Warum gibt es so wenig neue Antibiotika?

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Es ist im Grunde ein bisschen müßig, den aktuellen Acinetobacter-Ausbruch an der Uniklinik Schleswig-Holstein in Kiel noch mal aufzudröseln. Man weiß nicht so genau, wie viele Leute tatsächlich direkt an dem Bakterium gestorben sind, und die Informationspolitik ist auch eher so meh, aber das ist auch nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass mal wieder ein gegen alles Mögliche resistenter opportunistischer Erreger quer durch die Intensivstation geschmiert wurde. Ist ja bei weitem nicht das erste mal.

Nun wär’s ja einfach, dem Krankenhaus und seinem medizinischen Personal unsauberes Arbeiten vorzuwerfen. Aber im Grunde ist das Kernproblem ein anderes: Die Viecher werden immer häufiger und tauchen an den unmöglichsten Orten auf. Es gibt immer mehr Resistenzen bei immer mehr Bakterien, während die Medizin seit Jahrzenten mit den gleichen Wirkstoffen hantieren muss. Die Frage stellt sich immer drängender: Wie bekommen wir neue Antibiotika?

Woher die Resistenzen stammen, darüber kann man so einiges in diesem Blog und anderswo nachlesen[1] – warum dagegen seit Jahrzehnten nahezu keine neuen Antibiotika auf den Markt kommen, ist eine etwas kompliziertere Frage. Am häufigsten liest man noch das ökonomische Argument: Antibiotika lohnten sich für die Pharmaindustrie nicht, weil der Markt zu klein sei. Deswegen habe sich die Industrie zurückgezogen, und das sei der Grund, weshalb es keine neuen Antibiotika gibt.

Die These hat viele Fans. Die einen freuen sich, dass die gierige Pharmaindustrie wieder Schuld ist, und die Industrie wiederum dürfte die Diskussion um großzügige finanzielle und regulatorische Anreize mit Wohlgefallen verfolgen. Allerdings glaube ich diese Erklärung nicht so ganz. Schließlich forschen nach wie vor diverse Unternehmen auf dem Gebiet – trotz erheblicher Investitionen ohne Erfolg. Ich vermute, die Ursache-Wirkungs-Beziehung ist genau umgekehrt: Die Unternehmen ziehen sich aus dem Gebiet zurück, weil sie schlicht nichts Brauchbares finden. Vieles deutet darauf hin, dass das Problem grundlegender ist: Neue Antibiotika sind weit schwieriger zu entdecken als andere Wirkstoffe.

Böse kleine Überlebensmaschinen

Die Probleme fangen schon damit an, dass Bakterien extrem schwer zu töten sind – besonders die ganzen Generalisten, die uns im Alltag so begegnen. Wenn man als einzelne Zelle durch die Gegend kriecht, muss man hart im Nehmen sein. Bakterien kommen mit sehr unterschiedlichen, oft widrigen Bedingungen klar, und vor allem sind sie es gewohnt, dass jemand versucht, sie umzubringen: Viren, Protozoen, das Immunsystem potenzieller Wirte und vor allem andere Bakterien. Deswegen hat die Evolution Bakterien, und besonders diejenigen, die unsere Körper befallen, zu bösen kleinen Überlebensmaschinen geformt.

Als solche haben sie gleich eine ganze Reihe Tricks auf Lager, wenn ihnen jemand an den Kragen will.  Spezielle Enzyme inaktivieren Antibiotika, und wenn gar nichts mehr hilft, sind immer einige Bakterien im Tiefschlaf, um nach dem Ende der Bedrohung wieder aufzutauchen. Membranproteine pumpen Gifte aus der Zelle heraus, die doppelte Zellmembran der gramnegativen Bakterien lässt sie gar nicht erst hinein. Acinetobacter in Kiel gehört zu dieser Gruppe. Das jüngst gefeierte Teixobactin zum Beispiel kann gegen sie nichts ausrichten.

Teixobactin ist allerdings ein sehr gutes Stichwort – seit Jahrzehnten nämlich suchen Teams an Universitäten und in Unternehmen vergeblich nach neuen Wirkstoffen, und jetzt findet eine Gruppe mit einem halb erprobten neuen Gerät gleich auf Anhieb eine neue Klasse? Ich werde den Verdacht nicht los, dass dieser Umstand auf ein tieferes Problem in der Antibiotikaforschung hindeutet. Haben sowohl Industrie als auch akademische Forschung jahrzehntelang in die falsche Richtung geforscht?

Irrweg automatisiertes Screening

Seit dem Ende des “goldenen Zeitalters” der Antibiotika-Entwicklung ging der Trend in der Medikamentenforschung immer mehr zu automatisierten Screenings von Substanzbibliotheken – im Wesentlichen Sammlungen von Abwandlungen eines als aussichtsreich identifizierten Moleküls. Seit dem Beginn der Genom-Ära um die Jahrtausendwende sind die Methoden noch mal ein ganzes Stück ausgefeilter geworden, man identifiziert jetzt molekulare Targets – im Fall der Antibiotika bestimmte Enzyme, die für die Bakterien lebenswichtig sind und nur bei ihnen vorkommen. Die Wirkstoffe werden dann auf diese Zielmoleküle zugeschnitten und gehen dann durchs Screening. Man nennt es Rational Drug Discovery; bei nahezu allen anderen Klassen von Medikamenten ist dieser Ansatz recht erfolgreich, bei Antibiotika haut es leider gar nicht hin. Es gibt nach allen mir bekannten Quellen keine Antibiotika, die über molekulare Targets entwickelt wurden. Null.

Im Nachhinein ist man ja immer schlauer. Bei näherer Betrachtung ist es völlig einsichtig, warum man so seltene und spezialisierte Moleküle durch Screenings nicht findet: Selbst wenn eine Substanzbibliothek Tausende oder Zehntausende verschiedene Moleküle enthält, verglichen mit der unfassbaren Vielfalt möglicher chemischer Verbindungen, oder auch nur mit der Anzahl tatsächlich in Naturstoffen verwirklichten Strukturen ist die Stichprobe vernachlässigbar klein. Man könnte viele Jahrtausende lang Moleküle screenen, ohne auch nur einen merklichen Bruchteil aller möglicher Strukturen abzudecken.[2] Wenn man sich dieses Missverhältnis mal klar macht, ist es eigentlich kein so großes Wunder, dass auf diesem Wege nichts zu holen ist.

Um weitere neue Antibiotikaklassen zu finden, muss man also nicht nur über Anreize für die Industrie reden, sondern auch über Methoden und Strategien. Vor allem müssen Mikrobiologie und Naturstoffforschung wieder einen Platz in der Medikamentenforschung finden – mikrobiologische Methoden haben eigentlich alle klassischen Antibiotika hervorgebracht, genauso wie das neue Teixobactin.

Wir brauchen eine Strategiedebatte

Der gleiche Mechanismus nämlich, der Bakterien so widerstandsfähig gegen Antibiotika macht, führt auch dazu, dass sie die wirksamsten Biozide entwickelt haben – ihre Waffen sind im Rüstungswettlauf mit ihresgleichen geschärft. Wir müssen also gar nicht den kompletten Phasenraum chemischer Strukturen absuchen – die Bakterien haben das bereits für uns getan – wir müssen nur nachgucken, was sie so gefunden haben. Dummerweise funktioniert das nicht automatisiert, schon gar nicht mit Bakterien, die sich in klassischer Kultur gar nicht züchten lassen. Und das dürften weit mehr als 99 Prozent aller Arten sein.

Das Problem ist möglicherweise auch eines der Unternehmenskultur: Eine Substanzbibliothek lässt sich in einer Tabelle darstellen und mit Hilfe von Robotern screenen. Es gibt Zahlen und Statistiken darüber, wieviele aussichtsreiche Treffer in so einer Bibliothek im Durchschnitt stecken und so weiter. Rational Drug Discovery eben. Für eine Controlling-Abteilung ist so eine Strategie wesentlich angenehmer als ein Haufen teurer Forscherinnen und Forscher, die Extrakte von Organismen gewinnen, die sie kaum kennen, und sie dann nach Stoffen durchsuchen, über die sie noch gar nichts wissen. Solche ergebnisoffene Forschung mit modernen Unternehmensstrukturen zusammenzubringen, dürfte nicht ganz einfach werden.

Es sieht aber so aus, als seien Antibiotika tatsächlich so selten und schwierig, dass man ihre Entdeckung nicht industrialisieren kann. In dieser Sichtweise ist es letztendlich der Versuch, Forschung durch Robotik zu ersetzen, der uns die Jahrzehnte dauernde Fundlücke bei den Antibiotika beschert hat. Die interessante Frage ist, ob in naher Zukunft tatsächlich ein Umdenken stattfindet – und ob die Industrie überhaupt bereit ist, allein für Antibiotika wieder in die recht aufwendige Naturstoffforschung einzusteigen, oder ob die noch aktiven Unternehmen langfristig auch ganz rausgehen. Dann müsste man tatsächlich mal ernsthaft über öffentlich-rechtliche Wirkstoffentwicklung nachdenken.

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[1] Wobei ich vor der aktuellen Mode- und Propagandadiagnose “Massentierhaltung” in diesem Zusammenhang warnen möchte. Die Hauptursache des Problems liegt nach wie vor in der Humanmedizin, auch wenn einige Interessengruppen das gerne anders hätten.
[2] Naheliegend ist natürlich die Frage: Wenn dem so ist, warum funktioniert das Prinzip dann bei Blutdrucksenkern, Psychopharmaka oder Krebsmedikamenten so gut? Das dürfte daran liegen, dass unsere Zellen so extrem spezialisiert sind. Der Körper garantiert ein exakt eingestelltes chemisches Milieu, Schutz vor Angriffen, Nahrungsversorgung und so weiter, und die einzelnen Gewebe müssen im Grunde nur noch ihren Job machen. Die Bedingungen innerhalb des Körpers sind so einheitlich, dass sie kaum eigene Verteidigungsmechanismen gegen chemische Provokationen haben. Deswegen sind unsere Zellen auch weit anfälliger gegen alle möglichen Gifte als Bakterien, und mithin auch zugänglicher für Wirkstoffe.

6 Kommentare

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  2. Ich glaube an die Industrialisierung als Akzelerator bei der Suche in einem mehrdimensionalen Suchraum. Nur ist es falsch, das zu industrialisieren, was man ohne grossen Aufwand industrialisieren kann, das Substanzscreening beispielsweise.
    Generell gilt es in die richtige Richtung zu forschen, unspezifisches Herumstochern ist ein viel zu grosser Aufwand. Was wäre denn die richtige Richtung in der Antibiotikaforschung. Ich kenn mich zwar überhaupt nicht aus auf diesem Gebiet, kann und muss darum frisch raten, was ich in der folgenden Liste tun will
    1) Vollkommene Entschlüsselung von Bakteriengenomen und Bakterienproteomen
    2 a) Simulation von Bakterien im Computer
    3) Systematische Erfassung aller Methoden mit denen Viren Bakterien lysieren
    4) Neuartige Bakterienzuchtmethoden entwickeln, beispielsweise mittels Genaktivierung
    5) Single Cell Analysis von Infektionsherden um die Immunantwort kennenzulernen mit dem Hintergedanken, dass man bestimmte Komponenten des Immunsystems aktivieren könnte, die für die Bekämpfung des Bakteriums wichtig sind (diese Methode muss nicht zu neuen Antibiotika führen, kann aber die Therapie verbessern.

  3. Ich tippe mal, dass man mit einem neuen Mittel nicht viel verdienen kann, weil man es, um Resistenzen zu vermeiden, nur begrenzt einsetzen würde.

  4. Ganz viele wichtige und richtige Punkte angesprochen! Vielleicht haben wir auch alle tiefhängenden Früchte schon gepflückt? –
    Eine existierende Alternative wird eigentlich seit einigen Jahren in der Wissenschaft als vielversprechend diskutiert: Enzyme von Phagen (natürliche Bakterienfeinde), denn die haben das ‘Screening’ durch Evolution hinter sich. Einige dieser Endolysine scheinen zumindest im Labor sehr vielversprechend zu sein, schaffen es aber nicht unbedingt in die Entwicklung zum Medikament. Warum? Weil genau das so enorm teuer und zeitaufwändig ist. Außerdem sind Enzyme empfindlich und lassen sich daher nicht unbedingt in Tabletten pressen oder in Infusionen und Säften lösen. Auch das ‘Scale-up’ für die Industrie kann ein echter Knackpunkt sein.
    Nachteilig: Die Phagenenzyme wirken nur gegen eine einzige oder eine sehr begrenzte Anzahl von Bakterienarten. Daher müsste vor Anordnung einer Therapie zunächst eine (molekulare) Diagnose des jeweiligen Erregers durchgeführt werden. Um Antibiotika zu sparen und gezielt einzusetzen sollte das auch jetzt schon viel häufiger getan werden. Und vielleicht wird es schon bald ein “Muss”.
    In der Praxis wäre das zunächst in mancher Hinsicht schwierig:
    1. Proben einzuschicken heißt, den Patienten warten zu lassen und ihn wieder einbestellen müssen. Man benötigte einfache, schnelle und sehr eindeutige Tests, die direkt in der Arztpraxis/am Krankenbett durchgeführt werden könnten.
    2. Ist das alternative Produkt für den Arzt gut handhabbar. Kann es der Patient auch zu Hause anwenden/einnehmen? Ist das Produkt über Apotheken zu vertreiben und damit verschreibungs’fähig’?
    3. Übernehmen die Krankenkassen nicht nur die Kosten für das Alternativprodukt, sondern ersetzen dem Arzt auch den diagnostischen Mehraufwand (Diagnose-Kits, Laborkosten).
    Ich arbeite z. Zt. für ein niederl. Biotechnologieunternehmen mit einem innovativen Medizinprodukt… Kann aus eigener Erfahrung sagen, dass Alternativen zu Antibiotika von Medizinern mit großer Skepsis beäugt werden, wenn sie denn überhaupt wahrgenommen werden.

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