst werden einige historische Antworten vorgestellt, danach die Grundthesen der Evolutionären Erkenntnistheorie.

Da es sich bei den beiden Bänden um Aufsätze handelt, die gut zusammenpassen, aber nicht in allen Fällen in einem engem Zusammenhang stehen, können einige Einzelthemen zwar erwähnt, aber nicht näher besprochen werden. So gibt uns Gerhard Vollmer faszinierende Einblicke in die Wissenschaftstheorie mit Beiträgen über "Die Wissenschaft von einmaligen Ereignissen", "Die Einheit der Wissenschaft" und "Reduktionismus und dessen Probleme", aber auch über die "Asymmetrie der Zeit" und "Kopf und Computer". Zudem baut er die Evolutionäre Erkenntnistheorie aus und wendet sie auf philosophische Probleme an. So widmet er sich dem Problem der Anschaulichkeit, dem Mesokosmos und dem Leib-Seele-Problem.  

 

 

Herausheben möchte ich die Idee, Kausalität über den Energieübertrag zu zu charakterisieren. Dieser Gedanke scheint mir außerordentlich wichtig, gerade weil er in der Philosophie noch nicht die seiner Bedeutung gemäße Verbreitung gefunden hat. 

Die Evolutionäre Erkenntnistheorie

Was zeichnet die Evolutionäre Erkenntnistheorie aus, die sich als eine philosophische Disziplin versteht, die auf Erkenntnissen der Evolutionstheorie beruht? Was sind ihre Hauptthesen?

Vieles in der Biologie hat eine Funktion. So dient die Flosse der Fortbewegung im Wasser, und die Lunge taugt für das Atmen. Wofür aber ist unser Gehirn gut? Über die Sinnesorgane nimmt es Informationen aus der Außenwelt auf. Je genauer und schneller dies geschieht, desto besser – im Sinne von überlebensdienlich – fallen Reaktionen auf neue Situationen, Ereignisse und Dinge aus. Einfache Lebewesen, die nur über einen Lichtrezeptor verfügen, können sich zweckdienlicherweise zum Licht hin und von dunklen Stellen wegbewegen. Sollten sie auf ihrem Weg jedoch zufällig in eine Säure geraten, so können sie dies wegen fehlender Sensoren nicht vermeiden. Mit dieser evolutionären Funktionslogik ist gleichzeitig ein wichtiges philosophisches Problem der Erkenntnistheorie gelöst: Warum passen die Kategorien unseres Gehirns überhaupt auf die Strukturen der Welt? Warum sehen wir mit unseren Augen gerade diesen Ausschnitt aus dem Lichtspektrum und nicht vielmehr einen, der auf der Erde gar nicht vorkommt, etwa Röntgenstrahlen? Diese höchst erstaunliche Passung der subjektiven Erkenntnisstrukturen auf die objektive Welt hat schon Kant Kopfzerbrechen bereitet. Die Evolutionäre Erkenntnistheorie ist hier meines Wissens die einzige philosophische Theorie mit einer überzeugenden Erklärung: 

  „Unser Erkenntnisapparat ist ein Ergebnis der Evolution. Die subjektiven Erkenntnisstrukturen passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in Anpassung an diese reale Welt herausgebildet haben. Und sie stimmen mit den realen Strukturen (teilweise) überein, weil nur eine solche Übereinstimmung das Überleben ermöglichte.“ (Vollmer 1975/2002, S. 102)  

Die Kritik

Hier stoßen wir auf eine überraschende Tatsache: Die Evolutionäre Erkenntnistheorie (EE) steht beileibe nicht im Zentrum philosophischer Debatten in der Erkenntnistheorie. Dies mag damit zu tun haben, dass viele Philosophen alles Empirische ablehnen. Möglicherweise auch damit, dass die EE gar nicht als Erkenntnistheorie angesehen wird, sondern als eine naturwissenschaftliche Disziplin. Damit wird ihr oft im gleichen Zuge die Kompetenz für die Beantwortung philosophischer Fragen abgesprochen. Nachvollziehbar ist dies allerdings nicht, da die EE eine ganze Reihe typisch erkenntnistheoretischer Fragen stellt und diese auch beantwortet – was man wiederum von einigen philosophischen Konkurrenztheorien nicht behaupten kann. Da hilft es, dass Gerhard Vollmer im vorliegenden Buch fast alles, was an Argumenten kritisch gegen die Evolutionäre Erkenntnistheorie vorgebracht wurde, sammelt, fair bespricht – und überzeugend widerlegt. 

Die meisten Gegenargumente beruhen leider auf Unkenntnis. Sie werden leicht widerlegt und verdienen keine ausführliche Besprechung. Nur das häufigste Missverständnis soll kurz dargestellt werden. Es macht richtigerweise darauf aufmerksam, dass Erfolg (Überleben) Wahrheit (richtiges Erkennen der Außenwelt) nicht garantiert. Nun wird dies aber auch kein ernsthafter Vertreter der EE behaupten. Im Gegenteil, eine der Hauptthesen der EE ist:

Biologische Anpassungen sind niemals ideal, müssen sich aber in der natürlichen Auslese bewähren. Deshalb ermöglichen die subjektiven Erkenntnisstrukturen – über Jahrmillionen getestet – zwar keine absolut wahre, aber doch eine angemessene Rekonstruktion realer Objekte, die mindestens in Bezug auf den mesokosmischen Lebensraum auch nicht völlig falsch sein kann.

Es muss also zwischen Erkenntnis und Anpassung unterschieden werden. Weder ist Erkenntnis identisch mit absoluter Wahrheit, noch stellt der Überlebenserfolg ein hinreichendes Kriterium für Wahrheit dar.

Eine ernst zu nehmende Kritik greift dagegen den hypothetischen Realismus an, welcher der EE zu Grunde liegt. Diese Diskussion würde hier zu weit führen – dazu sei der neugierige Leser auf die Diskussionen im Buch selbst verwiesen.

Fazit

Die Evolutionäre Erkenntnistheorie versucht etwas in der Philosophie eher Unübliches: Sie nimmt die Frage “Wieso können wir die Welt erkennen?” (übrigens auch ein Buchtitel von Gerhard Vollmer) als Ausgangspunkt für philosophische Fragen. Die Antwort ist biologisch geprägt und versteht das Gehirn, das bekanntlich dem Denken zu Grunde liegt, als eine Anpassung, die bestimmte Funktionen erfüllt. Aus diesem Gedanken lässt sich vieles entwickeln, zum Beispiel die Folgerung, dass und warum wir in der Welt der mittleren Dimensionen (im Mesokosmos) zu Hause sind. Zu erwarten sind auch Beschränkungen, blinde Flecken und Fehler in unserem Denken, da Anpassungen niemals ideal sind, sei es wegen mangelnder Kapazität oder aus anderen Gründen. Auch Wissenschaft lässt sich besser verstehen – und zwar als eine systematische Weiterentwicklung unserer Intuitionen. Bessere Instrumente, bessere Theorien und bessere Methoden führen zu quantitativem und qualitativem Fortschritt bei der Erkenntnis der Welt.

Seit ihrem Erscheinen 1985 hat sich in den behandelten Bereichen viel getan. So gibt es mittlerweile nicht nur Evolutionäre Ethik, Evolutionäre Ästhetik und Evolutionäre Wissenschaftstheorie, sondern sogar eine Evolutionäre Religionswissenschaft. Das zeigt, wie fruchtbar die Grundgedanken sind, die Gerhard Vollmer in diesen zwei Bänden als einer der Ersten systematisch entwickelt hat. Sie alle eint der Versuch, die evolutionäre Geschichte des Menschen bei den Erklärungsversuche ihrer jeweiligen Phänomene zu berücksichtigen und zu nutzen. Für ihr Verständnis gibt es kaum einen besseren Startpunkt als Gerhard Vollmer und seine Gedanken zur Evolutionären Erkenntnistheorie.

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Warum gibt es so viele Scheuklappen in unserem Denken? Warum machen wir dieselben Fehler immer wieder? Solche Fragen haben mich schon immer fasziniert. Um dieses Thema – Denkmuster und Denkfehler – wird es in diesem Blog deshalb öfter gehen. Mein zweites wissenschaftliches Interesse gilt der Frage, warum Menschen eigentlich nicht öfter kooperieren. Woran liegt das? Oder anders herum gefragt: Welche Bedingungen muss man schaffen, damit aus Egoisten Altruisten werden? Wie vermeidet man die "tragedy of the commons"? Dieses weite Feld reicht von der Kooperation zwischen Bakterien über den Erfolg von OpenSource bis zu den Problemen der Weltklimagipfel. Meiner Meinung nach sind in der Kooperationsforschung viele Lösungsansätze für Nachhaltigkeits-, Gerechtigkeits- und Umweltprobleme zu finden. Mit beiden Themen beschäftige ich mich im Rahmen meiner Forschung an der Universität Gießen als Postdoc bei Eckart Voland in der Soziobiologie. Dabei versuche ich das Beste aus den Welten der Philosophie und den Naturwissenschaften zu vereinen. Dass meine gesamte Arbeit stark von der Evolutionstheorie geprägt ist, verdanke ich wohl vor allem dem Einfluss meines Doktorvaters Gerhard Vollmer. Dr. Ulrich Frey

10 Kommentare

  1. Evolutionäre Erkenntnistheorie

    Da mein erster Kommentar im Spamfilter hängen geblieben ist, hier ein zweiter Versuch:

    Die Evolutionäre Erkenntnistheorie (EE) steht beileibe nicht im Zentrum philosophischer Debatten in der Erkenntnistheorie.

    Das Unattraktive an der EE ist halt, dass sie behauptet, die Erkenntnisfähigkeit sei begrenzt, dass also auch diesem hier Grenzen gesetzt seien:

    Bessere Instrumente, bessere Theorien und bessere Methoden führen zu quantitativem und qualitativem Fortschritt bei der Erkenntnis der Welt.

    Wir können zwar ausloten, wie weit unser Erkenntnisvermögen reicht, aber einen echten Zugewinn an Erkenntnis, also wahren Erkenntnisfortschritt, kann es doch eigentlich nur im Zuge des evolutionären Wandels geben.

    Schöne, informative Buchbesprechung, danke!

  2. Zustimmung

    Danke fuer die schoene Besprechung! Und ich kann nur zustimmen: EE ist die wohl ertragreichste Perspektive, um Philosophie und Naturwissenschaft zu verknüpfen. Schade, dass auch sie zwischen den Disziplinen zu oft ignoriert wird. Vollmer ist da ein echter Lichtblick und erreicht auch viele junge Leute.

  3. Evolutionäre Erkenntnistheorie

    „Unser Erkenntnisapparat ist ein Ergebnis der Evolution. Die subjektiven Erkenntnisstrukturen passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in Anpassung an diese reale Welt herausgebildet haben. Und sie stimmen mit den realen Strukturen (teilweise) überein, weil nur eine solche Übereinstimmung das Überleben ermöglichte.“
    Ich kenn leider das Buch nicht. Was mich an dieser Aussage interessiert, ist folgendes. Gibt es empirische Untersuchungen zu dieser Aussage? Grundsätzlich kann ich mir schon vorstellen, dass diese Aussage zutrifft. Ich habe allerdings Schwierigkeiten, wie man den Erkenntnisapparat von Menschen entsprechender Epochen der Menschheitsgeschichte vergleichen kann. Selbst, wenn man das Mittelalter betrachtet, würde man möglicherweise nur den “Vorurteilen” der Neuzeit verfallen.

  4. Empirische Belege und Epochen

    Es gibt in der Tat viele empirische Belege für diese Aussage. Mein Tipp: Dieses Buch lesen!

    Es geht ja gerade um epochenübergreifende Denkmuster, was Epochenspezifisches nicht leugnet.

    Viel Spass bei der Lektüre!

  5. hypothetischer Realismus – Grundlage für

    “Eine ernst zu nehmende Kritik greift dagegen den hypothetischen Realismus an, welcher der EE zu Grunde liegt. Diese Diskussion würde hier zu weit führen …” – wieso?
    Das ist doch DER springende Punkt, warum “Evolutionäre Erkenntnistheorie (EE) … beileibe nicht im Zentrum philosophischer Debatten in der Erkenntnistheorie…” steht, was wohl nicht ganz stimmt in dieser drastischen Formulierung.
    Du kannst beruhigt sein, und Gerhard Vollmer auch: Wenn die diversen “Konstrukteure” der “Konstruktionen” der “Konstruktivismen” von der Philosophie ganz abgefallen sind in die Abteilung “intelligente Gamer” der gehobenen Unterhaltungsindustrie stecken geblieben sind, wird von Gerhard Vollmer und seinen Darstellungen immer noch die Rede sein.
    Auch ein gewisser Bateson hat da hervorragend Vorarbeit geleistet.
    Ebenso Bertalanffy, B. Rensch, und in gewisser Weise auch Schrödinger (lehnte es öffentlich ab, daß seine Thesen Konstruktivisten zur Verleugnung der Realität benutzen können!) und Stuart Kaufmann. Vollmer steht doch in der besten Tradition, und wenn ich an die Realistik des Joachim Bauer (“Das Kreative Gen”) denke, dann paßt das doch hervorragend!

    Darüber MUSS geredet werden.

  6. Warum Konrad Lorenz?

    Ergänzung
    Verstehe nicht, warum Vollmer hier zum Wort vorweg den Konrad Lorenz bemühen mußte, noch weniger verstehe ich, daß er HIER auch noch an ghobener Stelle gleich zu Beginn so herausgestellt wird.
    Glaube nicht, daß der damals noch ziemlich junge Vollmer in heutiger Zeit sich auch den Lorenz ausgesucht hätte.
    Dessen sehr schwierig zu beurteilende AKTIVE Nazi-Mitläuferschaft bis hin zu deutlich sozialdarwinistischen Schlußfolgerungen bezüglich kranker Menschen und aus heutiger Sicht – so wird allenthalben argumentiert – unsaubere und schlecht beschriebene Versuchsanordnungen, die z.T. heute in frage gestellt werden, schränken das Renome dieses großen Verhaltensforschers doch trotz Nobelpreis mächtig ein.
    Heute werben seine Worte nicht, sie kommen aus dem Munde eines Eugenikers, der, soweit bekannt ist, sich davon nie öffentlich losgesagt hat, das geht nicht.

  7. Berichtig: muß heißen DAS KOPERATIVE GEN

    Sorry!
    Habe leider den Buchtitel vom J.Bauer nicht korrekt angegeben: Statt der falschen Bezeichnung “Das kreative Gen” muß es richtig heißen: DAS KOOPERATIVE GEN

    (Wobei die falsche Bezeichnung dabei nicht uninteressant ist)

  8. EE

    Im Heft “Denkanstöße” bin ich als Laie zum ersten mal der EE begegnet. Leite ich daraus richtig ab, wenn ich sage, mit dem Tod (des Gehirns)verschwindet auch der Geist? Habe ich richtig verstanden , dass nach der EE der Geist eine Funktion des Gehirns ist?

  9. „Unser Erkenntnisapparat ist ein Ergebnis der Evolution. Die subjektiven Erkenntnisstrukturen passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in Anpassung an diese reale Welt herausgebildet haben. Und sie stimmen mit den realen Strukturen (teilweise) überein, weil nur eine solche Übereinstimmung das Überleben ermöglichte.“
    M. E. ist die These einerseits trivial (für denen, die Evolutionstheorie ernst nehmen), anderseits wird das Wesentliche nicht angesprochen bzw. verschleiert. Gerade die ist aus philosophischer Sicht interessant. Ich meine die Begrenztheit unserer Wahrnehmung der Realität als eine Voraussetzung für die Wahrnehmung überhaupt.

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