Was ist digitales Lesen und Schreiben?

Die Digitalisierung hat Schrift und Text verändert. Digitale Texte lassen sich wie alle digital kodierten Daten automatisch verarbeiten, sie lassen sich mit Daten anderer Art vermischen, und durch die Vernetzung der Computer im Internet können sie mit anderen Texten Verbindungen eingehen. Sie sind variabel in der Darstellung und „beweglich“ in ihrem Inhalt, wenn gewollt. Texte entstehen nicht von selbst, sondern sie werden als Teil einer Kommunikation geschrieben, und sie stehen nicht für sich selbst, sondern werden als Teil dieses Kommunikationsaktes gelesen. Die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens sind geprägt durch die Schrift, den Träger der Schrift und die Technologien von Produktion und Reproduktion des Geschriebenen. Das gilt auch im digitalen Medium, und wir müssen uns daher fragen, worin sich das digitale Lesen und Schreiben vom traditionellen Lesen und Schreiben unterscheidet.

Der Computer war historisch zunächst nur Automat, dann Werkzeug und schließlich auch Kommunikationsmedium. Um digitale Texte zu schreiben und zu lesen, benötigen wir den Computer, weil wir mit den digitalen Daten selbst nicht umgehen können (oder nur mit großem kognitiven Aufwand). Das Lesen und Schreiben mithilfe des Computers unterliegt also den gleichen Triebkräften wie die Digitalisierung als Ganzes: Automatisierung, Datenintegration und Vernetzung. Automatisiertes Lesen heißt, dass nicht nur der Mensch liest, sondern auch der Computer. Wie liest er und wie kombinieren wir das Computer-Lesen mit unserem eigenen? Wie kann ein menschliches Lesen aussehen, das vom Computer unterstützt wird? Die Integration andersartiger Daten, von Grafiken, Bildern, Videos und so weiter in den Leseprozess ist ein weiterer neuartiger Aspekt des digitalen Lesens. Wie „funktioniert“ das Lesen, wenn es sich nicht nur auf Wörter bezieht? Wie sehen die Texte aus, und was kann dadurch für das Verständnis von Inhalten gewonnen werden? Und schließlich die Vernetzung: Mit anderen Menschen während des Lesevorgangs in Verbindung zu stehen erschließt die soziale Dimension des Lesens auf eine ganz neue Art. Setzen wir uns anders mit dem Gelesenen auseinander, wenn wir beim Lesen Kontakt zu anderen haben? Wollen wir womöglich genau das lesen, was unsere Freunde und Bekannte gelesen haben?

In ähnlicher Weise müssen wir fragen, was es heißt, digital zu schreiben. Die Automatisierbarkeit der Schrift führt zur Automatisierung der Schreibtätigkeit. Was für Texte können von Computern erwartet werden? Und wenn der Mensch schreibt, wie wird ihn der Computer dabei unterstützen? Wie wird er die Eingabe von Schriftzeichen, das Formulieren, die Einhaltung von Regeln, den Stil, vielleicht auch den Inhalt beeinflussen? Wenn in Texte Daten anderer Art integriert werden, bezieht sich das Schreiben nicht mehr allein auf die Schrift. Wie „schreiben“ wir Diagramme, Schaubilder und Schemata mit Computerunterstützung? Werden wir beim „multimedialen“ Schreiben visueller denken, ganzheitlicher? Und was heißt es schließlich, vernetzt zu schreiben? Wird es durch vernetzte Computer tatsächlich möglich, gemeinschaftlich zu schreiben? Was für Texte werden dadurch entstehen, und wie wird das unser Verständnis vom Schreiben verändern? Um derartige Fragen dreht es sich in der Engelbart-Galaxis.

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www.lobin.de

Henning Lobin ist seit 2018 Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (Mitglied der gemeinsam vom Bund und allen 16 Bundesländern finanzierten Leibniz-Gemeinschaft) und Professor für Germanistische Linguistik an der dortigen Universität. Zuvor war er ab 1999 Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Sprache, Texttechnologie, Grammatik, Wissenschaftskommunikation und Politolinguistik. Er ist Sprecher der Sektion "Geisteswissenschaften und Bildungsforschung" und Präsidiumsmitglied der Leibniz-Gemeinschaft, Mitglied germanistischer Fachbeiräte ua. von DAAD und Goethe-Institut, er war Mitglied des Forschungsbeirats der Stiftung Wissenschaft und Politik und des Fachkollegiums Sprachwissenschaft der DFG. Lobin ist Autor von neun Monografien und hat zahlreiche Sammelbände herausgegeben. Zuletzt erschienen sind Engelbarts Traum (Campus, 2014, polnische Übersetzung 2017, chinesische Übersetzung 2018), Digital und vernetzt. Das neue Bild der Sprache (Metzler, 2018) und Sprachkampf (Duden, 2021). Bei den SciLogs ist Henning Lobin seit 2014 Autor des Blogs "Die Engelbart-Galaxis", nachdem er dort bereits ab 2008 am Gruppenblog "Interactive Science" beteiligt war.

6 Kommentare

  1. 15 Fragezeichen im Artikel, die auf Fragen hindeuten.
    Schwierig.
    Sog. Hypertext, HTML in der Folge, nach und nach die bekannten Webdienste, die zu sozialen Programmen wie der Wikipedia führten und sozialen Netzwerken, die wiederum den sozialen Ausschluss kennen, merkwürdige Dienste wie Twitter, deren Erfolg von der Längenbeschränkung einer Nachricht abzuhängen scheint, …

    Die Unkaputtbarkeit von Nachricht über sog. Clouds, die u.a. auch stark um die Ausfallsicherheit bemüht sind, wie das ARPANet seit eh und je, auch den Versand von Nachricht betreffend, sog. Pakete meinend.

    Aber grundsätzlich, ändert sich so-o viel?

    Wer bspw. mal ein sog. DMS in Betrieben an den Start gebracht hat, kommt nicht umher, die zuvorgegangene Vorgehensweise oder Geschäftslogik zu verstehen und diese nachzubilden.

    Wie wird es weiter gehen? – War das die (Kern-)Frage?

    MFG
    Dr. W

  2. Und wenn man am Schluss nur folgendes entscheidend wäre, nämlich:
    – Welche Autoren schreiben/publizieren für welches Publikum
    – Wie wirken sich Unterschieden zwischen Person-zu-Person, Person-zu-Gruppe, Gruppe-zu-Gruppe Kommunikation aus z.B. auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung, die Betroffenheit
    – Was ist die Wirkung der Zeitverzögerung oder der Unmittelbarkeit bei der Kommunikation
    – Wer liest alles mit?, wie vertraulich oder Schein-vertraulich ist die Kommunikation

    Mein eigener Eindruck ist: Noch nie gab es so viele halböffenltiche Kommunikation, soviel Kommunikation mit einem scheinbaren? Echoraum, soviel in den Spiegel gucken wie jetzt mit dem Internet und den sozialen Medien, noch nie soviel Unmittelbarkeit, noch nie soviel 15-Minuten Berühmtheit (Andy Warhol: “In the future, everyone will be world-famous for 15 minutes”)

    • Die Dichte und die Schnelligkeit der allgemeinen Kommunikation wird durch das Web deutlich erhöht, wobei es zurzeit auch ein Zurück gibt, was das Allgemeine betrifft, einerseits mehr Faces (vs. Pseudonyme), andererseits mehr Abschottung innerhalb sogenannter sozialer Netzwerke.
      Die “15-Minuten-Berühmtheit” mag auch zugenommen haben, aber nur, weil mehr gelesen und kommuniziert wird.
      MFG
      Dr. W (der die neuen Medien, gemeint immer: das Internet, als Zivilisationssprung sieht, aber primär als neues Instrument, hier eher wenig Umwälzung sieht [1])

      [1] gehofft wurde natürlich, dass das Mittel Internet verstärkt aufklärerisch wirken könnte, was aber nicht der Fall zu sein scheint, jedenfalls bisher noch nicht

  3. Schöne Einleitung, nur an einer Stelle muss ich widersprechen: “Automatisiertes Lesen heißt” nicht “dass nicht nur der Mensch liest, sondern auch der Computer”. So etwas wie automatisiertes Lesen gibt es nicht, denn Computer können Texte und andere Inhalte nur verarbeiten, umformen, zusammenführen etc. Lesen (und Schreiben) setzt aber Menschen voraus. Dass es durch Automatisierung unterstütztes Lesen und Schreiben gibt, ist ja gerade das Interessante was zu untersuchen ist. Wenn aber Menschen und Computer dabei auf eine Stufe gestellt werden, erwarte ich keine Erkenntnisse sondern allenfalls statistische Worthülsen.

    • Meiner Meinung nach kann man das nicht so klar trennen. Zwar bilden das menschliche, langsame, auf Textverständnis abzielende Lesen und das maschinelle, schnelle oberflächlich auswertende Lesen des Computers zwei entgegengesetzte Pole, doch auch wir Menschen scannen Texte oberflächlich auf der Suche nach bestimmten Wörtern, ohne dabei den Text inhaltlich vollständig aufzunehmen. Und in der Computerlinguistik geht es seit langem letztlich darum, Texte inhaltlich zu erschließen, also eine Art künstliches Lesen ähnlich dem des Menschen zu ermöglichen. Je nachdem, was für ein Ziel man mit dem Lesen verbindet (Lesen zur Unterhaltung kann natürlich nicht durch den Computer sinnvoll unterstützt werden), können menschliches und maschinelles Lesen durchaus kombiniert werden. Wenn dies in mehreren Schritten hintereinander geschieht, dann kann man beim “Ergebnis” (z.B. die Informationen, die ermittelt worden sind) nicht mehr erkennen, was davon auf das menschliche und was auf das maschinelle zurückzuführen ist.

  4. Man könnte ja auch einmal von der Seite her kommen, dass man fragt, was denn eigentlich geschieht, wenn ein Mensch “liest”. Landläufig wird darunter die Transferierung von sprachlich formulierten Gedanken von einem Schreiber auf seine “Leser” per Schrift verstanden. Der Transfer läuft aber nicht so physikalisch ab, sondern ist – wie alle Wahrnehmung – eine Interpretation. Von dort aus sind dann ja auch solche Übetragungen möglich wie “ein Bild lesen”, “in einem Gesicht lesen”, “ein Fußballspiel lesen” etc. Lesen geht also nie ohne eigene Gedanken, so daßß man auch sagen kann: Wo sich jemand Gedanken macht, “liest” er. So betrachtet ist die Zikunft des digitalen Lesens vielleicht das, was wir heute schon erleben: ein multimediales Lesen _des_ Screens (nicht _auf_ dem Screen). Wissenschaftlich interessant ist dabei vielleicht zu schauen, was dabei gewonnen und was verloren wird. Das könnte man z.B. anhand von Reiseberichten im 18./19. Jahrhundert machen. Fotos haben ja eigentlich einen ungleich höheren Präzisionsgrad in der Veranschaulichung, aber wenn man alte Berichte liest (von guten Schreibern), staunt man über das, was damals noch mit Sprache erreicht werden konnte. Unschlagbar ist aber die Kombination von Text und Bild (gilt oft auch für wissenschaftliche Texte, sowieso für Journalistik), und natürlich lesen wir dabei die Bilder genauso wie die Texte.
    Wenn Lesen aber sowieso interpretierende Textverarbeitung nach gusto des Lesers ist, dann können selbstverständlich auch Maschinen “lesen”, nur verwenden Maschinen eben völlig andere Interpretationsschemata als der lebende Kopf. Wobei ja der Beweis, dass man bzw. Computer etwas “gelesen” hat, dass man es “mit eigenen Worten” wiedergeben kann. Wenn man sich Summary-Addons für den Browser oder eine Suchmaschine wie Wolfram anschaut, sieht man, dass es in diese Richtung geht: Die Maschine macht sich ihren eigenen Reim aus dem Gelesenen, hat also gelesen. Anders als ein Mensch, aber deshalb nicht sinnlos und manchmal vielleicht sogar besser.

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