22. April 1915 – der (zweite) Beginn des modernen Gaskriegs

Jetzt im April jährt sich ja zum hundertsten Mal der deutsche Gasangriff in der 2. Ypernschlacht bei Langemarck, der den Krieg durchaus für das Deutsche Reich hätte entscheiden können.[1] Der 22. 4. 1915 gilt als Beginn der chemischen Kriegführung, die deutschen Truppen setzten über 5700 Kanister mit insgesamt 168 Tonnen flüssigem Chlor gegen die Entente-Truppen ein und durchbrachen die feindlichen Linien. Nur weil nicht genug Reservetruppen bereitstanden, um die Lücke in der Front zu nutzen, kam der deutsche Vormarsch zum stehen.

Der Angriff mit Chlor war aber nicht das erste mal in dem Krieg, dass ein chemischer Kampfstoff im Gefecht zum Einsatz kam. Streng genommen markiert der 22. April bloß den Beginn der erfolgreichen chemischen Kriegführung. Die Ehre, zuerst ein Kampfgas eingesetzt zu haben, gebührt dem französischen Heer.[2] Das setzte schon seit Beginn des Krieges im August 1914 Gewehrgranaten mit Tränengas und anderen Reizstoffen ein – später dann auch Artilleriegranaten.

Das Debakel von Bolimòw

Das Deutsche Reich begann mit der chemischen Kriegführung am 31. Januar 1915 in der Schlacht von Bolimòw bei Warschau. Im Kampf gegen die russischen Truppen setzte die 9. Armee knapp 20.000 Artilleriegranaten mit Xylylbromid und Benzylbromid ein. Beides sind starke, unangenehme Reizstoffe, die einer Armee durchaus das Kämpfen verleiden können.

Von Tränengas geblendete Angehörige der britischen 55. Division während der Vierten Flandernschlacht am 10. April 1918. Bild: Thomas Keith Aitken
Von Tränengas geblendete Angehörige der britischen 55. Division während der Vierten Flandernschlacht am 10. April 1918. Bild: Thomas Keith Aitken

Allerdings erzielten weder Franzosen noch Deutsche auf diese Weise Erfolge: Die Gewehrgranaten waren zu klein, um etwas auszurichten, und das immerhin koordinierte Bombardement von Bolimòw scheiterte am Wetter – erstens trieb der Wind die Gase zurück zu den eigenen Truppen, und zweitens war es schlicht zu kalt, so dass die Reizgase kondensierten oder gefroren, statt in Wolken übers Schlachtfeld zu ziehen. Der Angriff musste abgebrochen werden.

Als Haber und seine Leute ein Vierteljahr später mit Chlor anrückten, waren die Entscheider an der Westfront skeptisch – und vermutlich nicht bloß, weil Militärs prinzipiell konservativ sind. Es ist nicht völlig abwegig, dass sich das Debakel von Bolimòw herumgesprochen hatte. Erst nach dem durchschlagenden Erfolg des Großversuchs in Belgien begannen die Armeen aller kriegführenden Staaten, das Potenzial von Giftgas zu erkennen.

Vernachlässigbare Effekte

Das erwies sich allerdings im weiteren Verlauf des Krieges als marginal: Gemessen am Ruf, den chemische Kampfstoffe heute haben, sind die tatsächlichen Verluste durch C-Waffen im ersten Weltkrieg erstaunlich gering. Je nachdem welche Zahlen man verwendet, starben nur etwa zwei Prozent der Opfer an Giftgas, der Anteil der Gastoten an den gesamten Kriegsopfern lag bei unter einem Prozent. Für den Ausgang des Krieges spielten sie keine Rolle.

De facto war der Haupteffekt der Kampfgase im ersten Weltkrieg, gegnerische Soldaten kampfunfähig zu machen oder sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Deswegen gab es auch nach dem Krieg noch eine ganze Reihe prominenter Stimmen, die Kampfgase als humane und weniger tödliche Alternative zu konventionellen Waffen anpriesen. Wegen der perfiden Wirkungsweise dieser Substanzen und der schweren Verletzungen, die sie verursachten, hat diese Argumentation eher wenig Anhänger gefunden.

Es ist interessant, mal zu überlegen, wie die ersten Gaskrieg-Versuche ausgegangen wären, wenn die Versuche mit “echtem” Reizgas unter günstigeren Bedingungen stattgefunden hätten. Vielleicht wäre der Effekt ähnlich durchschlagend gewesen wie dann später der des Chlorangriffes, und die weitere Entwicklung von Kampfstoffen hätte sich womöglich auf bessere Reiz- und Tränengase gerichtet. Senfgas und die noch giftigeren Nervengase wären womöglich gar nicht erst entwickelt worden.

Allerdings sind auch die modernen Reizstoffe – insbesondere Nervengifte wie CS – nicht völlig harmlos: Es sterben deutlich mehr Menschen an den vermeintlich nicht-tödlichen Kampfmitteln, als man gemeinhin glaubt. Bemerkenswert ist ein Fall aus dem Jahr 2013, als ein ägyptischer Polizist Tränengas in einen voll besetzten Gefangenentransport feuerte und auf diese Weise 36 Verhaftete vergaste. Es gibt eine ganze Liste von weiteren Todesfällen, schweren Verletzungen und so weiter durch solche Reizstoffe. Auch etwas, das man sich zum heutigen Jubiläum ins Gedächtnis rufen sollte. Im Grunde sind auch die Substanzen, die die Polizei weltweit auf Demonstranten feuert, chemische Kampfstoffe – ein Erbe der Schützengräben.

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[1] Die Einnahme von Ypern hätte die Truppen der Entente von nächsten Nachschubhafen abgeschnitten.

[2] Sowohl Feuer als auch Rauch sind natürlich schon lange vorher eingesetzt worden, letzterer seit der Antike sehr effektiv gegen Mineure in Tunneln, ersteres vor allem in Seeschlachten. In den Napoleonischen Kriegen kam die Idee auf, Bajonette mit Cyanid zu imprägnieren, ätzendes Chlorwasserstoffgas oder Schwefelgase auf den Gegner weben zu lassen. Allerdings ist mir kein Fall bekannt, in dem im 19. Jahrhundert chemische Kampfstoffe eingesetzt wurden.[3] Am dichtesten kommen noch die Konföderierten im US-Bürgerkrieg ran, die hatten nämlich spezielle Brandladungen mit viel Schwefel, um feindliche Tunnel auszuräuchern. Trotzdem erschien die Möglichkeit so real, dass die Haager Landkriegsordnung 1907 explizit den Einsatz von Giftwaffen verbot. Hat nichts gebracht.

[3] Der Grund dafür dürfte sein, dass vor dem Entstehen der modernen chemischen Industrie schlicht nicht genug Material zur Verfügung stand, um solche Waffen ernsthaft einzusetzen.

3 Kommentare

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  2. Damit scheinen schon die ersten Versuche mit chemischen Kampfstoffen das Potenzial für das gehabt zu haben was man heute non-lethal weapons nennt. Nicht oder weniger tödliche Waffen sollen den Gegner kampunfähig machen ohne ihn zu töten. Solche Waffen sind natürlich auch für die Polizei von Interesse. Man darf bei non-lethal weapons aber nicht nur an Tränengas, Taser, Wasserkanonen usw. denken. Auch Elektromagnetische Impulse gehören in diesen Bereich. Damit könnte man eine ganze Stadt lahmlegen womit sie weniger für die Polizei als für das Miltiär oder für Terroristen von Interesse wärten.

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