Ein Evolutions-Experiment: Der Lenski-Versuch mit Sex

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Das Long-Term Evolution Experiment hat unser Wissen über die Evolution enorm erweitert. Es hat nur einen Nachteil: Die beteiligten Organismen vermehren sich ungeschlechtlich.

Eigentlich sollte jeder schon mal vom Long-Term Evolution Experiment gehört haben. Seit 1988 züchtet Richard Lenski an der Michigan State University zusammen mit seinen Mitarbeitern Colibakterien und beobachtet ihre Evolution, inzwischen über weit über fünfzigtausend Generationen hinweg. Die Resultate sind jedenfalls nicht nur vielfältig, sondern streckenweise spektakulär, weil Lenski eben nicht nur beobachtet, was mit seinen Viechern passiert, sondern dank seines ausgeklügelten Versuchsaufbaus hinterher auch nachvollziehen kann, wann es passiert ist, von welchen genetischen Veränderungen es abhängt und in welcher Reihenfolge sie aufgetreten sind.

Nun sind Bakterien, bei aller Bewunderung für die kleinen Viecher, vergleichsweise einfache Lebensformen. Vor allem tauschen die Organismen in Lenskis Experiment kein Genmaterial untereinander aus. In diesem Fall ist das Absicht, um die Verhältnisse möglichst einfach zu halten, aber die interessantesten Fragestellungen der Evolutionsbiologie betreffen nun mal Lebewesen, die ihr Genmaterial austauschen. Es liegt nahe, einen Versuch nach dem Muster des Long Term Evolution Experiment mit Organismen zu starten, die Sex haben. Auch in diesem Fall gilt allerdings: Sex macht alles viel komplizierter.

Die zwölf Stämme
Lenskis Langzeitversuch funktioniert grob gesagt folgendermaßen: Zwölf Kulturen des Bakteriums E. coli wachsen in getrennten Kulturflaschen. Jeden Tag ziehen die Forscher aus jeder Flasche zwei Proben: Eine Probe wird quasi als Fossil eingefroren, die zweite in eine frische Kulturflasche transferiert. Dort vermehren sich die Bakterien dann, bis der gesamte Nährstoff verbraucht ist, und am Ende des Zyklus wird wieder eine Probe der Lösung eingefroren und eine neue Flasche angesetzt. Das Ergebnis ist für jede einzelne Kultur eine zwanzig Jahre lange Abfolge von Wachstum und Hunger, und jeder einzelne Zyklus ist in Form einer eingefrorenen Bakterienkultur dokumentiert – in Lenskis Eisfächern liegt die komplette Evolutionsgeschichte jeder einzelnen Population. Das ist die Ausgangsbasis für die Experimente, mit denen Lenski seine beeindruckenden Ergebnisse über evolutionäre Trends und ihre Mechanismen erzielt hat.

Umso unbefriedigender ist es, dass sich die Bakterien nur ungeschlechtlich vermehren. Sex nämlich gehört zu den wichtigsten Mechanismen der Evolution – mit der Entwicklung der Zweigeschlechtlichkeit hat die Natur die Karten neu gemischt, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Nur mit sexueller Fortpflanzung gibt es einen echten Genpool: Da jedes Individuum von jedem Chromosom zwei Exemplare hat – eins von der Mama, eins vom Papa – kann jedes Allel eines Gens mit jedem anderen aus der gesamten Population kombiniert werden. Statt permanent auf Leben und Tod gegeneinander anzutreten, mischen sich die Allele mit jeder Generation neu.

Sexuelle Fortpflanzung (oben) kombiniert Gene aus verschiedenen Linien. Bei asexuellen Arten (unten) dauert es dagegen ungleich länger, einen vorteilhaften Genotyp AB in einer Population zu erzeugen.  Bild: MykReeve/sonarpuls, public domain

Als Konsequenz funktioniert Evolution mit Sex völlig anders. Ein Allel in einer Bakterienkolonie setzt sich durch, indem sich seine Träger schneller fortpflanzen als alle anderen, bis sie irgendwann alle Konkurrenten verdrängt haben. Fertig. Sobald Sex ins Spiel kommt, tritt ein “gutes” Allel immer nur in Kombination auf – und wird bei der Fortpflanzung nicht zwangsläufig weitergegeben. Was das im Detail bedeutet, beschreibt die Neutraltheorie, ein kompliziertes und bis heute nicht vollständig verstandenes mathematisches Modell der Häufigkeiten verschiedener Allele im Genpool. Ich empfehle diese Serie von Emanuel Heitlinger zum Einstieg – hier genügt es zu sagen, dass die Bakterien-Variante einfacher ist.

Sex – aber mit wem?
Ein dem LTEE vergleichbares Experiment unter den Bedingungen sexueller Fortpflanzung verspricht also sehr spannend und aufschlussreich zu werden. Es ist allerdings nicht so ganz einfach, einen geeigneten Organismus zu finden. Realistischerweise müssen die Versuchsobjekte sehr klein sein, und sich schnell fortpflanzen. Aber vor allem muss man sie einfrieren und wieder auftauen können. Denn das ist ja der Witz bei Lenskis Experiment: Dadurch, dass von jeder Bakteriengeneration ein Fossil existiert kann man eben nicht nur beobachten, was passiert, sondern nachträglich untersuchen, Da bleibt nicht viel übrig.

Die einfachsten sich eindeutig geschlechtlich fortpflanzenden Organismen sind meines Wissens fädige Algen, die weibliche und männliche Filamente ausbilden. Ich weiß allerdings nicht, ob die Dinger das Einfrieren überleben. Die für mich offensichtlichen Kandidaten für so ein Experiment sind deswegen auch die Bärtierchen, die berüchtigt dafür sind, unter den unmöglichsten Bedingungen zu überleben. Klein sind sie auch noch, vermehren sich meistens geschlechtlich und nach wie vor gibt es bei diesen Tieren noch so viel zu erforschen, dass man mit einem solchen Projekt gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlüge.

Der offensichtliche Nachteil der Bärtierchen ist ihr verglichen mit E. coli sehr gemächlicher Lebenszyklus. Es kann leicht mal Wochen dauern, bis die nächste Generation Bärtierchen aus den Eiern schlüpft, und entsprechend mehrere Monate, bis die Kulturflasche wieder vollständig besiedelt ist. Das dürfte allerdings bei allen potentiellen Kandidaten so sein: Keimzellen brauchen Zeit. Ein bisschen schneller geht das ganze bei den anderen Kandidaten, die mir noch einfallen würden, den Rädertierchen. Da müsste man sorgfältig drauf achten, dass man auch tatsächlich welche mit sexueller Fortpflanzung erwischt (Parthenogenese ist häufiger), aber die kleinen Viecher bilden Dauerformen aus und sind auch klein genug, dass man eine solche Kultur seriös beproben könnte.

Ich bin natürlich wirklich bewandert, was kleine Tierchen und ihre Besonderheiten angeht, deswegen gehe ich mal davon aus, dass es noch eine Reihe anderer möglicher Kandidaten gibt. Der Aufwand eines solchen Experiments ist zweifellos abschreckend, aber spätestens seit Lenskis Publikation von 2008 sollte allen Biologen klar sein, wie viel Potential in solchen kontrollierten Langzeitexperimenten steckt. Ich vermute, einige Leute sind schon in den Startlöchern: Letzten Februar, rechtzeitig zur Feier der 50.000sten Bakteriengeneration des LTEE, hat Lenskis Universität ein “Center for Studies of Evolution in Action” gegründet. Vielleicht läuft da schon das nächste LTEE – in groß und mit Sex.

7 Kommentare

  1. RPMI+DMSO+FCS

    Wenn man damit zufrieden ist, dass nur 50 % der Zellen das Einfrieren überleben, dann kann man praktisch alle eukaryotischen und prokaryotischen Zellen verwenden.

    Menschliche Zellen friert man zum Beispiel in RPMI (Roswell Park Memorial Institute Medium) 1640 mit 10 % DMSO (Dimethylsulfoxid) und 10 % FCS (fötales Kälberserum, hitze-inaktiviert) ein.

    Ausserdem ist es für genetische Untersuchungen gar nicht erforderlich, dass die Zellen überleben, so lange die DNA intakt bleibt.

    Das RPMI hat aber nichts mit Roswell, New Mexico zu tun, wo der UFO-Raumhafen ist.

  2. Für das Experiment müssen die Viecher weiterleben. Das ist ja der Witz an Lenskis Experiment, dass man die Evolution an jedem früheren Punkt noch mal neu starten kann.

  3. Der beste Modellorganismus ist auch in diesem Fall C.elegans (Hermaphrodit + Männchen) bzw. C.remanei (rein zwei geschlechtliche Fortpflanzung)

    Man kann sie einfrieren und nach über 10 Jahren noch auftauen. Sie werden schon jetzt länger in Co-Evolutionsexperimenten eingesetzt in denen genau das gemacht wird.

    Ein weiterer Vorteil gegenüber Zellkulturen ist der geringere Aufwand sowie die Möglichkeit Populationen zeitlich zu synchronisieren:
    mit etwas H2O2 und NaOH werden alle Würmer und Kontaminationen gekillt übrig bleiben die Eier.
    Die Generationszeit beträgt 3 Tage man könnte also jede Woche einmal die Generationen synchronisieren und seine Proben nehmen.
    Mit C.elegans stehen einem vielfältige Manipulationsmöglichkeiten offen wie z.B. RNAi.
    Man könnte sie entweder auf Platte halten oder in Flüssigkultur. So kann man sie auch im Wormcounter abzählen lassen um das ganze etwas zu automatisieren.
    Sie ernähren sich von E.coli sind also das perfektes Labortier.

    Es ist meiner Meinung nach sehr schwer ein tierisches System zu finden das damit konkurrieren kann.

  4. Lenski?

    Lenski halte ich für unsterblich, seitdem er Andrew Schlafly – den Gründer der ernstgemeinten Witzseite Conservadepia – eingeseift hat.

    Was ich darüber hinaus mitbekommen habe, habe ich von Pharyngula. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat sich irgendwann ein Stamm entwickelt, der die nicht als Nährlösung, sondern als “Füllmaterial” gedachte Zitronensäure (?) verdauen konnte. Dank der “Fossilien” konnten Lenski und sein Team die Mutationen zurückverfolgen. Die wichtigen Mutationen waren schon relativ lange vor der Ausprägung passiert. Alles in allem good stuff!

  5. Lenskis Versuch ist vor allem ein gutes Experiment zur Untersuchung der frühen Evolution auf unserem Planeten.
    Allerdings frage ich mich, ob in den Bakterienkulturen F-Plasmide vorhanden waren. Das wäre zwar keine wirklich sexuelle Vermehrung mit mehrfachem Chromosomensatz, aber eigentlich der nächste logische Schritt.
    Ein Experiment auf Basis von C.elegans zu wiederholen hört sich für mich allerdings nach faszination pur an und ich frage mich ob und wann entsprechende Experimente stattfinden werden.

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