Vorurteile und Vorwissen

BLOG: Die Natur der Naturwissenschaft

Ansichten eines Physikers
Die Natur der Naturwissenschaft

Vorurteile haben keinen guten Ruf. “Der Mensch steckt voller Vorurteile” sagen wir manchmal missbilligend über jemand, der uns mit seinen festen Ansichten zu allen möglichen Dingen auf die Nerven gegangen ist. Dabei waren wir oft gegenteiliger Ansicht gewesen, aber eine sachliche Diskussion hatte sich nicht entfalten können. So verbindet man Vorurteile immer mit falschen Urteilen, mit solchen, die man bei genauerem Hinsehen wohl revidieren müsste. Aber ist es nicht so, wie es einer meiner Kollegen einmal ausdrückte? “Es ist ein schreckliches Vorurteil zu glauben, dass alle Vorurteile falsch sind.”
Der gute Freund des Vorurteils ist das “Vorwissen”. Auch dieses Wort beinhaltet oft ein vorläufiges Urteil über etwas, aber wir unterstellen dabei immer unbewusst, dass man hier der Wahrheit schon recht nahe ist. Ein Vorwissen zu haben, “ist ehrenvoll und ist Gewinn”. Wir wissen, wie hilfreich es in allen Lernsituationen ist – man kann die einströmende Information schneller einordnen und sich somit auf das Neue konzentrieren.
Wie auch immer wir ein vorläufiges Urteil bewerten, die Neigung dazu scheint uns in die Wiege gelegt zu sein, und bei jenen Menschen voller Vorurteile scheint diese Neigung nur in extremer Form ausgebildet zu sein. Aber auch Leute mit zu viel Vorwissen können nerven wie mir einmal klar wurde, als jemand sich über einen Nobelpreisträger beschwerte: “Er will immer recht behalten, und das Schlimme ist, er hat es schließlich auch immer.”

Die Bedeutung des Vorwissens im Alltag und in der Evolution des Denkens
Offensichtlich hilft uns ein Vorwissen im täglichen Leben, sehr schnell viele Dinge und Phänomene so weit zu verstehen, dass wir spontan “angemessen” darauf reagieren können. Diese Fähigkeit war im Laufe der Evolution sicher vom Vorteil, und der Hinweis darauf erhellt auch, was eine “angemessene” Reaktion ist: Eine Bewährung in den Zufälligkeiten und Widerfahrnissen des Lebens einer Spezies, bei der sich Wahrheit als Übereinstimmung mit der Realität der Umgebung zeigen kann.
Wie abhängig wir von unserem Vorwissen sind, spüren wir z.B., wenn wir eine Person in einer Umgebung entdecken, die gänzlich verschieden ist von der, in der wir diese normalerweise sehen. Wir rätseln erst, ob wir diese Person wirklich schon kennen und wenn ja, woher. Die neue Umgebung gibt uns keinerlei Hinweis. Viel relevanter, uns aber weniger bewusst ist die Bedeutung des Vorwissens für unsere Fähigkeit zu sehen, d.h. aus den Eindrücken, die aus der Umwelt auf die zweidimensionale Netzhaut in unsere Augen fällt, ein dreidimensionales Bild “vor unserem geistigen Auge” zu sehen. Unser Gehirn verbindet offensichtlich stets Sinneseindrücke mit Erwartungen, die im Gedächtnis aufgrund von Erfahrungen aus der Vergangenheit gespeichert sind. Sind die Sinneseindrücke genügend kompatibel mit den Erfahrungen, so verfestigt sich diese Erwartung zu einer Interpretation des Bildes. Wir sind also ständig im Zustand unvollständiger Information, müssen diese immer ergänzen durch unser Vorwissen, und je nach Vorwissen können wir zu verschiedenen Schlussfolgerungen und “Wissen” kommen.
Interessant wird es immer, wenn die Information so gering ist, dass nicht einmal ein irgendwie geartetes Vorwissen aktiviert wird wie bei Silhouettenbildern oder wenn von vorne herein durch die Sinneseindrücke gegensätzliche Erfahrungen aktiviert werden können. Bei letzteren hat sich im Laufe der Evolution offensichtlich eine gemischte Strategie herausgebildet: Unser Wahrnehmungsapparat hält nicht an einer Erwartung alleine fest, sondern probiert eine nach der anderen, in bestimmten Abständen, aus, d.h., die Interpretation des Bildes kippt nach einer Zeit um, von einer zur anderen und wieder zurück. Im Hinblick auf die Evolution ist das Phänomen wiederum verständlich und vernünftig: Ein systematisches Ausblenden von Erfahrungen würde sicherlich einen Nachteil im Überlebenskampf bringen, jede geeignete Art von Vorwissen sollte getestet werden, d.h. auf Kompatibilität mit den Sinneseindrücken geprüft werden. Bei allen solchen Kippbildern, die ich bisher gesehen habe, ging es immer um genau zwei verschiedene Interpretationen, die sich abwechselnd der Wahrnehmung aufdrängten. Interessant wäre natürlich, ob es auch Bilder gibt, bei denen sich gar drei verschiedene Interpretationen ergeben können.
Die optischen Phänomene sind ein besonders schöner Beleg dafür, wie sich unser Gehirn eine innere Vorstellung von der Außenwelt macht, dass diese „Repräsentation“ , wie der Fachausdruck dafür heißt, im Zuge der Evolution offensichtlich zu überlebensfähigen Ergebnissen geführt hat und selbst in kritischen Fällen, in denen unser Fenster zur Welt nicht ausreicht, um eine eindeutige Vorstellung zu entwickeln, noch einen guten Kompromiss findet. Dass uns dieser in Form der Kippbilder zunächst so verblüfft, liegt eigentlich nur daran, dass wir so selten in dieser Situation sind.
Unser Vorwissen besteht also aus unseren Erfahrungen. Ich meine hier solche, die wir persönlich im Laufe unseres Lebens gesammelt haben und nicht solche, die uns als Mitglied einer bestimmten Spezies genetisch in Form von bestimmten Hirnstrukturen und Prädispositionen mitgegeben worden sind. Aber ein Vorwissen zu haben, reicht bei den oben genannten Aufgaben nicht, man muss dieses auch einbringen und mit den Sinneseindrücken verknüpfen können.

Die Bedeutung des Vorwissens bei der Interpretation von Daten
Interessant ist nun, dass diese Fähigkeit, die unser Gehirn so meisterlich beherrscht, auch in stringenten wissenschaftlichen Überlegungen eine große Rolle spielt, spätestens dann, wenn man aus Daten Schlüsse ziehen will. Das gilt zunächst ganz global, denn ohne eine Theorie, ohne das Wissen um bestimmte Zusammenhänge sind ja die Daten nur ein Haufen Zahlen, mit denen ich nichts anfangen kann. Aber auch in detaillierteren Untersuchungen muss man oft ein Vorwissen ganz konkret formulieren, da die Daten allein nicht genügend Information bereit stellen. Jeder Messvorgang lässt sich mit der Situation der Menschen in dem Höhlengleichnis von Plato gut beschreiben: Hinter ihrem Rücken tragen andere Menschen allerlei Geräte, die durch ein Feuer so beleuchtet werden, dass die Schatten dieser Geräte auf die Wand der Höhle fallen. Da sie sich nicht umdrehen können, können sie nun nur diese Schatten sehen und versuchen, von den Schatten auf die Geräte selbst zu schließen. In einem Messvorgang sind die Geräte die Atome, Polymere, größere Teilchen, Gewebe, usw., die Schatten die Schwärzungen der Photoplatte oder der Ausschlag eines Zeigers, letztlich die Daten. Uns interessieren aber nicht in erster Linie die ”Schatten”, sondern die Eigenschaften der “Geräte”, die diese Schatten werfen, z.B. die Größe der Teilchen, Dichte eines Gewebes usw. und wir können uns auch nicht “umdrehen”, die Geräte nicht direkt beobachten, sondern nur indirekt, in dem wir z.B. Strahlen von Licht oder anderen Teilchen an diesen streuen lassen und die entstehenden Muster betrachten, eben die Schatten an der Wand. Aus diesen Mustern, diesen Streudaten wollen wir auf die Form und Struktur der ”Geräte” schließen.
Dieses Problem, das das Rückschließen von den ”Schatten” auf die ”Geräte” darstellt, nennt man auch, wenn dabei die “Schatten” durch eine mathematische Funktion einer oder mehrerer kontinuierlicher Variablen beschrieben wird, ein ”Inverses Problem”. Das ist das Fachwort, unter dem es in der Mathematik bekannt ist. Dabei bezieht sich das Wort ”invers” gerade auf das Rückschließen.
Ein nicht inverses, ein direktes Problem wäre das Schließen von den ”Geräten” auf die ”Schatten”. Das ist sozusagen eine normale Aufgabenstellung für einen Theoretiker in einer Wissenschaft, das Vorhersagen von experimentellen Effekten. Bei der Betrachtung des direkten Problems wird deutlich, was man auch braucht: den Zusammenhang zwischen ”Gerät” und ”Schatten”. Dieser beschreibt sozusagen die Art der Beleuchtung. Verschiedene Beleuchtungen werden bei gleichem Gerät verschiedene Schatten ergeben. Bei gegebenem Gerät und gegebener Beleuchtungsart den Schatten voraussagen zu wollen, bedeutet, dass man eine Theorie für den Beleuchtungsvorgang haben muss, um den Zusammenhang präzise formulieren zu können.
Natürlich wird man den Zusammenhang zwischen den Geräten und den Schatten auch bei der Lösung des inversen Problems benötigen, um eine einigermaßen verlässliche Schätzung der gesuchten Größe, einer Eigenschaft des Gerätes also, zu erhalten. Alles andere wäre ja ein ”aus den Fingern saugen” und vor allem, nicht nachprüfbar: Ich muss testen können, ob meine Antwort, die ich beim Rückschließen erhalten habe, wirklich auch den Schatten liefert, von dem ich ausgegangen bin.
Dennoch ist das inverse Problem schwierig. Ich möchte ja nicht alle Geräte durchprobieren, bis ich vielleicht auf eines stoße, das gerade den Schatten wirft, den ich vor mir liegen habe. Vielleicht, ja sogar wahrscheinlich, wird es mehrere Geräte geben, die den selben Schatten werfen. Ich möchte schon einen systematischen Weg des Rückschließens finden, der auch zu einer eindeutigen Lösung führt. Das ist aber so schwierig, weil auf dem Weg von Gerät zum Schatten immer Information verloren geht; in unserem Bild, und oft auch in der Realität, allein schon deshalb, weil das Gerät dreidimensional, der Schatten nur zweidimensional ist.
Das ist ein Kernpunkt unseres Problems. Das, was wir sehen, der Schatten oder das experimentelle Ergebnis, enthält weniger Information als wir für die Bestimmung des Gerätes oder der gesuchten Größe benötigen. Die Anzahl der Daten ist immer endlich, die gesuchte Größe in diesem Kontext eine Funktion kontinuierlicher Variablen, die mit zunehmender Auflösung immer mehr Information repräsentiert. Bei der Messung geht somit unweigerlich Information verloren, die beim Rückschließen irgendwie ersetzt werden muss. Das muss nicht unbedingt genau die sein, die verlorengegangen ist; die kennen wir ja nicht.
Und es kommt noch schlimmer. Es geht nicht nur Information verloren, es kommt auch unerwünschte Information dazu, und zwar solche, die mit dem Gerät nichts zu tun hat, sondern nur aus der Form der Beleuchtung resultiert. Das gesamte System der experimentellen Anordnung ist ja stets äußeren unkontrollierbaren Einflüssen ausgesetzt, so dass in jedem Messdatum noch ein Messfehler unbekannter Größe enthalten ist.
Dadurch wird das Schließen aus den Daten ein höchst nichttriviales Problem. Allgemein nennt man jedes Schließen aus Daten eine Schätzung und bei einem Inversen Problem wird nun eine Schätzung erst möglich, wenn man ein Vorwissen einbezieht.

Das Theorem von Bayes
Man unterstellt natürlich, dass das Vorwissen, das man über eine Größe hat, durch eine Messung dieser Größe verbessert wird.  Jede Konfrontation mit der Realität sollte ja zu genauerem und verlässlicherem Wissen führen. Aus dem Vorwissen wird also ein ” besseres Wissen”, das in weiteren Untersuchungen natürlich wieder als Vorwissen gelten kann. In der mathematischen Statistik kennt man ein interessantes Gesetz, das Theorem von Bayes, das diesen Vorgang der Wissensverbesserung streng formal beschreibt; es spielt bei allen Schätzungen eine bedeutende Rolle. Ich kenne kein anderes Gesetz, das eine solche Tragweite hat, sich aber so einfach beweisen lässt (im Rahmen einer mathematischen Theorie, hier der Wahrscheinlichkeitstheorie). Es geht dabei um die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Ereignis, wobei hier “Ereignis” für alles steht, was der Fall sein kann. Ausgehend von einem “Vorwissen” für diese Wahrscheinlichkeit gibt es an, wie dieses durch eine Information, d.h. durch Daten, die sich auf dieses Ereignis beziehen, verändert wird. In dieses “Update” einer Wahrscheinlichkeit für ein Ereignis aufgrund von Daten muss natürlich berücksichtigt werden, wie wahrscheinlich alle möglichen Daten beim Eintreffen des Ereignisses wirklich sind, also natürlich wieder die Lösung des direkten Problems.
Ich habe oft darüber gestaunt und mich daran erfreut, dass eine so kleine und unscheinbare Formel so viel Weisheit über unseren Zugang zur Welt ausdrückt. Hier wird alles berücksichtigt: Unser Vorwissen, d.h. unsere gesammelten Erfahrungen, dann die Vorstellung, wie denn bei gegebenem Vorwissen “die Welt aussehen würde” und schließlich auch, was ich bisher noch gar nicht erwähnt habe, die Wahrscheinlichkeit, mit der die möglichen Daten überhaupt vorkommen können. Diese drei Größen bestimmen also, welchen Informationsgewinn wir aus den Daten, aus der Konfrontation mit der Welt in Bezug auf das in Rede stehende Ereignis ziehen können. Und bei allen drei Größen ist es bedenkenswert, dass sie wirklich in das “Update” eingehen. Wir können danach unser Vorwissen nur verbessern, d.h. besser in Übereinstimmung mit den Realitäten der Welt bringen, wenn wir wissen, was unser Vorwissen denn für diese Realitäten aussagen würde.
Diese Formel hilft auch in unübersichtlichen Situationen kluge Entscheidungen oder Unterscheidungen zu treffen, z.B. die Wahrscheinlichkeit dafür anzugeben, dass eine Person wirklich eine bestimmte Krankheit hat, wenn ein Test auf diese ein positives Ergebnis liefert. Man muss dafür die Qualität des Testes natürlich kennen, nämlich seine Sensitivität (Richtig-Positiv-Rate), d.h. die Wahrscheinlichkeit, mit der er bei einer der in Rede stehenden Krankheit anspricht, und seine Spezifizität (Richtig-Negativ-Rate), d.h. die Wahrscheinlichkeit, mit der er bei gesunden Personen nicht anspricht. Dann sieht man leicht mit der Formel, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass man bei einem positiven Test wirklich die entsprechende Krankheit hat (positiver Vorhersagewert), dramatisch davon abhängt, wie häufig diese Krankheit überhaupt auftritt. Je seltener die Krankheit allgemein auftritt, um so weniger aussagekräftig ist auch der Test. Ich weiß nicht, ob diese Abhängigkeit der Nützlichkeit eines Tests von der Inzidenz für alle plausibel ist – verblüffend ist auf jeden Fall, wie schnell ein Test mit abnehmender Inzidenz nutzlos wird.
Eine besonders unübersichtliche Situation, in der das Bayessche Theorem zu einer Lösung rät, die unserer Intuition widerspricht, stellt das so genannte Ziegenproblem dar. In einer Quizshow haben die Kandidaten zwischen drei Türen zu wählen; hinter einer von diesen wartet als Preis ein Luxusauto, hinter den anderen beiden nur eine Ziege. Nachdem der Kandidat sich entschieden hat und auf eine Tür zeigt, öffnet der Showmaster mit den Worten “Ich zeige Ihnen mal was” eine andere Tür, hinter der eine bleckende Ziege erscheint. Dann fragt er den Kandidaten: “Möchten Sie bei Ihrer Tür bleiben oder eine andere wählen.” Die meisten von uns würden den Preis mit gleicher Wahrscheinlichkeit hinter den beiden noch verschlossenen Türen vermuten und keinen Grund zum Wechsel sehen. Tatsächlich aber ist es ratsam, das Angebot zum Wechsel anzunehmen. In [von Randow, 1992] wird dieses ausführlich diskutiert.
Das Bayessche Theorem ist auch der Schlüssel zur Lösung des Inversen Problems. Als Vorwissen können manchmal schon einfache Annahmen über die gesuchte Funktion dienen, und wenn man noch genügend viel über die Messfehler weiß und berücksichtigt, erhält man in der Regel eine gute Schätzung der gesuchten Funktion. Erwartet man Besonderheiten in der gesuchten Funktion wie etwa Unstetigkeiten oder Knicke, muss man sie in der Formulierung des Vorwissens auch berücksichtigen, so dass das “Update” sie auch zeigen kann, wenn die Daten sie hergeben. In vielen Messgeräten der Labor- und Medizintechnik werden solche Schätzungen benötigt, und immer spielt das Vorwissen eine bedeutende Rolle, auch wenn der Nutzer das nicht immer merkt.

So ist das Inverse Problem und mit ihm das Bayessche Theorem ein besonders erhellendes Beispiel dafür, wie sehr die Schlüsse, die wir aus neuen Erfahrungen und Daten über die Welt ziehen, von unserem Vorwissen abhängen. Dieses Beispiel zeigt uns aber auch, dass es sinnvoll ist, immer neue Daten aus der Welt zur Kenntnis zu nehmen und zu verarbeiten. Sonst bleibt es nur beim Vorwissen, und dann werden daraus Vorurteile.

von Randow, Gero, Das Ziegenproblem – Denken in Wahrscheinlichkeiten, rororo Rowohlt, 1992
siehe auch: Bayes-Schätzung und
Wikipedia: Bayestheorem

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Josef Honerkamp war mehr als 30 Jahre als Professor für Theoretische Physik tätig, zunächst an der Universität Bonn, dann viele Jahre an der Universität Freiburg. Er hat er auf den Gebieten Quantenfeldtheorie, Statistische Mechanik und Stochastische Dynamische Systeme gearbeitet und ist Autor mehrerer Lehr- und Sachbücher. Nach seiner Emeritierung im Jahre 2006 möchte er sich noch mehr dem interdisziplinären Gespräch widmen. Er interessiert sich insbesondere für das jeweilige Selbstverständnis einer Wissenschaft, für ihre Methoden sowie für ihre grundsätzlichen Ausgangspunkte und Fragestellungen und kann berichten, zu welchen Ansichten ein Physiker angesichts der Entwicklung seines Faches gelangt. Insgesamt versteht er sich heute als Physiker und "wirklich freier Schriftsteller".

8 Kommentare

  1. Intuition und/oder Vorurteil?

    Selbst bekannte Mathematik Professoren konnten und wollten damals nicht glauben, dass der Wechsel des Tors beim Ziegenproblem ein Vorteil ist. Erinnert mich auch an wenige Physik-Professoren, die soweit ich mich entsinne selbst nach Bestätigung von ART noch an der Äthertheorie als Paradigma festhielten. Der Grat zwischen Intuition und Vorurteilen ist wohl sehr schmal. Aber selbst manche gestandene Professoren scheinen dann fern von theoretischen und experimentellen Tatsachen ein Gefühl für oder gegen eine bestimmte Theorie zu haben, weil die “Natur so nicht sein kann”. Dabei sind es vielleicht gerade die Vorurteile/Intuitionen/Glauben der immer wieder konkurrierende Theorien hervorbringt und den wiss. Fortschritt vorantreibt, wie erklärt man sonst das Aufkommen der Loop-Quantum-Theorie oder alternativer Interpretationen des Wellenfunktion-Kollapses? Intelligente und erfahrende Physiker arbeiten in beiden Theorieschulen, ist es letztendlich das Gefühl oder ein unbearbeites Feld das mehr Aussicht auf wiss. Karriere offeriert, was Wissenschaftler antreibt an einem neuen Theoriemodell mitzuarbeiten? Da täte mich ihre Meinung als Koordinator und Mitarbeiter in versch. Forschungprojekten rückblickend mal interessieren. Wie stark sind Wissenschaftler in ihrer Forschung von Intuitionen getrieben. Ich erinnere mich noch an Kommilitonen im Vorstudium die schon genau wussten, dass sie mal in der Kernfusion oder Stringtheorie forschen wollten, obwohl sie eigentlich nicht den theo. Überblick haben konnten, ob es eine erfolgversprechende Theorie ist. Eine Parallele scheint die Aufspaltung von Physikern in Agnostiker und Atheisten zu sein. Gibt es Wissenschaftler die sehr nüchtern und objektiv die Dinge sehen und Getriebene, Paradigmengläubige, Unbelehrbare? Sicherlich, abwer woran entscheidet sich, ob man die Objektivität wahrt. Obige Bsp. von Prof. zeigen, dass Intelligenz und Erfahrung nicht die Kriterien zu sein scheinen. Evtl. die Verschulung von Theorien die zumindest die Grabenkämpfe in der Teilchenphysik evtl. erklären könnte. Wenn ich ihrer Erklärung von Bayes Theorem folge, ist unser Hirn evolutionstechnisch nicht dazu trainert worden mögliche unbekannte Informationen zu berücksichtigen sondern auf Intuitionen zu vertrauen, weswegen wir oft Paradigmen verfallen oder uns “einen Reim auf Dinge bilden”. Warum durchblicken dann aber einige das Ziegeproblem intuitiv während andere es einfach nicht glauben wollen? Hat die Evolution für einige eine Ausnahme gemacht 😉 Kenne mich in der Wahrnehmungs-, Kognitions- evolutionärer Psychologie zu wenig aus, aber gibt es evtl. stark versch. Wahrnehmung von z.B. optischen Täuschungen oder einfachen Wahrscheinlichtkeitsfragen bei ver. Menschen die womöglich angeboren ist?

  2. intuition vs. Messwert

    Es bleiben manchmal trotz eindeutiger Messwerte intuitiv besondere Eindrücke, die den Messwerten wiedersprechen. Daraus ergibt sich eben die Fragestellung, ob etwas am Versuchsaufbau nicht richtig, nicht vollständig oder etwa nicht entsprechend gemessen wurde…War also der Versuchsaufbau nicht für den Beweis geeignet? Oder gab es nichts zu beweisen, ausser des Nichtzutreffens der Vorhersage (intuitivanteil)?

    Oder hat es mit der Intuition noch ganz andere Faktoren als Grundlagen?

    Auf jeden Fall ist die Wissenschaft ja nicht umsonst auf die Empirie angewiesen.

  3. Vorwissen aus Erfahrungen

    Lieber Herr Honerkamp, Ihr Artikel reizt ja an vielen Stellen zum Widerspruch, aber ich möchte nur eine Herausgreifen:

    “Unser Vorwissen besteht also aus unseren Erfahrungen. Ich meine hier solche, die wir persönlich im Laufe unseres Lebens gesammelt haben…”

    Ich muss gestehen, dass das bei mir anders ist. Das meiste Vorwissen, das ich habe, habe ich von klugen Lehrern und Professoren, oder aus Büchern und Zeitungen. Mein Vorwissen über Physik, mit dem ich mich z.B. den Nachrichten vom CERN nähere, stammt vollständig aus Vorlesungen und Büchern, nichts davon stammt aus meinen persönlichen Erfahrungen. Und ich nehme an, dass der Großteil der am CERN tätigen Physiker den Großteil seines Vorwissens auch aus der Literatur und den Vorlesungen und nicht aus persönlicher Erfahrung hat.

    Unter diesem Gesichtspunkt wäre tatsächlich interessant, das Verhältnis von Vor-Wissen und Vor-Urteil zu untersuchen.

  4. @Jörg Friedrich

    Lieber Herr Friedrich, ja, was verstehen Sie denn unter persönlichen Erfahrungen? Offensichtlich eine kleine Teilmenge von dem, was ich darunter verstehe (nämlich auch Vorlesungen, Bücher lesen, etc., nicht nur menschliche Begegnungen)

  5. Ich denke es ist wesentlich zu unterscheiden zwischen dem, was ich durch eigene Beobachtungen weiß und dem, was ich sozusagen aus zweiter Hand weiß. Der Unterschied besteht in den verschiedenen Methoden der Rechtfertigung dieses Wissens. Wenn Sie einen Effekt selbst im Labor beobachtet haben, wenn Sie die Apparaturen selbst eingestellt und die Fehlerquellen selbst beurteilt, die Fehlerschwankungen ebenfalls selbst ermittelt haben, dann haben Sie ein anderes Wissen als wenn sie das alles nur aus Büchern haben. Das Vorwissen hat eine andere Qualität, ebenso die Begründung Ihrer Vor-Urteile.

    Es gibt eine Reihe von Zwischenformen, wenn Sie z.B. Experimente einer bestimmten Klasse bereits selbst gemacht haben dann können Sie Ergebnisse ähnlicher Experimente einschätzen, ohne sie unbedingt selbst zu machen. Genau an solchen Stellen wird die unterschiedliche Qualität des Vor-Urteils wirksam, z.B. wenn Sie bestimmte Berichte bezweifeln und andere eher akzeptieren, wenn sie ein Vor-Urteil über die Stabilität und Sicherheit von solchen Berichten fällen. eine weiter Dimension kommt durch die Vor-Urteile, die Sie gegenüber bestimmten anderen Forschergruppen oder Forschungs-Verfahren haben, ins Spiel. Auch hier spielt der Aspekt der tatsächlichen eigenen Erfahrung eine entscheidende Rolle.

    Deshalb scheint es mir notwendig, zwischen den verschiedenen Arten von “Erfahrungen” zu differenzieren, wenn man über Vorwissen und Vorurteil nachdenkt.

  6. Monty Hall

    Dann fragt er den Kandidaten: “Möchten Sie bei Ihrer Tür bleiben oder eine andere wählen.” Die meisten von uns würden den Preis mit gleicher Wahrscheinlichkeit hinter den beiden noch verschlossenen Türen vermuten und keinen Grund zum Wechsel sehen.

    Hier greift das Vorwissen, wenn der Kandidat (bspw. vom regelmäßigen Monty-Konsum) weiß, dass Monty immer diese Wahlmöglichkeit anbietet, ist zu wechseln.

    Wenn der Kandidat nichts weiß, also kein Vorwissen hat, kann er wechseln oder nicht. Wechselt er, vertraut er sich Monty an, viele würden nicht wechseln.

    MFG
    Dr. Webbaer

  7. Differenzieren

    @Jörg Friedrich

    Deshalb scheint es mir notwendig, zwischen den verschiedenen Arten von “Erfahrungen” zu differenzieren, wenn man über Vorwissen und Vorurteil nachdenkt.

    Wie?

    MFG
    Dr. Webbaer

  8. Hallo Zusammen!

    Ein Freund sehr gebildeter und auch reich an Eigenerfahrung, den ich normalerweise bitte, seine Fremdworte in dessen Artikulation in einfache, deutsche Worte zu fassen, fragte mich einmal, als ich das Wort Intuition benutzte: ” Wie würdest Du Intuition in einfachen, deutschen Worten ausdrücken?” Ich bat um kurze Bedenkzeit und antwortete dann “auf Eigenerfahrung basierendes Gefühl.”
    Ich bin sehr, sehr oft meinen Interpretationen, wenn ich Menschen nur gesehen habe, nachgegangen, indem ich diese Leute dann gefragt habe, ob meine Interpretationen stimmen. Sie stimmten im hohen neunzig-Prozent-Bereich.
    Ich bin Musiker und Künsler, mann könnte sagen.. gar “Hobby-Mystiker”. Bei der Suche nach geeigneten Mitmusikern wußte ich anhand meinen vorherigen Erfahrungen schon oft, als ich aus dem Zug ausstieg oder die Leute mir begegneten und wir ein-zwei Minuten redete, ob das paßt oder nicht. Weil ich aber eventuellen Vorurteilen entgegenwirken wollte, habe ich mich dennoch länger auf die Leute eingelassen und meine Intuition wurde bestätigt.
    Man könnte jetzt selbstverständlich meinen, dass ich unterbewußt in richtung im Sinne der Bestätigung meiner Intuition verfahren bin, zumindest habe ich mich aber bemüht, dies nicht zu tun. Mir ist bei allem Verlassen auf meine Inution (was ich zu meinem Leidwesen viel zu oft nicht mache) immer sehr wichtig, mir das Hintertürchen offenzulassen, falsch zu liegen mit meinen Interpretationen. Aber was ist bei aller Relativität schon ein Beweis für irgend etwas? Jeder Witz ist so gut, wie darüber gelacht wird und wieviele darüber lachen letztenendes. Ausdruck von Wahrheit ist die Ansicht der Majorität dennoch nicht. Die Konversation von Wissenschaft vs Glaube ist für mein Empfinden die Antriebsfeder evolutionärer Weiterentwicklung, ohne diese aber anhand von beispielsweise Definitionen oder Beweisen festschreiben oder gar generell artikulieren zu können. Vielen Dank fürs Lesen Euch/Ihnen allen.

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