Wie Antibiotika-Resistenz den Fortbestand unserer Gesellschaft gefährdet

BLOG: Fischblog

Wissenschaft für alle
Fischblog

Immer mehr Bakterien sind resistent gegen Antibiotika. Das ist nicht nur ein medizinisches Problem, sondern auch ein ökonomisches und kulturelles, argumentieren zwei britische Experten. Ohne Antibiotika könnte im Extremfall das gesamte Gesundheitssystem zusammenbrechen – und mit ihm vieles, was die moderne westliche Gesellschaft ausmacht.

Ich mag ja Weltuntergänge mit Explosionen. Es ist allerdings relativ unwahrscheinlich, dass wir auf so spektakulärem Wege das Zeitliche segnen, der Untergang früherer Zivilisationen lehrt vielmehr, dass scheinbar zweitrangige Bedrohungen am wirtschaftlichen und politischen Fundament einer Zivilisation nagen und so schließlich den Niedergang auslösen.

Zu den bisher unterschätzten Kandidaten für die Totengräber der Welt, wie wir sie kennen, gehören antibiotikaresistente Bakterien. Die haben sich in den letzten paar Jahren epidemisch ausgebreitet, zuerst in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, inzwischen aber auch überall sonst. Grundlegende Ursache ist die bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit der Krankheitserreger – seit es Antibiotika gibt, entstehen Resistenzen. Aber das eigentliche Problem ist ein anderes: Die moderne Infektionsbekämpfung ist ein permanenter Wettlauf gegen die Evolution – und wir fallen zurück.

alt

Anteil von MRSA an allen Staphylokokken-Infektionen im Jahr 2008. Institute for Public Health and the Environment (RIVM), Bilthoven, NL. CC BY-SA

Schon heute verursachen solche Bakterien wie MRSA, Klebsiella und andere haufenweise schwere Erkrankungen und Todesfälle. Aber die Entwicklung könnte in Zukunft noch viel drastischere Folgen haben. In einem Artikel für’s BMJ haben sich die Gesundheitsökonomen Richard Smith und Joanna Coast der Frage gewidmet, was passiert, wenn der Trend so weitergeht und irgendwann Antibiotika generell weitgehend wirkungslos sind.

Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die medizinischen und vor allem ökonomischen und sozialen Folgen eines solchen Szenarios derzeit drastisch unterschätzt werden. Die Auswirkungen bedrohen den Bestand unserer Gesellschaft. Auch die medizinische Beraterin der britischen Regierung kam jüngst zu dem Schluss, resistente Bakterien seien eine “apokalyptische” Bedrohung. Es geht halt nicht nur um den infizierten Schnitt am Fuß: Die Folgen eines solchen Rückfalls in die vormoderne Medizin wären auch eine ökonomische und kulturelle Katastrophe.

Teure Resistenzen

Bisher scheinen die meisten Untersuchungen im Wesentlichen die aktuelle Zahl von Infektionen zu betrachten und dann Kosten und Sterblichkeit für den Fall zu berechnen, dass all diese Infektionen multiresistent sind. Man vergleicht da quasi eins zu eins den Aufwand durch einen resistenten Erreger mit seinem empfindlichen Gegenstück, und damit kommt man dann auf bis zu etwa 50.000 Euro zusätzlichen Kosten pro Behandlung, je nachdem um welche Erreger es geht und wie man zählt: Nicht nur die Behandlung mit dem Antibiotikum schlägt hier zu Buche, sondern vor allem der größere Aufwand bei der Pflege. Krankenhaustage kosten Geld, und teuer ist auch die Diagnostik, denn man muss nicht nur den Erreger identifizieren, sondern auch sein Resistenzprofil.

Aber wie Smith und Coast im BMJ erklären, ist das nur die halbe Geschichte. Antibiotika leisten in der Medizin viel mehr als nur akute Infektionen zu bekämpfen. Man hält heute zum Beispiel bei chirurgischen Eingriffen die Infektionsrate niedrig, indem man Prophylaxe mit Antibiotika betreibt – insofern ist es wenig sinnig, für eine Kostenrechnung aktuelle Infektionszahlen einfach mit den Zusatzkosten zu multiplizieren. Wieviele zusätzliche Infektionen man zu erwarten hat, ist allerdings auch ausgesprochen schwer einzuschätzen.

Wieviele zusätzliche Infektionen gäbe es wirklich?

Smith und Coast wagen sich an einen Versuch, das Ganze am Beispiel von Hüftgelenksprothesen durchzuexerzieren – beileibe keine seltene Operation und ein verhältnismäßig schwerer Eingriff. In den USA holen sich dabei etwa 0,5 bis 2% der Patienten trotz Prophylaxe eine Infektion, in Deutschland scheint die Rate unter einem Prozent zu liegen. Wie stark stiege die Zahl der Infektionen bei chirurgischen Eingriffen ohne Prophylaxe? Als Vergleich verwenden die beiden Daten von Amputationen, und ihre Schlussfolgerungen sind ziemlich furchterregend: Bis zur Hälfte aller so operierten Patienten könnten sich demnach Infekte einhandeln, und von diesen ein Drittel sterben.

Allerdings habe ich meine Zweifel, dass diese Zahl aussagekräftig ist. Zum einen kann man die beiden Arten von Eingriffen schlicht nicht so einfach vergleichen. Und selbst ganz am Anfang, als die Hüftgelenksprothese eine experimentelle Prozedur war, traten nur in etwa 10 Prozent der Fälle Komplikationen, darunter Wundinfektionen, auf. In den Kommentaren zum Paper zitiert jemand auch Infektionsraten von 1,6 % ohne Prophylaxe. Einerseits. Andererseits sind all diese Zahlen schon im Kontext einer Medizin, die im Grunde von vorne bis hinten auf Antibiotika angewiesen ist – in der Krebstherapie genauso wie in der Zahnmedizin oder bei der Geburtshilfe. Selbst wenn eine Prozedur ohne Prophylaxe geschieht, läuft sie deswegen unter einem krankenhausweiten Schutzschirm aggressiver antimikrobieller Therapien ab. Was passiert, wenn der Schutzschirm wegfällt, ist, vorsichtig gesagt, völlig offen.

Klar scheint mir allerdings zu sein, dass die Infektionsraten dann deutlich ansteigen, und dass diese Infektionen dann auch schwerer zu behandeln sein werden. Auch mit effektiven sterilen Verfahren würde das Risiko von Komplikationen gegenüber heute, mit Infektionsraten und postoperativer Sterblichkeit im Zehntelprozentbereich, drastisch zunehmen, genauso wie die Anzahl Krankenhaustage – und entsprechend die Kosten. Kleinere Eingriffe schneiden da im Verhältnis wahrscheinlich sogar schlechter ab: Ich bin vor Weihnachten binnen vier Tagen drei mal am Arm operiert worden, ohne mir über Risiken Gedanken machen zu müssen. Wenn Infektionen mangels Antibiose häufiger werden und man plötzlich Komplikationszahlen oder gar Sterblichkeit im Prozentbereich bekommt, dann gibt es keine kleinen, unkomplizierten Prozeduren mehr.

Das System ist verwundbar

Außerdem zeigen schon heute resistente Erreger, wie verwundbar Krankenhäuser sind: Wenn sich so eine Infektion ausbreitet, bringt das den gesamten Betrieb durcheinander, wie zum Beispiel diese Klebsiella-Epidemie demonstriert. Wie ein normaler Krankenhausbetrieb, in dem ja viele schwache und anfällige Menschen auf engem Raum liegen, ohne Antibiotika regelmäßige Ausbrüche vermeiden kann, ist mir nicht ersichtlich. Sobald so ein Erreger rumgeht, müssen die betroffenen isoliert werden (wie in meinem Artikel über Klebsiella beschrieben), damit Ärzte und Pflegepersonal die Keime nicht verschleppen. Heute ist sowas noch selten. Wie ein Krankenhaus funktionieren soll, wenn Ausbrüche häufiger oder gar der Normalfall sind, erscheint mir schwer vorstellbar.

Für das Gesundheitssystem hätte das Szenario weitreichende Konsequenzen: Schon kleinere Chirurgische Eingriffe, heute überwiegend harmlos und kalkulierbar, wären potenziell lebensgefährlich, insbesondere für alte und schwache Patienten und Kleinkinder. Und auch wer nicht stirbt, muss mit schwierig zu behandelnden Infektionen rechnen. Entsprechend würden sich viele Patienten wohl gegen einen Eingriff entscheiden und lieber das Problem in Kauf nehmen, dass die OP beheben sollte. Entsprechend stiege die allgemeine Krankheitslast an, besonders bei chronischen Sachen, die derzeit noch leicht zu behandeln sind. Und so weiter.

Diese erstmal rein medizinischen Folgen würden, da bin ich mir sicher, Schockwellen durch das gesamte Gesundheitssystem senden. Zum einen steigen mit mehr Infektionen die Behandlungskosten immens, und zum anderen ist unser Gesundheitssystem derzeit schlicht darauf ausgerichtet, dass invasive Eingriffe vergleichsweise wenige Risiken bergen und dass mit diesen überwiegend chronische Erkrankungen gemanagt und gemildert werden. Je mehr Ressourcen jedoch von der Rückkehr der Infektionen gebunden werden, desto weniger Geld bleibt letztendlich für andere, nicht für Notfälle gedachte Prozeduren. Künstliche Hüftgelenke gäb’s dann möglicherweise nur noch für Reiche.

Endgame – und zwar bald

Das heißt, es geht ums Ganze. Um die gesamte moderne Medizin, die an diesen Antibiotika hängt, und um die Gesellschaft, in der die Medizin nicht nur Krankheitslast und Sterblichkeit deutlich reduziert hat, sondern auch die Folgen riskanten individuellen Verhaltens: Ohne Antibiotika ist womöglich schon das Verschrauben eines gebrochenen Knochens potenziell lebensbedrohend.

Das ist auch kein Szenario aus der fernen Zukunft. Resistente Erreger breiten sich rapide aus und tauchen inzwischen fast überall auf. Noch vor zehn Jahren noch war das Thema Antibiotikaresistenz ein reines Expertenthema. Wie viel Zeit wir noch haben, etwas dagegen zu unternehmen, wissen wir nicht genau. Und selbst wenn wir es wüssten, ist nicht mal gesagt, dass wir die Kurve noch kriegen können.

Die Staaten haben die Infrastruktur nicht, um neue Antibiotika zur Marktreife zu bringen, und die Unternehmen, die sie haben, tun es aus ökonomischen Gründen nicht. Anders als Mittel gegen chronische Leiden wie Bluthochdruck nehmen Patienten Antibiotika nur für einen kurzen Zeitraum ein – verglichen mit Wirkstoffen, die Patienten über Jahre hinweg oder gar ihr ganzes Leben nehmen, ist ihr ökonomisches Potenzial begrenzt. Ein Antibiotikum zu entwickeln und durch die klinische Prüfung zu bringen, kostet allerdings genauso viel wie für jedes andere Medikament, so dass Pharmaunternehmen ihre Ressourcen seit geraumer Zeit aus diesem Gebiet abgezogen haben.

Kommt der große Crash?

Das ist umso ärgerlicher, als dass wir die besten und effektivsten Antibiotikaklassen wahrscheinlich alle schon kennen: Die waren am einfachsten zu finden. Auch die jüngsten Qualitäts- und Sicherheitsprobleme mit neuen Wirkstoffen deuten darauf hin, dass die Rosinen alle gepickt sind. Das heißt, die ökonomische Perspektive der Antibiotikaforschung ist nicht nur schlecht, sie wird auch kontinuierlich schlechter.

Es ist also höchste Zeit, auf internationaler und globaler Ebene etwas zu unternehmen. Doch momentan gelten Antibiotikaresistenzen weithin als rein medizinisches Problem, und die potenziellen ökonomischen und gesellschaftlichen Risiken der zunehmenden Antibiotikaresistenzen hat kaum jemand, geschweige denn eine Regierung, auf der Rechnung. In den Kommentaren zu dem Beitrag von Smith und Coast weist ein australischer Gesundheitsbeamter auf eine interessante Parallele hin:

There is more than a passing resemblance between the underestimation of antimicrobial costs that Smith and Coast describe here – generated from probabilistic health economics models – and underestimation of default in the much-vilified risk models for derivatives that brought us the banking crisis.

Wir wissen ja, wie das ausgegangen ist.

Addendum: Wegen der großen Nachfrage nach Informationen zu Antibiotika-Alternativen hier noch mal zwei meiner Beiträge zum Thema.

Antibiotika-Alternativen, Teil I: Phagentherapie

Antibiotika-Alternativen Teil II – Zellwandhydrolasen

Der dritte Teil über Antimikrobielle Peptide ist grade in Vorbereitung.

11 Kommentare

  1. Hygieneschleusen

    Was mich an Krankenhäusern immer fasziniert, ist diese Freiheit. Man kann da auch – oder gerade – als Besucher frei rein und raus gehen. Im Stall undenkbar. Dort gibt es Hygiene-Schleusen, Desinfektion für Hände und Schuhe und Schutzanzüge. Lustigerweise gibt es Desinfektions-Spender auch in Krankenhäusern – aber eben DRIN. Niemand käme auf die Idee sich IM Stall umzuziehen und desinfizieren.
    Vielleicht wäre das mal ein Anfang, um zumindest den Eintrag von außen zu minimieren.

  2. Naja…

    Andererseits ist es ja im Fall des Krankenhauses auch genau umgekehrt: Die Kranken sind schon drinnen (das ist der Sinn der Sache) und die Keime sollen möglichst nicht durch die Gegend geschleppt werden. Eine Schleuse macht dann Sinn, wenn drinnen die Gesunden und draußen die Erreger sind – wie in einem Stall.

  3. Als Patient im Krankenhaus zu sein bedeutet ja nicht zwangsläufig, dass man irgendeinen infektiösen Kram mit sich rumschleppt. Nimm mal das Hüftbeispiel…die Menschen sind ja nicht krank, die können “nur” nicht mehr laufen. Trotzdem müssen sie mit der “Wunde” in einem sauberen Umfeld sein. Deshalb denke ich, dass solche Schleusen zumindest stationsweise interessant wären.

  4. Was ist denn aus dem Phagen-Ansatz …

    geworden. Es gab doch schon vor Jahrzehnten den vielversprechenden Ansatz Für jeden Bakterienstamm eigene Phagen zu kultivieren. (Unter anderem in der Zeit von 2003 beschrieben: http://www.zeit.de/…gentherapeut/komplettansicht )

    Und in Holland gibt es laut meiner Kenntnis inzwischen auch Ansätze die Verbreitung grade auch in Krankenhäusern zu minimieren. Interessanter weise gerade durch weniger zentralisierte Desinfektionsprozesse.

  5. Zitat:
    “Die Staaten haben die Infrastruktur nicht, um neue Antibiotika zur Marktreife zu bringen, und die Unternehmen, die sie haben, tun es aus ökonomischen Gründen nicht.”

    Ich persönlich bin da zuversichtlich, dass wenn der Druck stark genug ist die Staaten “Argumente” finden werden um die Unternehmen zu “überzeugen”, dass es auch in ihrem Sinne ist, sich in diesem Segment mehr einzusetzen.

    Anscheinend ist in den Augen der Verantwortlichen der Druck noch nicht stark genug.

  6. Peptide als Antibiotikaersatz

    Es gibt ja nicht nur Antibiotika mit dieser Wirkung, sondern auch andere Wirkstoffe. Es wird ja auch gerade an ganz anderen Klassen geforscht, z.B. Peptiden.
    http://www.fraunhofer.de/…ve-zu-antibiotika.html
    Insofern sehe ich lediglich eine Gefahr in den langen Zeiten, die es braucht, neue Wirkstoffe zuzulassen.
    Weshalb da im Moment wieder so Panik geschürt wird, ist mir nicht ersichtlich.

  7. Wirtschaftszweig

    Infektionen mit resistenten Keimen sind zur Zeit ein Randproblem, die Behandlungskosten steigen, die Versicherungskosten steigen, aber am Ende wächst die Gesundheitswirtschaft. Das menschliche Leid wird nicht verbucht.
    Wenn die Angst das Patientenverhalten ändert, steigt nicht nur die Krankheitslast, auch der Umsatz fällt ins Bodenlose. Der Vergleich mit der Finanzwirtschaft ist treffend: Alle haben Angst, aber keiner kann etwas ändern. Die Anbieter von Endoprothesen investieren auch nicht in die Antibiotika-Forschung. Der Ruf nach mehr staatlicher Forschung und Eingriffen in die wirtschaftliche Freiheit der Antibiotika-Anwender ist für die Wirtschaftsliberalen allerdings Teufelszeug.

  8. Über Alternativen zu Antibiotika…

    …und deren Probleme in der Praxis habe ich hier im Blog schon ausführlich geschrieben:

    Antibiotika-Alternativen, Teil I: Phagentherapie

    Antibiotika-Alternativen Teil II – Zellwandhydrolasen

    Der dritte Teil über Antimikrobielle Peptide ist grade in Vorbereitung.

    Dass es sowas theoretisch irgendwo gibt, ist ja schön und gut, aber eine Pressemitteilung hat noch keine Infektion geheilt. Im Moment ist schlicht nicht absehbar, wann diese Sachen in der klinischen Praxis auftauchen.

  9. Danke

    , anzunehmenderweise solid zusammengefasst:

    Es ist also höchste Zeit, auf internationaler und globaler Ebene etwas zu unternehmen. Doch momentan gelten Antibiotikaresistenzen weithin als rein medizinisches Problem, und die potenziellen ökonomischen und gesellschaftlichen Risiken der zunehmenden Antibiotikaresistenzen hat kaum jemand, geschweige denn eine Regierung, auf der Rechnung.

    Was unternehmen?

    MFG
    Dr. W

  10. Das Schlimme ist

    .dass Ihre Artikel mir meistens erstmal die Sprache verschlagen. Oder ich panisch versuche, zu vergessen, was ich gerade gelesen habe. Ist dann immer schwierig mit klugen, wissenschaftlich fundierten Kommentaren. Bei mir sowieso.

    Gut geschrieben, ich habs verstanden 🙂

  11. Pingback:Warum gibt es so wenig neue Antibiotika? › Fischblog › SciLogs - Wissenschaftsblogs

Schreibe einen Kommentar