Brachte die Chemie zwei Mal Leben hervor?

BLOG: Fischblog

Wissenschaft für alle
Fischblog

Hatte der erste aus der chemischen Evolution hervorgegangene Organismus Geschwister? Einige Argumente sprechen dafür, dass zeitgleich mit der ersten Zelle das erste Virus aus unbelebter Materie entstand.

Das Lindauer Nobelpreisträgertreffen naht mit Riesenschritten, und mein persönlicher Höhepunkt ist natürlich der Vortrag von Jack Szostak. Der arbeitet nämlich tatsächlich an künstlichen Zellen und hat auch viel Sinnvolles über den Ursprung des Lebens zu sagen. Außerdem hat mir Alex von Alles was lebt vor einer Weile zwei Papers zukommen lassen, die sich ebenfalls mit diesem Thema beschäftigen, allerdings aus einem etwas anderen Blickwinkel.

ResearchBlogging.orgDie Veröffentlichungen von Eugene Koonin et al. stellen die Hypothese vor, dass Viren zu den ersten Lebensformen überhaupt gehörten. Das erscheint zuerst einmal unlogisch, denn Viren können sich ohne die biochemische Maschinerie der Zellen nicht vermehren – deswegen geht man davon aus, dass Viren erst nachträglich entstanden. Es gibt allerdings die Alternative, dass Zellen und Viren von Anfang an nebeneinander evolviert sind, und zwar aus den selbstreplizierenden Erbgutschnipseln der RNA-Welt, die von vielen als wahrscheinlicher Ursprung des Lebens betrachtet wird.

Der Kern von Koonins These ist im Grunde, dass einer der entscheidenden Schritte bei der Entstehung von Organismen, die Trennung von Innen und Außen, nicht nur einmal vollzogen wurde. Außerdem wird er ein ganzes Stück nach hinten verlegt, an einen Punkt, an dem sich schon verschiedene Strategien im Kampf ums Dasein herausgebildet hatten. Das führte dazu, dass mehrere teils grundverschiedene Typen von Hülle entstehen konnten: Zellulären Membranen aus verschiedenen Lipiden einerseits und zum anderen die Eiweiß-Capside vieler Viren.

Für dieses Szenario sprechen laut Koonin vor allem die grundlegenden chemischen Unterschiede zwischen den Membranen von Eubakterien und Archaeen und der Maschinerie ihrer Bildung. Das deutet darauf hin, dass ihr gemeinsamer Vorfahr keine oder nur eine sehr rudimentäre Membransynthese kannte.[1] Dagegen scheinen die Komponenten der Proteinbiosynthese sehr alt zu sein, insbesondere die RNA-Anteile. Es ist auch eine Grundbedingung für Koonins These, dass der Mechanismus zur Bildung von Proteinen der Entstehung von Zellen vorausging, während an der Basis von allem die Replikatoren selbst stehen, die alle Lebensformen gemeinsam haben.

Wie komplex war die präbiotische Chemie?
Damit kommen wir wieder zu den Viren. Koonins Szenario sieht folgendermaßen aus: Vor der Entstehung der ersten Lebewesen hatte sich eine Ansammlung von Replikatoren etabliert, die Koonin als primordialer Genpool bezeichnet. Das kann man sich durchaus bildlich als ein Gewässer vorstellen, in dem verschiedene Makromoleküle herumschwimmen, die Kopien von sich selbst erstellen und evolvieren können. Soweit entspricht das dem klassischen Replication-first-Szenario der RNA-Welt.

Der Unterschied ist der, dass im Viruswelt-Szenario die Replikator-Welt schon eine beträchtliche Komplexität aufweist, lange vor der ersten Zelle. Einige wesentliche Cluster von Replikatoren, die sich selbst aufrecht erhalten können, entstehen und werden später zu den ersten zellulären Systemen. Und schon hier spaltet sich der Stammbaum des Lebens dann grundsätzlich auf.

Einerseits sind da die Systeme aus Erbgutsträngen, die nach und nach hilfreiche Erfindungen – zum Beispiel die Proteinsynthese – entwickeln und später zu Zellen werden, und andererseits ein Schwarm opportunistischer Replikatoren, die sich ganz wie zu Beginn der RNA-Welt schlicht unter den gegebenen Bedingungen am besten vermehren – indem sie nun die die von den Zellvorläufern geschaffene Komplexität zum eigenen Vorteil zu nutzen wissen. Die Viren.

Beide Gruppen evolvierten gemeinsam in der präzellulären Replikatorenwelt, und anders als in der gängigen Vorstellung des RNA-Welt-Szenarios ist die erste Zelle eben nicht die einzige Erbin der chemischen Evolution und damit Urahnin allen Lebens. Sie bringt Geschwister mit, nämlich die parasitären Replikatoren, die sich zur Vermehrung an anderswo verfügbarer Biochemie bedienen.

Das doppelte Ur-Genom
Diese parasitären Replikatoren darf man sich dabei nicht als frei herumschwimmende Erbgutstückchen vorstellen. Vielmehr postuliert die Viruswelt-These, dass sich auch die Urahnen der Viren schnell Hilfsmoleküle zugelegt haben, nur eben völlig andere als die Zell-Urahnen. Wie das Genom des gemeinsamen Vorfahren aller Zellen sollte demnach auch aus modernen Viren ein minimales Gen-Repertoire des Ur-Virus rekonstruierbar sein, und dieser Satz von Genen muss sich grundlegend von dem der Zellen unterscheiden.

Tatsächlich lassen sich laut Koonin, das ist einer der Zentralpfeiler der These, Spuren dieser völlig anderen Abstammungslinie finden. Er listet unter anderem das große Capsid-Protein der ikosaedrischen Virionen, die Reverse Transkriptase, die RNA-abhängige RNA-Polymerase und noch ein paar andere. Diese Gruppe von Virusproteinen ist so weit über so viele unterschiedliche Virusfamilien verteilt, dass Koonin sie als gemeinsames Grundelement aller Viren aus präzellulären Zeiten ansieht.

In diesem Modell kommt der chemischen Evolution plötzlich eine viel größere Bedeutung zu als in den bisherigen Szenarien. Hier ist sie nicht nur das Vorspiel, aus dem irgendwie der erste gemeinsame Vorfahr hervorgeht, der dann tabula rasa macht. Koonin entwirft das Bild eines chemischen Ökosystems, in der schon Gemeinschaften und Strategien möglich sind. Es ist, so gesehen, ein neuer Blickwinkel auf das Verhältnis von Chemie und Biologie zu Beginn der Ära des Lebens. Spannend ist das allemal, und wie weit diese Vorschläge tatsächlich dazu beitragen, den Ursprung des Lebens zu erhellen, wird die Zukunft zeigen.
.
.
.
[1] Allerdings deuten Rekonstruktionen des „Ur-Genoms“ des Lebens darauf hin, dass mit der H+-ATPase und Fragmenten des SRP zwei wesentliche Membranfunktionen schon im Repertoire des gemeinsamen Vorfahren allen zellulären Lebens vorhanden war.

Koonin, E. (2009). On the Origin of Cells and Viruses Annals of the New York Academy of Sciences, 1178 (1), 47-64 DOI: 10.1111/j.1749-6632.2009.04992.x

8 Kommentare

  1. Spannend

    Das hieße, es gab eine RNA/Protein-Coevolution, und die, bzw richtiger ein Teil davon, hat sich dann die Membran-Evolution gekapert?

    Cool.

    Und in diesem RNA/Protein-Teich sind dann freilaufende Ribosomen am Werk gewesen? Beeindruckend!, halt uns auf dem Laufenden!

    Danke & Grüße,

    z.

  2. Freilaufende Ribosomen…

    …würde ich so nicht sagen. Aber Soweit ich das verstehe sind die tRNAs durch die Bank von Anfang an dabei. Das spricht schon dafür, dass RNA und Proteine in der präbiotischen Phase unter einer Decke gesteckt haben.

    Ich persönlich bin ja immer noch der Meinung, dass alles mit Membranen und Energiestoffwechsel an Grenzflächen anfing, aber das Szenario ist schon spannend.

  3. Szostak kommt nach Heidelberg

    Kaum zu glauben, aber ich habs immer noch nicht geschafft, Koonins Paper ganz zu lesen… umso besser, dass du das so spannend zusammengefasst hast, danke!
    Aber ganz ehrlich: Ich will mich, was die verschiedenen Modelle der Abiogenese angeht, nicht festlegen müssen. Viele verschiedene clevere Modelle, wenig Substanzielles zum Ausschließen möglicher Kandidaten.
    Das mit den Viren wäre aber schon spannend. Man muss sich das mal überlegen: In den letzten Jahren mehren sich die Stimmen, die von der Entdeckung eines zweiten Lebens neben unserem träumen. Und vielleicht kennen wir es schon seit Jahrzehnten.

    Im Mai nächstes Jahr wird Jack Szostak übrigens einen Vortrag am EMBL in Heidelberg halten, ich werde sicher versuchen, hinzukommen!

  4. Ribosomen, nochmal

    Ich bin da ja nur kurioser Laie 😉 – aber welche andere Kopplung von xNS in Richtung Proteine gibt es denn noch? Ohne Ribosomen ist das alles eher “sinnlos”. Die Dinger sind doch eher die Inkarnation (ehem) dieser Kopplung.

    Was nützts, wenn die tRNA hektisch ihre Aminosäuren hin- und hertragen, wenn sie niemand zu nem Protein zusammenstöpselt.

    Über diesen frühen Teil der Evolution ernshafte Wissenschaft zu treiben, ist ja nicht so einfach. Bin gespannt, was da noch so an Ideen auftauchen.

    z.

  5. @zero

    In der RNA-Welt braucht es noch keine Ribosomen, weil RNA im Gegensatz zu DNA nicht nur Informationsspeicher ist, sondern auch enzymatische Aktivität haben kann. Siehe beispielsweise heutige rRNA und Ribozyme.
    Die Idee ist, dass die frühen RNA-Replikatoren eine Sequenz besaßen, die zu einer bestimmten Faltung der RNA führten. Diese Faltung ermöglicht dann das Kopieren genau dieser RNA-Sequenz. Die RNA hat sich vermehrt.

  6. @alexander

    Das heißt, wir haben drei parallele Evolutionen?: RNA, Proteine, Membranen – und die einzigen mit der Fähigkeit, Informationen zu speichern, haben dann

    a) den Rest übernommen.
    b) sind zT selbständig geblieben.

    Immer noch spannend 😉

    z.

  7. @zero

    Nein, nach der ursprünglichen RNA-Welt Hypothese gab es nur eine Evolution.
    Die fing an mit selbstreplizierenden RNA-Molekülen. Die können zwar sowohl Informationen speichern, als auch biochemische Reaktionen betreiben, aber beides eher schlecht und langsam.
    Deshalb hat sich mit der Zeit aus diesen frühen RNAs eine Arbeitsteilung entwickelt – DNA als besserer Informationsspeicher, Proteine als bessere Biokatalysatoren. Die heute vorhandenen RNAs stellen danach eine Art Relikt dar, die die beiden angeblich besseren Systeme verknüpfen.
    Ribosomen müssen während diesem Übergang entstanden sein, um aus RNA Proteine machen zu können. Dass Ribosomen wohl evolutionär uralt sind, spricht für diese Sicht, genauso wie ihre Zusammensetzung aus Proteinen und RNAs.

    Die Sache mit den Membranen ist ein wenig komplizierter. Da streiten sich viele schlaue Leute schon seit Jahrzehnten, wann sie entstanden sein könnten, und wie. Falls die RNA-Welt-Hypothese zutrifft (und selbst hier gibt es jede Menge Gegenhypothesen), dann brauchten die frühen selbstreplizierenden RNAs keine Hülle. Spätestens aber mit der Übertragung der Aufgaben auf DNA und Proteine müssen die Moleküle durch eine Hülle zusammengehalten werden.
    Andere Ideen setzen die Hülle an den Anfang des Lebens – anorganische Oberflächen wie etwa Lehm oder Eisen-Schwefel-Verbindungen aus Tiefseeschloten sollen biochemische Reaktionen katalytisch unterstützt haben, und die Diffusion von Nährstoffen etc. beschränkt haben.
    Du siehst, Ideen gibt es hier zuhauf, es mangelt auf diesem Gebiet vor allem an greifbaren Beweisen.

  8. Membranen und der Ursprung des Lebens

    “Andere Ideen setzen die Hülle an den Anfang des Lebens – anorganische Oberflächen wie etwa Lehm oder Eisen-Schwefel-Verbindungen aus Tiefseeschloten sollen biochemische Reaktionen katalytisch unterstützt haben, und die Diffusion von Nährstoffen etc. beschränkt haben.”

    In diesem Zusammenhang verweise ich auf einen älteren Text von mir, in dem ich eine solche Hypothese vorgestellt habe.

Schreibe einen Kommentar