Die Rolle der Mathematik in einer Wissenschaft

BLOG: Die Natur der Naturwissenschaft

Ansichten eines Physikers
Die Natur der Naturwissenschaft

“Ich behaupte aber, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist”,  schreibt im Jahre 1786 Immanuel Kant in seinen Werk  “Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, A VIII”.  Er stand damals unter dem Eindruck der Newtonschen Mechanik,  die beispiellose  Erfolge in der Erklärung und Vorhersage aller  möglichen Bewegungen am Himmel und auf der Erde gezeitigt hatte und damit zum Maßstab für eine Wissenschaft von der Natur geworden war. Und diese “Naturlehre” war aus der Symbiose von Experiment und Mathematik hervor gegangen, die Galilei  zwei Generationen vor Newton konzipiert hatte.  Ich halte diese Aussage von Kant für problematisch und irreführend,  und ich will hier meine Gründe dafür nennen.  Gleichzeitig will ich aber auch das hohe Lied der Mathematisierung der Wissenschaften singen, nur dass ich diese nicht als Garant und eigentliche Ursache für eine Wissenschaftlichkeit ansehe.

Wissenschaft versus  Kunde

Die Physik ist schon “durch die Mathematik geboren” worden –  gerade dadurch wurde sie etwas anderes als die Naturphilosophie.  Galilei untersuchte den freien Fall, experimentierte mit einer Fallrinne und maß die Wegstrecken, die eine Kugel  in der Fallrinne in bestimmten Zeitintervallen durchläuft. Er fasste sein Ergebnis in einer mathematischen Gleichung zusammen: Die Wegstrecke nimmt quadratisch mit der Zeit zu. Und er erkannte, dass dieses Ergebnis nicht dem Zufall einer bestimmten Versuchsanordnung geschuldet ist sondern ein allgemeines Gesetz der Natur darstellt.  Diese Beziehung war nun eine “öffentliche” Tatsache, sie konnte von jedermann nachgeprüft oder genutzt werden.  Auch Johannes Kepler erkannte solche Fakten. Aus den sehr genauen Beobachtungen Tycho Brahes destillierte er  Einsichten über den Lauf der Planeten um die Sonne, u.a. dass ihre Bahnen Ellipsen sind, mit der Sonne in einem ihrer Brennpunkte.

Galilei und Kepler formulierten also Gesetzmäßigkeiten der Natur, und zwar in mathematischer Form, so dass sie  jederzeit “Spitz auf Knopf” nachprüfbar sind. Wenn man bedenkt, welches Vorwissen, welche Vorarbeiten und welche gedankliche Leistung dahinter steckt, dann möchten wir das unbedingt als Wissenschaft deklarieren.  Man kann aber fragen, ob eine Ansammlung von Fakten, auch wenn sie in mathematischer Form daher kommen und quantitativ nachprüfbar sind, damit  “eigentlich” schon eine Wissenschaft ausmachen können.  Im Deutschen kennen wir das schöne Wort “Kunde”. Es gibt die Materialkunde, die Erdkunde und gar die Naturkunde.  Das sind die Gebiete, in denen man eben Kunde hat von solchen Gesetzmäßigkeiten.  Und diese sind, je nach Gebiet, mehr oder weniger mathematisch formuliert.

Aus einer Kunde wird eine Wissenschaft, wenn man die Ansammlung von Fakten von einer abstrakteren Warte aus erklären kann, im Idealfall aus allgemeineren Prinzipien streng mathematisch ableiten kann.  Die so genannten Newtonschen Axiome, d.h. Grundannahmen, führen für den Fall der Planetenbahnen zu einer Gleichung, aus der heraus sich alle Keplerschen Gesetze streng ableiten lassen und natürlich auch die von Galilei entdeckte Beziehung zwischen Wegstrecke und Zeit beim freien Fall. Wie ich in meinen Blogbeiträgen häufig dargelegt habe, besteht eine physikalische Theorie aus einer Menge von Beziehungen zwischen messbaren Größen und einer Grundannahme, aus der alle diese Beziehungen folgen.  Das Proprium einer Wissenschaft,  das “Eigentliche”,  ist also diese hierarchische Verpflechtung, die logische Ordnung ihrer Aussagen – und nicht die Mathematik.

Wenn man also wissenschaftlich arbeitet, bewegt man sich in diesem Geflecht von Aussagen. Wenn man einer neuen Beziehung zwischen messbaren Größen auf der Spur ist, muss man ihr mögliches Verhältnis zu diesem Geflecht diskutieren, analysieren, wie sie dazu passt und wie sie dieses bereichern oder modifizieren wird.

Neben der Berücksichtigung und Ausarbeitung der  Vernetzung der Aussagen und Fakten ist es die Begriffsbildung,  die zum “eigentlichen”  wissenschaftlichen Arbeiten dazu gehört.  In der Physik kennt man die Mühen, die man mit der Etablierung von Begriffen wie Energie, Entropie oder  Zustand eines Quants gehabt hat.

Vorzüge der Mathematik als Sprache einer Wissenschaft

Bei allen diesen gedanklichen, wissenschaftlichen Arbeiten spielt die Sprache, in der dieses geschieht, natürlich eine große Rolle. In der Physik ist diese Sprache die Mathematik.  Der Gegenstandsbereich der Physik lässt dieses zu. Das zu erkennen, war eben die Leistung von Galilei.

In dieser Sprache muss man die Beziehungen und Relationen zwischen messbaren Größen  absolut “ernst” nehmen. Sie liegen ja in quantitativer Form vor und sind in dieser Form nachprüfbar.  Das Gebäude einer Theorie, das Geflecht von Aussagen enthält also höchst stabile Elemente und deren Verknüpfung ist ebenso verlässlich, da sie auch als mathematische Ableitungen formulierbar sind. Das ganze Gebäude einer solchen Theorie ist damit höchst stabil;  die Newtonsche Mechanik ist das beste Beispiel dafür. Nicht umsonst hat sie 200 Jahre als Ideal einer Wissenschaft überhaupt gegolten und die Denkgewohnheiten aller naturwissenschaftlich Interessierten geprägt.

Die Sprache führt auch unser Denken, und so hat die Mathematik auch die Begriffsbildung und sogar die Bildung kreativer Hypothesen in der Physik beeinflusst, wie ich in dem Beitrag:  “Die Sprache der Physik”  weiter ausgeführt habe.

Wer in einer solch quantitativ argumentierenden  Wissenschaft arbeitet, hat einen lebhaften Eindruck von dem Unterschied zwischen qualitativen und quantitativen Aussagen.  In vielen Fällen kann man für eine Wirkung mehrere Einflüsse verantwortlich machen, hat aber kein Wissen darüber, wie stark diese jeweils sind.  Nicht immer lässt sich das aus den bekannten Naturgesetzen  von vorne herein sagen.  Das ist eine sehr häufig auftretende Situation, in der viel Zeit mit Diskussionen vergeudet wird, in denen nur verschiedene Meinungen über die Stärke der einzelnen Einflüsse auf einander prallen. Schafft man es,  auf diesen Naturgesetzen ausbauend ein mathematisches Modell zu formulieren, das alle bekannten Einflüsse berücksichtigt und alle Test besteht, so hat man damit auch gleich die Stärke eines jeden Einflusses bestimmt.  Man wundert sich dann manchmal, wie sehr man mit seinen ursprünglichen Vorstellungen über die jeweilige Stärke danebenlag.

Über die Wirkung der Mathematisierung der Physik auf Außenstehende

Wer Physik studieren will, muss in den ersten Semestern erst durch eine harte mathematische Schulung gehen. Da scheiden sich schon die Geister, denn die höhere Mathematik ist und bleibt für viele ein Buch mit sieben Siegeln; ich glaube, es gibt eine eindeutige Begabung für Mathematik so wie es diese auch für die Musik gibt. Ohne die Beherrschung der mathematischen Sprache kann man aber kein Verständnis der physikalischen Theorien erhalten.  Man kann zwar mehr oder weniger treffend von den Gleichungen erzählen, aber das ersetzt nicht den persönlichen Umgang mit ihnen. Wer einmal selbst die Berechnungen der Planetenbahnen vollzogen hat, wer einmal selbst aus den Maxwell-Gleichungen abgeleitet hat, dass es elektromagnetischen Wellen geben muss, wer die Energieniveaus eines Elektrons im Wasserstoffatom selbst aus der Schrödinger-Gleichung berechnet hat, der ist höchst beeindruckt davon, wie mächtig und verlässlich diese Methode der Erkenntnis ist.

Der Außenstehende kann das Erlebnis und die damit einher gehende Überzeugung gar nicht nachempfinden, selbst der Weg zu diesem Erlebnis ist ihm verschlossen. So spürt er oft er ein Unbehagen: Da gibt es eine wichtige Entwicklung mit Folgerungen, die sein Weltbild betreffen, die er aber nicht kontrollieren kann. Zwar kann er auch die Früchte anderer Wissenschaften nicht beurteilen, aber diese greifen nicht so stark  in seine Vorstellungen von den Möglichkeiten unserer Erkenntnis und von den “letzten Dingen” dieser Welt ein.

Das Erlebnis prägt natürlich auch das Weltbild und die allgemeine Ansicht über Wissenschaft überhaupt.  So werden Physiker, ja Naturwissenschaftler allgemein, meistens zu Naturalisten: Alles in der Natur “geht mit rechten Dingen zu”, d.h. alles wird in der Natur nach bestimmten Gesetzen zugehen, die,  wenn nicht schon bekannt, irgendwann formuliert werden können.  Andererseits:  Wer Schätze tief im Boden gefunden hat, steht in Gefahr, Regenwürmer zu verachten und zu vergessen, dass nicht überall der Boden so beschaffen ist, dass tiefes Graben möglich ist. So erscheint der Physiker manchmal arrogant und seine Erwartungen an die Methode, auch wenn die bisherigen Erfolge noch so beeindruckend sind, sind oft zu hoch geschraubt. Man denke nur an die Zeit, als die Klassische Mechanik ihre größten Triumpfe feierte und man glaubte, nun bald alles mit Begriffen dieser Klassischen Mechanik verstehen zu können. Dabei hatte man schon recht damit, dass wir mit der von Galilei initiierten  Methode – nämlich in der Sprache der Mathematik Hypothesen zu formulieren und diese durch das Experiment zu überprüfen – immer besser die Natur verstehen lernen.  Aber über die Geschwindigkeit, mit der dieses geschehen würde, hatte man sich getäuscht und nicht geahnt, welche Vorurteile dabei  in Zukunft über Bord geworfen müssen und welche neuen Begriffe und Vorstellungen sich dabei ergeben.

Probleme und Grenzen

Wer Physik studiert, lernt die Sprache der Mathematik zunächst bei einfachen Problemen der Physik anzuwenden.  Das so genannte Zwei-Körper-Problem – die Situation, dass ein einziger Planet die Sonne umkreist – ist ein prominentes Beispiel dafür.  Von den anderen Planeten sieht man dabei also ab, man kann abschätzen, dass die Einflüsse dieser auf die zu berechnende Bahn nur sehr schwach wäre. Will man die Einflüsse der anderen Planeten aber auch noch berücksichtigen, hat man es mit einem Mehr-Körper-Problem zu tun, und das ist mathematisch ungleich schwieriger.  In allgemeinen macht man die Erfahrung in der Mechanik, in der ja immer die Bewegung von materiellen Körpern eine Rolle spielt, dass man bezüglich der Anzahl der beteiligten Teilchen nur die Extremfälle einigermaßen mathematisch im Griff hat, also Probleme mit sehr wenigen und solche mit so vielen Teilchen, so dass es auf die einzelnen Bahnen der Teilchen gar nicht mehr ankommt.  Das was man von dem System solch vieler Teilchen wissen will, lässt sich dann aus einer statistischen Verteilung der Positionen und Geschwindigkeiten der Teilchen ableiten.  In der Statistischen Mechanik lernt man, wie man zu plausiblen Annahmen über solche Verteilungen gelangt, wie sich daraus nützliche und messbare Größen für die Beschreibung der  Systeme ergeben und wie man schließlich zu nachprüfbaren Beziehungen zwischen diesen  Größen gelangt.  So kann man z.B. für ein Gas, das ja aus Myriaden von Atomen besteht, die Begriffe Druck und Temperatur einführen und Beziehungen zwischen diesen ableiten.

Mit Hilfe der heutigen Rechner  und ausgefeilten numerischen Verfahren kann man aber inzwischen auch Mehr-Körper-Probleme behandeln und auch noch komplexere Situationen simulieren.

Das Problem der Mathematisierung in anderen Wissenschaften

Die Tatsache, dass die mathematische Sprache so entscheidend zum Erfolg der Physik beigetragen hat,  ist den Wissenschaftlern anderer Gebiete natürlich nicht verborgen geblieben.  Der Prozess der Mathematisierung ergriff nach der Physik zunächst die Naturwissenschaften Chemie und  Biologie.  In der Biologie erleben heute neue Arbeitsgebiete  wie die Biosignalanalyse und Bioinformatik ein großes Wachstum und ziehen Mathematiker, Physiker und Informatiker an.  Aber auch in den Fächern Ökonomie, Psychologie und Linguistik sind immer dort, wo es um Quantitatives geht, mathematische Methoden längst etabliert.  Je komplexer aber der Gegenstandsbereich der Forschung ist, um so unübersichtlicher werden aber auch die Vorteile der mathematischen Modelle.  Hier gehen dann manche noch über Kant hinaus und unterstellen stillschweigend, dass ihr Fach, auch wenn es keine “Naturlehre”  mehr ist,  erst dadurch zur eigentlichen Wissenschaft wird, dass in diesem  “Mathematik anzutreffen”  ist.  Das muss natürlich zum Streit innerhalb des Faches führen [1].

In der Tat, zu einer quantitativen Wissenschaft gehört schon die mathematische Sprache, aber in jeder Sprache kann man vieles erzählen [2]. Es gehört aber wesentlich auch die Begriffsbildung und die Bildung von allgemeineren Grundsätzen oder Prinzipien dazu  sowie eine klare Unterscheidung zwischen Fakten und deren Zusammenbindung durch übergeordnete Hypothesen. Die Geschichte, die man erzählt, muss ja auch einen Sinn ergeben.  Mir ist klar, dass das in Wissenschaften, in denen das Verhalten von Menschen eine Rolle spielt, viel schwieriger ist als in der Physik.  Außerdem werden hier auch noch ethische Gesichtspunkte eine Rolle spielen müssen.

An der Mathematisierung wird aber kein Weg vorbei führen, wenn es in einer Wissenschaft um etwas Quantitatives gehen kann.  Widerstände dagegen wird es immer gegeben, solche kennt man auch aus  der Geschichte der Physik.  Die Maxwellsche Theorie hat erst nur langsam auf dem europäischen Kontinent Fuß fassen können, weil die meisten Physiker mit deren mathematischen Begriffen nicht umgehen konnten.  Und das Verhältnis zwischen Experimentalphysikern und Vertretern der “Mathematischen Physik” ist auch heute nicht immer spannungsfrei.

Es ist übrigens wie im Alltag:  Ein guter Rhetoriker kann beeindrucken.  Erzählt er noch eine sinnvolle Geschichte, bei der man auch etwas Neues erfährt, ist es doppelt schön. Sonst aber fühlt man sich irgendwie hintergangen.

 

[1] siehe z.B. S. Thieme: Mathematisierung,  http://wissenschaftlichefreiheit.de/?p=203

[2] Über  eine  besonders abenteuerliche Geschichte in mathematischer Sprache berichtet M. Binswanger in http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2012/01/wie-die-uni-oekonomen-versagen–die-theorie-der-prostitution-als-mahnmal/

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Josef Honerkamp war mehr als 30 Jahre als Professor für Theoretische Physik tätig, zunächst an der Universität Bonn, dann viele Jahre an der Universität Freiburg. Er hat er auf den Gebieten Quantenfeldtheorie, Statistische Mechanik und Stochastische Dynamische Systeme gearbeitet und ist Autor mehrerer Lehr- und Sachbücher. Nach seiner Emeritierung im Jahre 2006 möchte er sich noch mehr dem interdisziplinären Gespräch widmen. Er interessiert sich insbesondere für das jeweilige Selbstverständnis einer Wissenschaft, für ihre Methoden sowie für ihre grundsätzlichen Ausgangspunkte und Fragestellungen und kann berichten, zu welchen Ansichten ein Physiker angesichts der Entwicklung seines Faches gelangt. Insgesamt versteht er sich heute als Physiker und "wirklich freier Schriftsteller".

41 Kommentare

  1. Ein wichtiges Problem der Mathematisierung in nicht-naturwissenschaftlchen Zusammenhängen wird in diesem Beitrag zu wenig angesprochen:
    In der Physik und den meisten anderen Naturwissenschaften sind mathematisch formulierte Gesetze oft Beschreibungen der tieferen Zusammenhänge oder sie haben eine enge Beziehung zu diesen tieferen Zusammenhängen. In nicht-naturwissenschaftlichen Anwendungsgebieten betrifft die Mathematisierung nicht selten nur oberflächliche Aspekte und nicht die tieferen Zusammenhängen und die bestimmenden “Kräfte” des Fachgebietes.
    Dazu ein Beispiel: Im Newton’schen Gravitationsgesetz finden wir eine 1/r^2 Beziehung in der Gravitationskraft zwischen zweit Punktmassen. Eine derartige Beziehung gibt es auch bei den elektrischen Kräften zwischen Punktladungen. Diese umgekehrt quadratische Beziehung sagt etwas grundlegendes über die Beziehung von Kraft/Feld und Raum aus. Damit stecken also im Newtonschen Gravitationsgesetz tiefere Zusammenhängen, die über die Einzelbeschreibung einer Kraft hinausgehen.
    Nehmen wir zum Vergleich Formeln aus der Ökonomie. z.B. die Gesamtwirtschaftliche Nachfrage:
    (Zitat)“Aus der Inländersicht gilt damit als gesamtwirtschaftliche Nachfrage: Y^n(Inland)\!\ = C + I + G + Ex” wobei Konsumgüternachfrage (C), Investitionsgüternachfrage (I) und den staatlichen Ausgaben (G) und Exporte (EX) sind. Solche eine Formel hat mehr einen definitorischen Charaketer als dass sie einen tieferen Zusammenhang wiedergibt. Das Aufstellen solcher Formeln in der Ökonomie bringt für die tieferen ökonomischen Zusammenhänge herzlich wenig, Wenn die Mathematisierung der Ökonomie das Aufstellen derartiger Formeln bedeutet, dann kann man ruhig sagen, dass eine derartige Mathematisierung nicht den Kern der Ökonomie betrifft. In den Naturwissenschaften, insbesondere in der Physik ist das ganz anders.

    • In der Physik können deswegen tiefere Zusammenhänge mit mathematischen Werkzeugen erfasst und dargestellt werden, weil es in diesem Bereich Grundkräfte von verlässlich gleicher und messbarer Stärke gibt, deren Wirkungen sich addieren oder multiplizieren und damit vorausberechnen lassen.

      In allem, was spezifisch lebendig ist dagegen gibt es keine derart quantifizierbaren Grundkräfte.
      Begriffe wie „Nachfrage“ in der Ökonomie oder „Wunsch“ in der Psychologie bezeichnen zwar Kräfte, sind aber keine Wirkungen, die sich aus der Addition irgendwelcher Grundkräfte ableiten lassen, und mithin nicht mathematisierbar im Sinne der sogenannten „exakten“ Naturwissenschaft. In einer Gesellschaft entstehen und vergehen Kräfte, die nicht quantifizierbar sind, und es ist unmöglich, ihr Erscheinen oder ihr Ausmaß vorherzusagen. Rechtsradikalismus, Zukunftsangst, europäische Einigung – das sind Beispiele für solche Tendenzen und Kräfte, die zwar wirksam sind, aber es gibt keine Grundeinheiten dafür, man definiert und benennt sie ad hoc.

    • Wer definiert eigentlich, was eine “Beschreibungen der tieferen Zusammenhänge” oder eine “enge Beziehung zu diesen tieferen Zusammenhängen.” hat und was nicht?

      Um das zu wissen, müsste man diese tieferen Zusammenhänge ja erst Mal kennen. Wir kennen aber nur die “oberflächlichen” empirischen Fakten. Und bei deren Beschreibung durch Mathematik ist es grundsätzlich erst Mal egal, ob man damit Impuls oder z. B. Auftrittswahrscheinlichkeit eines bestimmten wirtschaftlichen Verhaltens meint.

    • Allzu tief in ökonomische Fragestellungen sind Sie nicht gerade vorgedrungen. Hinter jeder Komponente der Nachfragegleichung stecken Verhaltensfunktionen (das ist der Witz an der Sache), Nachfrage wird von Menschen gemacht. Sie müssen also z.B. konstruieren Konsum = f(x, y,z usw.). Das können dann etwa Zinsen oder Einkommens- oder Vermögenskom-ponenten sein, dummerweise spielen bei Konsumenten aber auch Erwartungen etc. eine Rolle (also: erwartete Zinsen, erwartetes Einkommen, erwartetes Vermögen). Diese Komponenten treten dann wieder bei der Investitionsgleichung als unabhängige Variable auf, das Ganze ist aber mit allem interdependent, alle Teile sind auf verdammt komplexe Art miteinander verbunden. Die Zinsen hängen vom Kapitalmarkt ab, aber auch vom Geldmarkt und den offshore-Märkten, den Exporten, Importen und ihrem Einfluss auf die Wechselkurse und umgekehrt, dem Derivate-Handel (Optionen, Futures, Swaps), der Geldpolitik der europäischen Zentralbank, der erwarteten Geldpolitik der Zentralbank, der Ausgabenpolitik des Staates, der Steuerpolitik, und umgekehrt, wir haben aber eine ganze Menge Staaten, Zentralbanken, Investoren, Kreditnehmer, Investoren usw. usf., wir sind ja weltwirtschaftlich gut vernetzt. Viel Spaß bei der Konstruktion eines entsprechenden Modells (manche ökonometrische Modelle haben Dutzende Variable bzw. Verhaltenshypothesen und mehr als 80 Gleichungen). Nächstes Jahr kann dann alles ganz anders sein, weil Menschen eben auch mal ihr Verhalten ändern oder sogar ein großer Strukturbruch stattgefunden hat (war da was mit Lehman Brothers?). Jetzt bringen Sie dieses ganze System mal zum Schwingen, wir haben in der Realität ja Konjunkturschwankungen, je nachdem wie Sie die Parameter wählen, erzeugen Sie diverse Schwankungen (das nennt man Multiplikator-Akzelerator-Schwankungssysteme, das sind mathematisch gesehen Differentialgleichungssysteme, ist was Ähnliches wie Lotka-Volterra bei den Biologen, nur “etwas” komplexer). Sie müssen aber die ganze Weltwirtschaft abbilden und noch den Staat und die Geldpolitik integrieren, das Ganze sollte dann an der Realität überprüft werden. Investitionen erzeugen übrigens Kapazitäten, werden diese in Zukunft ausgelastet sein?, die Nachfrage muss möglicherweise exponentiell ansteigen, um dieses zustande zu bringen …. Das nennt sich dann Wachstumstheorie und ist wieder ein ganz, ganz komplexes ökonomisches Forschungsfeld! Da können Sie dann auch ganz wunderbar mit Differenzengleichungen herumwursteln (Frage, ob das viel bringt). Probleme, wie die Modellintegration technischen Fortschritts, von Innovationen, der Wirkung von Innovationsanreizen, von Patentpolitik (jetzt haben wir die fachliche Grenze zur Juristerei überschritten), komplexen Diffusionsprozessen (jetzt haben wir die Grenze zur Soziologie überschritten) usw. usf. (hat alles Wachstumseffekte) wollen wir jetzt mal – so wie vieles andere – ganz weglassen.

      Menschliches Verhalten ist bei der Ökonomie der tiefere Zusammenhang!

      Merken Sie sonst noch etwas? Man muss zwischen hochkomplexen und lediglich komplizierten wissenschaftlichen Erfahrungsobjekten unterscheiden, Komplexität hat etwas mit Interdependenz und dem möglichen Änderungspotential von Parametern im Zeitablauf etc. zu tun. Das Planck`sche Wirkungsquantum ist nicht mal heute so und morgen so, das Elektron unterliegt in seinem Verhalten keinen Modeerscheinungen, das Quark will den Physiker nicht ärgern. Wirtschaft ist hochkomplex, das physikalische Erfahrungsobjekt ist einfach und konstant, deshalb können die Physiker über ihre Annahmensysteme ein vielfältiges Bedingungsgefüge deduktiv sehr gut bewältigen und hochkomplizierte und mathematisch eindeutig beschreibbare Modelle konstruieren.

  2. Die Mathematisierung der Wissenschaften, sollten im Artikel insbesondere auch die IT-gestützten Simulationen und Hochrechnungen hoch komplexer Systeme gemeint sein, ist problematisch.

    Aber bevor Ihr Kommentatorenfreund zum Artikel näher Stellung bezieht:
    Was ist für Sie genau ‘Mathematik’? Kann es unterschiedliche Mathematiken geben?

    MFG
    Dr. W

    • Was ist für Sie genau ‘Mathematik’?

      Das ist in diesem Zusammenhang eine gute Frage. Einerseits ließt man oft in Büchern oder hört im Rundfunk und Fernsehen, dass sogar angesehene Naturwissenschaftler sehr überrascht darüber sind, dass man die Natur so gut mit Hilfe der Mathematik beschreiben kann.
      Oft bekommt man den Eindruck, man hat es mit einem wunderlichen Mysterium zu tuen.

      Andererseits gibt es in der Mathematik und Wissenschaftsgeschichte genug Beispiele dafür, dass die Mathematik sogar Anregungen durch die Naturwissenschaft enthielt. Manche mathematische Theorien wurden offenbar direkt in Hinblick auf ihre praktische Anwendbarkeit entworfen.

      Kann es unterschiedliche Mathematiken geben?

      Ich traue mich nicht, diese Frage zu beantworten. Ich kann nur einen Hinweis in Form zweier Stichwortes geben: Konstruktive Mathematik, diskrete Mathematik.
      Was ich aber weiß, ist, dass es verschiedene Auffassungen von Mathematik gab. Beispielsweise soll Frege eine andere Auffassung vertreten haben als später Hilbert.

  3. Die Frage ist auch, wer sich an die Mathematisierung nichtnaturwissenschaftlicher Fächer macht: Die betreffenden Fachleute, also im Fall der Soziologie die Soziologen, oder aber Physiker, Mathematiker und andere Naturwissenschaftler, die sich dieser nichtnaturwissenschaftlichen Fächer annehmen indem sie gewissermassen übergriffig werden und das fremde Fachgebiet neu begründen – auf mathematischer Basis begründen.
    Es gibt beide Ansätze und beide sind gerade heute zu beobachten. An der ETH ist beispielsweise Didier Sornette, ein Physiker auf dem Lehrstuhl Entrepreneurial Risks Department of Management auch Direktor des ETH Risk Center, wo er mit statistischen Verfahren ökonomische Prozesse modelliert. Bekannt wurde er für seine Behauptung, Blasenbildungen an der Börse und in der Wirtschaft mit mathematischen Verfahren prognostizieren zu können (siehe dazu seinen TED-Auftritt)
    Didier Sornette wendet immer noch mathematische und physikalische Methoden an, als Anwendungsgebiet hat er sich aber die Ökonomie gesucht. Er begründet also ein Teilgebiet der Ökonomie neu über einen mathematischen/physikalischen Zugang.
    Der andere Fall – ein Geisteswissenschaftler oder Gesellschaftswissenschaftler wählt selbst Methoden, die sonst eher in der Naturwissenschaft üblich sind – ist ebenfalls an der ETH anzutreffen: Dirk Helbling, der den Chair of Sociology innehat, arbeitet mit Modellierungs- und Simulationssoftware. Bekannt wurde Dirk Helbling über sein bei der EU als Flagship-Programm eingereichtes Projekt Future ICT. Future ICT will (Zitat)“The ultimate goal of the FuturICT project is to understand and manage complex, global, socially interactive systems, with a focus on sustainability and resilience.”, das aber vor allem mit informatischen Mitteln, nicht mit den klassischen Mitteln der Soziologie, Philosophie und Medienkunde.

  4. Sie finden den Satz Kants „Ich behaupte aber, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist“ „problematisch und irreführend“. Wenn man sich genauer ansieht, was der Sinn dieses Satzes ist, bemerkt man aber, daß Ihre Argumente (auch Logik, auch Begriffsbildung) nicht gegen ihn sprechen.

    Eine mathematische Aussage ist apriorisch und mit dem Bewußtsein der Notwendigkeit verbunden. Bei einer empirisch gewonnenen Verallgemeinerung können wir immer nur sagen „soweit wir bisher gefunden haben“, nicht „es ist notwendigerweise so“, wie im Falle einer mathematischen Aussage. Das bedeutet, daß ohne Mathematik eine empirische Wissenschaft nicht „Wissenschaft“ im damaligen Verständnis ist.

    Apriorisch und mit dem Bewußtsein der Notwendigkeit verbunden sind auch die Aussagen der Logik (nicht nur der formalen, auch der Transzendentallogik). Es ist im obigen Kant-Satz selbstverständlich vorausgesetzt, daß das, was für die Mathematik eben gesagt wurde, dafür auch gilt.

    Die Mathematik hat aber noch eine Besonderheit: Sie erlaubt Objektivierung insofern, als sie quantitative Aussagen macht. „Mir ist warm“ ist der Form nach kein objektiver Satz, sondern ein subjektiver, er sagt nichts über den Gegenstand, sondern über das Subjekt. „Es ist warm“ ist zwar ein Satz nicht über das Subjekt, sondern über die Welt (bzw. einen Gegenstand), aber es ist problematisch, ihn zu objektivieren: ein anderer kann sagen: Ich finde es überhaupt nicht warm. Erst beim Satz „die Temperatur beträgt 31 ° C“ ist das behoben.

    Daß es in der Wissenschaft wesentlich auf Begriffsbildung ankommt, bestreitet Kant natürlich nicht, es wird nur an anderer Stelle relevant. Quantifizierung wird obsolet, wenn sie etwas als gleich unterstellt, was doch unter verschiedene Begriffe fällt. Ich weiß nicht, ob das in der Physik Schwierigkeiten macht. Anderswo, insbesondere in der empirischen Sozialforschung – für Kant fällt das unter Naturforschung – bereitet das die größten Probleme. Ständig wird etwas quantifiziert, was doch unter höchst. verschiedene Begriffe fällt (z. B. „Glück“, siehe meinen neuen Blog-Artikel). Man hat Mühe, Arbeiten zu finden, in denen das nicht so ist. – Bei Kant ist das in einer berühmten Fußnote thematisiert, wo es um die bestimmende Urteilskraft geht und wo er „Dummheit“ definiert.

    • Die entscheidende Frage ist für mich, was überhaupt mathematisiert wird. Die Objektivierung, die oben als Pluspunkt erwähnt wird, legt es nahe, Mathematik zur Klärung und zur Vermeidung von Missverständnissen zu verwenden.
      Die Frage für mich ist aber, wie weit unten man einen mathematischen und dann möglicherweise axiomatischen Ansatz wählt. Damit ist der letzte Absatz angesprochen: “Daß es in der Wissenschaft wesentlich auf Begriffsbildung ankommt..” Diese Begriffsbildung könnte eben berreits mit mathematisch fundierten Modellen geschehen.
      Als Beispiel möcht ich auf die Webseite Mathematische Methoden in den Sozialwissenschaften hinweisen.Dort wird im Teil V (Quantifikation in der Sozialwissenschaft) unter anderem die Quantifikation der Macht abgehandelt. Bestimmte Machkonstellationen werden dort als Relationen modelliert und mit Wahrscheinlichkeiten versehen. Dabei wird immer Bezug zu konkreten Machtkonstellationen genommen, beispielsweise zu den Machtverhältnissen im amerikanischen Kongress und wie diese sich durch Amtsbesetzungen verändern können.
      Einerseits sieht man in diesen konkreten Beispielen, dass man bestimmte Machtkonstellationen mathematisch modellieren kann. Andererseits besteht bei diesem Vorgehen die Gefahr, dass man Dinge aus dem Bereich Macht gar nicht beachtet, nur weil sie nicht mathematisiert werden können oder noch nicht mathematisiert sind.
      Die Mathematisierung bestimmter Bereiche der Sozialwissenschaften kann also zur Blindheit für Bereiche führen, die sich noch nicht mathematisieren lassen. Es gibt mehrere mögliche Antworten auf dieses Problem. Mindestens diese:
      a) Man erobert immer weitere Bereiche mit mathematischen Ansätzen
      b) Man behandelt gewisse Bereiche wie bis anhin und andere mathematisiert man
      c) Es gibt eine Trennung in zwei Schulen, in die old school, die weiterhin nur mit wenig mathematischem Werkzeug arbeitet und eine die möglichst vieles mathematisieren will.

      • Die entscheidende Frage ist für mich, was überhaupt mathematisiert wird. Die Objektivierung, die oben als Pluspunkt erwähnt wird, legt es nahe, Mathematik zur Klärung und zur Vermeidung von Missverständnissen zu verwenden.

        Und wie mathematisiert wird. – Bestimmte hoch komplexe Systeme sind nicht verlässlich mathematisierbar, die neuen Möglichkeiten (Web, Hochleistungsrechner, Modellrechnungen bisher unbekannter Größe) verführen hier ein wenig.

        MFG
        Dr. W

  5. “Was ist für Sie genau ‘Mathematik’? Kann es unterschiedliche Mathematiken geben?” Ich denke als Anwender der Mathematik natürlich an die gängige Mathematik a la Cantor, nicht an Nichtstandardanalysis oder Intuitionistische Mathematik. Die Betrachtung der Aufspaltung der Mathematiker-Gilde in verschiedene Lage und damit verschiedene “Mathematiken” ist reizvoll, für einen Naturwissenschaftler aber eher etwas für den Sonntag.

    • Die Betrachtung der Aufspaltung der Mathematiker-Gilde in verschiedene Lage und damit verschiedene “Mathematiken” ist reizvoll, für einen Naturwissenschaftler aber eher etwas für den Sonntag.

      Es geht dem Schreiber dieser Zeilen hier um die Gesamtveranstaltung des Primaten, die “Kunst des Lernens” oder entsprechendes Können, das in formalisierter Form die gemeinte Mathematik herbeigeführt hat.
      Nun soll das Menschenmögliche nicht in Frage gestellt werden, vor dem Hintergrund des Fragens nach dem was ist, im naturwissenschaftlichen Sinne und allgemein ist es aber schon wichtich.

      Also war es keine Anfrage zu wie auch immer gelagerten Lagerdenken, hmm, …, …, wenn Sie vielleicht noch ganz kurz zur modellhaften iterativen Mathematisierung hoch komplexer Systeme Stellung beziehen könnten…
      Ist ja doch eine neue Technologie, die sich aufgetan hat, Sie erkennen sicherlich mögliche Problematiken und werden in einem Folge-Artikel dementsprechend auftischen?!

      MFG
      Dr. W

  6. @Martin Holzherr: “Aus der Inländersicht gilt damit als gesamtwirtschaftliche Nachfrage: Y^n(Inland)\!\ = C + I + G + Ex” […] Das Aufstellen solcher Formeln in der Ökonomie bringt für die tieferen ökonomischen Zusammenhänge herzlich wenig. Ja , das mag sein. Es könnte aber auch sein, dass diese Relation eine brauchbare Definition einer abgeleiteten Größe ist oder aber auch, wenn diese direkt messbar ist, eine gesichertes Faktum darstellt, das in einer späteren Theorie ableitbar ist. Ich will damit sagen, dass man in der Regel erst eine Sammlung von gesicherten Fakten haben muss, ehe man diese mit einer Theorie unter “einen Hut” bringt. So war es in der Physik, z.B. in der Elektrodynamik und Quantenmechanik. Vielleicht ist die Ökonomie als Wissenschaft noch “zu jung” und es ist noch nicht genügend empirisches Material vorhanden, um bei einer Konkurrenz verschiedener Theorie eine Entscheidung fällen zu können.

  7. @Dr.Webbaer: Verstehen Sie unter “modellhafter iterativer Mathematisierung hoch komplexer Systeme” mathematische Modelle hochkomplexer Systeme, die iterativ verbessert werden? Dazu lässt sich, meine ich, allgemein nicht viel sagen. Da müsste man m.E. schon bei konkreten Modellen ins Detail gehen.

    • Verstehen Sie unter “modellhafter iterativer Mathematisierung hoch komplexer Systeme” mathematische Modelle hochkomplexer Systeme, die iterativ verbessert werden?

      Die ‘modellhafte iterativer Mathematisierung hoch komplexer Systeme’ meinte auch IT-gestützte Simulationen, die auf großen Datenmengen basieren und sich auch um die Prädiktion bemühen, der “Klassiker” an dieser Stelle sind im Moment die Systeme der Klimatologie, die sogenannte Läufe durchführen und auf Grund von Szenarien Konfidenzintervalle auswerfen, die die zu erwartende Erwärmung ausdrücken sollen.

      Oder um von diesem Punkt wegzugehen, das sogenannte Big Data, das analytisch betrachtet mittlerweile auch für die Vorhersage von Wahlergebnissen (Stichwort: Nate Silver) und allgemeiner wirtschaftlicher Entwicklung genutzt wird.

      Wobei die Weiterentwicklung dieser Systeme iterativ erfolgt, sie neue Datenlagen aufnehmen und die Mathematisierung fortlaufend angepasst wird, so dass von einer Falsifikation kaum mehr gesprochen oder geschrieben werden kann. Vgl. auch: -> https://scilogs.spektrum.de/die-natur-der-naturwissenschaft/falsifiziert-oder-einfach-fallen-gelassen-ber-den-niedergang-physikalischer-theorien/#comment-2744

      Hier würde sich der Schreiber dieser Zeilen über eine Betrachtung Ihrerseits außerordentlich freuen, wobei Sie natürlich nicht direkt Bezug nehmen müssen auf bestimmte IT-gestützte Simulationen, sondern vielleicht zum “Meta” etwas schreiben könnten. Sofern das möglich ist zurzeit.

      MFG
      Dr. W

  8. Die Aussage des Kant-Zitates interpretiere ich dahingehend, dass rein empirisch erhaltenes Wissen noch keine Naturwissenschaft ausmacht. Damit vergleichbar hat später auch Poincaré argumentiert, dass experimentelle Fakten allein keinesfalls hinreichen und eine Anhäufung von Fakten so wenig eine Wissenschaft ist wie ein Haufen von Steinen ein Haus.

    Empirische Wissenschaft, die diese Bezeichnung verdient, beinhaltet demnach stets auch die Bereitstellung eines formalen Rahmens zur modellhaften Beschreibung eines in Betracht stehenden Phänomens durch theoretische Begriffe. Dabei soll eine Modellierung gerade diejenigen Muster hervorbringen, die auch bei Observation des Phänomens in natura als signifikant gelten. Doch wo eine mathematisch rigorose Modellierung nicht gelingt, wird man allemal zugestehen müssen, die fragliche Angelegenheit noch nicht umfassend und zufriedenstellend verstanden zu haben.

  9. @Chris: Muss ich aus Ihrem Beitrag entnehmen, dass Sie davon ausgehen, dass eine mathematische Modellierung schon alles ist, was eine Wissenschaft ausmacht und Sie somit Kant voll und ganz zustimmen? Ich meine, hinter einer mathematischen Modellierung muss immer noch ein “Sinn” stehen, d.h. ein Prinzip oder eine Grundaussage, die zu dem Ansatz der Modellierung führt, sozusagen der Plan, nach dem das Haus aus dem Steinhaufen gebaut wird (ein schönes Bild übrigens).

    • »Muss ich aus Ihrem Beitrag entnehmen, dass Sie davon ausgehen, dass eine mathematische Modellierung schon alles ist, was eine Wissenschaft ausmacht und Sie somit Kant voll und ganz zustimmen?«

      Nein, so einfach ist es wohl nicht. Beispielsweise würde ich die Wissenschaftlichkeit von Darwins “On the Origin of Species” keinesfalls in Abrede stellen wollen, obwohl evolutionäre Mechanismen wie Variation und Selektion dort lediglich als heuristische Konzepte auftreten. Aber es wird sicherlich als Fortschritt unseres Verstehens von biologischer Evolution angesehen, dass Evolutionsprozesse mittlerweile prinzipiell durchaus rigoros modellierbar sind. Wo man zunächst nur mit Heuristik argumentieren kann, bewegt man sich eher noch im Bereich von Hypothesen als dem von Theorien, und man wird i.a. doch bestrebt sein, die Heuristik zu ersetzen — normalerweise durch Mathematik, denn etwas besseres hat man zu diesem Zweck nicht bei der Hand.

      Natürlich sollte das mit Sinn und Verstand geschehen. Eine ökonomische “Theorie” der Prostitution wird schwerlich dadurch besser, dass ein paar schlichte Formeln dazukommen.

      Eine andere Sache ist es freilich noch, wenn sich Vertreter der empirischen Wissenschaften an math. Modellen so berauschen, dass sie zwischen Modell und Phänomen schlussendlich nicht mehr unterscheiden können. Das kommt bisweilen ja vor und ist gewiss auch keine vorbildliche Wissenschaft.

      • Theorien beschreiben, erklären und erlauben die Prädiktion, wobei aus Sicht des Schreibers eine Leistung genügt, um den Charakter der Theorie zu wahren. Das heißt jedenfalls, dass nicht nur Mathematik im Spiel ist.

    • Eine Überlegung noch zu dem Zitat von Kant. Um überhaupt die Naturphänomene mit einer Art von “objektivem” Wissen verknüpfen zu können, kann er sich nicht auf eine Ontologie der Dinge an sich stützen, denn darüber lässt sich aus Prinzip kein Wissen erlangen. Stattdessen dient ihm hier die Mathematik als ein Instrument der Objektivierung: Über ein Naturphänomen besteht gerade so viel an “objektivem”, eigentlichen Wissen, wie in seiner mathematischen Beschreibung an Wahrheit steckt. Und mathematische Wahrheit erachtete er als der Anschauung a priori gegeben.

      Für Kant hat die Mathematik in diesem Kontext wohl eine viel bedeutsamere Rolle als nur die eines Mittels zur abstrakten Modellierung, wie wir es heute üblicherweise verstehen. Letztlich kann jedoch die Mathematik die Erwartungen von Kant bereits insofern unmöglich erfüllen, als aus heutiger Sicht mathematische Wahrheit nicht a priori gegeben ist, sondern vielmehr axiomatisch gesetzt wird.

  10. @Dr. Webbaer: Ich glaube, man muss unterscheiden zwischen 1) naturwissenschaftlichen Theorien, 2) historischen Rekonstruktionen und 3) statistischer Auswertung von Daten. Bei den Theorien denke ich an physikalische Theorien, bei historischen Rekonstruktionen an die “Urknalltheorie”, die Evolutionstheorie, die Klimatologie, die Entwicklungsgeschichte der Erde oder die Paläoanthropologie. Bei diesen Rekonstruktionen werden Quellen (Beobachtungen, Funde, Fossilien, etc) und naturwissenschaftliche Theorien (Allgemeine Relativitätstheorie, Hydrodynamik, etc.) zu Hilfe genommen, um die jeweilige Geschichte aufzudecken. Bei den eigentlich historischen Wissenschaften tritt das weitere Wissen um die kulturellen Gegebenheiten der jeweiligen Zeit an die Stelle der naturwissenschaftlichen Theorien.
    Voraussagen über eine Weiterentwicklung bei gegebener akzeptierter Rekonstruktion sind natürlich schwierig, wie auch die Einschätzung der Unsicherheit, die damit einher geht. Um das genau zu beurteilen, muss man wohl sehr ins Detail einsteigen.
    Statistische Auswertungen von Daten gehören zu Methoden, sind “Zubringer” von Theorien oder stehen nur für sich wie bei Wahlprognosen.
    Zum Thema “Zubringer”: Der erste Fall einer geglückten Auswertung von “Big Data” war die Formulierung der Keplerschen Gesetze auf der Basis der Beobachtungen von Tycho Brahe. Man kann also Regelmäßigkeiten, Fakten damit aufdecken.

  11. Der erste Fall einer geglückten Auswertung von “Big Data” war die Formulierung der Keplerschen Gesetze auf der Basis der Beobachtungen von Tycho Brahe. Man kann also Regelmäßigkeiten, Fakten damit aufdecken.

    “Big Data” meint das Zusammenführen großer Datenmengen aus verschiedenen Quellen und dies bezogen auf hoch komplexe Systeme.
    Es entsteht hier ein Instrumentarium, das zumindest einige an den Wilden Westen erinnert.

    MFG
    Dr. W

  12. @ Chrys

    „Letztlich kann jedoch die Mathematik die Erwartungen von Kant bereits insofern unmöglich erfüllen, als aus heutiger Sicht mathematische Wahrheit nicht a priori gegeben ist, sondern vielmehr axiomatisch gesetzt wird.“

    Das ist nicht richtig. Es klingt so, als wäre die genannte Auffassung Kants heute abgetan wie die Phlogistonlehre oder die Cuvier’sche Katastrophentheorie. Tatsächlich ist das, was Sie als „heutige“ Auffassung bezeichnen, die des Positivismus/Empirismus, wo man mit dem Begriff des Apriorischen sowieso nichts anfangen kann. Wir haben es hier nicht mit einer Sukzession von Erkenntnissen, sondern mit seit Jahrhunderten nebeneinander bestehenden und konkurrierenden Theorien zu tun, von denen mal die eine, mal die andere mehr im Licht steht, und es ist nicht abzusehen, daß sich das ändern wird. Die Vorherrschaft, die das empiristische/positivistische Denken seit einigen Jahrzehnten hat, verdankt sich zudem sichtlich eher allgemeinkulturellen, ökonomischen und politischen Ursachen als einer philosophischen Überzeugungskraft dieser Lehren.

    • Was ein a priori mathematischer Wahrheit betrifft, das kollidiert bereits mit nichteuklidischer Geometrie. Euklids Parallelenaxiom kann als wahr oder falsch angenommen werden, und abhängig von den jeweiligen Annahmen kann man zu ganz unterschiedlichen Geometrien gelangen. Auf diese Kollision weist u.a. auch Poincaré in [La Science et l’Hypothèse (1902)] hin — die Logischen Empiristen dürften damit in diesem Fall entlastet sein.

      Zwar waren Kants synthetische Urteile a priori ein Hauotangriffsziel des Logischen Empirismus, jedoch hat die Strategie, empirische Wahrheit durch induktive Schlussweisen logisch zu rechtfertigen, durchaus Gemeinsamkeiten mit Kants Rückgriff auf die Mathematik. In beiden Ansätzen wird empirische Wahrheit unter einem Aspekt von zwingender Notwendigkeit gesehen, oder zumindest an einen solchen geknüpft. Hingegen ist dies im Kritischen Rationalismus dann nicht länger gegeben.

      • “Was ein a priori mathematischer Wahrheit betrifft, das kollidiert bereits mit nichteuklidischer Geometrie. Euklids Parallelenaxiom kann als wahr oder falsch angenommen werden, und abhängig von den jeweiligen Annahmen kann man zu ganz unterschiedlichen Geometrien gelangen.”

        Das wissen die doch, die an der Zuordnung des mathematischen zum apriorischen Denken festhalten. Das Argument geht anders. Ich hab irgendwo in meinem Blog mal ausführlicher dazu geschrieben, weiß aber jetzt nicht mehr wo. – Poincaré: nicht erst der logische Empirismus lehnt den “Apriorismus” ab, sondern jeder.

    • Die Vorherrschaft, die das empiristische/positivistische Denken seit einigen Jahrzehnten hat, verdankt sich zudem sichtlich eher allgemeinkulturellen, ökonomischen und politischen Ursachen als einer philosophischen Überzeugungskraft dieser Lehren.

      Oder zunehmender Klugheit.

      Denn der Skeptizimus hat, u.a. auch in Form eines modernen Konstruktivismus, an Bedeutung gewonnen.

      Der Schreiber dieser Zeilen erlaubt sich zudem anzumerken, dass anti-naturalistische, anti-realistische Sichten seit jeher, zumindest seit einem gewissen Gleichnis mit einer Höhle, gedankenexperimentell widerlegt, gegessen sind.

      MFG
      Dr. W

    • @Ludwig Trepl

      Meiner Bemerkung, “Was ein a priori mathematischer Wahrheit betrifft, …“, fehlt vor dem “a priori” ein entscheidendes Wort — es hätte “synthetisches a priori” heissen müssen. Sprachschlamperei auch in meinem Kommentar davor, denn “axiomatisch gesetzt” widerspricht ja einem “analytischen a priori” in keiner Weise.

      Selbst die Logischen Empiristen hatten mit einem analytischen a priori natürlich keinerlei Probleme, nur mit einem synthetischen. Das klärt vielleicht einiges.

    • @Ludwig Trepl

      Möglicherweise könnte Sie dieses Buch noch interessieren, wenn Sie das irgendwo finden:

      Robert Hanna. Kant and the Foundations of Analytic Philosophy. OUP, 2004.

      Der Autor präsentiert einige Argumente zur Verteidigung von Kants Auffassung, speziell sei dabei auf “5.4. Why Geometry is Synthetic A Priori” und “5.5. The Challenge from Non-Euclidean Geometry” hingewiesen.

      Dazu möchte ich noch anmerken, dass eine Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen offenbar beliebig problematisch werden kann, und dass diesbezüglich etwa auch zwischen Carnap unf Kant unterschiedliche Sichtweisen bestehen. Beispielsweise diskutiert Hanna bei seiner Rechtferigung über Thesen der Form, “der dem Menschan erfahrbare Raum ist (notwendig oder faktisch) Euklidisch”, und man kann bereits darüber streiten, was damit eigentlich ausgesagt sein soll. Was genau ist hier der Raum der Anschauung?

      Verstehe ich den Anschauungsraum nämlich als ein wahrnehmbares Phänomen, dann sind Aussagen über ihn und die darin erkannten geometrischen Gegebenheiten sicherlich synthetisch. Nur ist dieser Raum in striktem Sinne überhaupt kein geometrischer, geschweige denn Euklidischer Raum. Vielmehr dient dann ein abstrakte Euklidische Raum nur als Mittel der Beschreibung des Anschauungsraumes, als ein Modell, dessen Anwendbarkeit dann wiederum empirisch zu rechtfertigen wäre.

      Betrachte ich den Anschauungsraum hingegen als einenen Gegenstand meiner Vorstellung, der aus der Wahrnehmung im wesentlichen durch eine methodische Abstraktion von Längen- und Winkelmessung erhalten wird, dann habe ich einen Euklidischen Raum in strikten Sinne. Aussagen über dessen Geometrie sind analytisch, insofern als sie gefolgert werden aus der Euklidischen Struktur, die das Resultat der besagten Abstraktion darstellt. Diesen abstrakten Raum und seine Eigenschaften darf ich nachfolgend aber keinesfalls naiv identifizieren mit jenem konkret erfahrbaren Raumphänomen, welches die Abstraktion ursprünglich motiviert hat.

      N.B. Hanna bemerkt zum a priori in der Mathematik noch folgendes (p. 266):

      So in fact it was not until Quine’s ‘Two Dogmas of Empiricism’ had been published in 1951 that the claim that mathematics is not a priori began to be taken seriously by philosophers.50

      Und in der zugehörigen Fussnote 50:

      Even so, Quine’s attack on the a priori was not widely recognized to extend all the way to mathematics until somewhat later. Indeed, Putnam appears to have been the first to grasp it fully; see Mathematics, Matter, and Method: Philosophical Papers, Vol. 1, esp. pp. viii–xiii and essays 1–4 (all of which were published or written in the 1960s and early 1970s).

      Quine zufolge wäre dann alles synthetisch und nichts a priori. Ich habe so die Vermutung, dass zu jedem nur vorstellbaren Standpunkt auch ein Philosoph existiert, der ihn vertritt.

  13. @ Dr. Webbaer
    Bestimmte hoch komplexe Systeme sind nicht verlässlich mathematisierbar, die neuen Möglichkeiten (Web, Hochleistungsrechner, Modellrechnungen bisher unbekannter Größe) verführen hier ein wenig.

    Ein konkretes Beispiel in diesem Zusammenhang sind die Milleniums-Probleme.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Millennium-Probleme
    Inbesondere das Problem:
    Analyse von Existenz und Regularität von Lösungen der dreidimensionalen inkompressiblen Navier-Stokes-Gleichungen,

    Obwohl dieses Problem noch nicht gelöst ist, würde der Wert der Theorie der Navier-Stokes-Gleichungen doch deshalb nicht in Frage gestellt werden.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Navier-Stokes-Gleichungen

    Ich vermute, dass es bzgl. des Niveaus der Mathematischen Anforderungen unterschiedliche Auffassungen gibt. -> Die Gewichtung des Problems ist je nach Hintergrund (Mathematiker, Praktiker, Nummeriker) wahrscheinlich sehr unterschiedlich.

    • Ihrem Kommentatorenfreund geht es um (Natur-)Wissenschaft und Mathematik.
      Hier ist man schnell bei hoch komplexen Sachverhalten, die bspw. in den Datenhaltungen nachgegossen sind, inklusive der Entitäten oder “Wirkfaktoren”.
      Das geht heutzutage dank moderner IT-Systeme schnell.
      Das sind andere Problemlagen als rein mathematische, letztlich rein tautologische.

      MFG
      Dr. W

      • Aha, d.h. Sie sprechen das Problem sehr komplexer Sachverhalte an.

        Da kommen natürlich gleich eine Reihe von Fragen auf:

        a) Wie bewertet man aus praktischer Sicht die Aussagen von Kurt Gödel bzgl. komplexer Systeme innerhalb der Mathematik?

        b) Die praktische Aussage: “Mit mehr als 4 freien Parametern kann man einen Elefanten fitten” ist zu diskutieren. Siehe Ockhams Rasiermesser – es stellt sich die Frage, inwieweit Ockham mathematisch oder eher praktisch ist? Bspw. kann man schon Vereinbarungen treffen, inwieweit Parameter mit sehr kleinen Einflüssen aus Modellen entfernt werden sollten.

        c) Die Rolle der “Zubringer” von Theorien (siehe Honerkamp) ist bzgl. der Unterscheidung, was Theorie und was “Zubringer” ist, auszuarbeiten.

        d) Wie gehen wir mit sehr komplexen Modellen wie bspw. dem Standardmodell um? Anscheinend hat man praktisch kein Problem innerhalb der Community mit der Komplexität umzugehen.

        • Herr Thimm:

          a) Wie bewertet man aus praktischer Sicht die Aussagen von Kurt Gödel bzgl. komplexer Systeme innerhalb der Mathematik?

          Gödel hat eine Besonderheit, an Hand der Arithmetik, bearbeitet. Diese Besonderheit ist kein generelles Merkmal einer Theoretisierung.

          b) Die praktische Aussage: “Mit mehr als 4 freien Parametern kann man einen Elefanten fitten” ist zu diskutieren. Siehe Ockhams Rasiermesser – es stellt sich die Frage, inwieweit Ockham mathematisch oder eher praktisch ist? Bspw. kann man schon Vereinbarungen treffen, inwieweit Parameter mit sehr kleinen Einflüssen aus Modellen entfernt werden sollten.

          Occams Rat war eben ein Rat, der bevorzugt zum Zeitpunkt einer Theoretisierung wirkt. Ist erst einmal theoretisiert, hilft der Rat nicht (mehr).

          c) Die Rolle der “Zubringer” von Theorien (siehe Honerkamp) ist bzgl. der Unterscheidung, was Theorie und was “Zubringer” ist, auszuarbeiten.

          Womöglich eine problematische Sicht, denn die Datenerhebung erfolgt bereits ausschnittsartig und einer Mess- oder allgemeiner einer Datenerhebungstheorie folgend. – Man müsste hier ins Metatheoretische gehen…

          d) Wie gehen wir mit sehr komplexen Modellen wie bspw. dem Standardmodell um? Anscheinend hat man praktisch kein Problem innerhalb der Community mit der Komplexität umzugehen.

          Womöglich ist dieses Modell nicht komplex (genug).

          MFG
          Dr. W (der sich in dieser Kommentatorik hauptsächlich an den neuen Möglichkeiten abarbeitet, die eine großflächige Datenerfassung/Datenhaltung mit sich bringt, die ein neues Instrument darstellt und zu einer wissenschaftlichen, fortlaufend anzupassenden Theoretisierung einlädt, die sich wiederum der Falsifikation zuverlässig entziehen könnte – sozusagen auf der Zeitachse)

  14. Eine sehr spannende Diskussion, in der mir nur das fehlt was aus Sicht von George Steiner mit dem Problem der Unübersetzbarkeit der Mathematik als Sprache in eine andere Wissenschaft in seinem Buch Sprache und Schweigen ausgeführt und zu einer bedrückenden Klarheit führt. In einer mit 35 Seiten sehr knappen aber leicht lesbaren Analyse, dem Kapitel das Steiner mit dem Titel: “Der Rückzug aus dem Wort” betitelt hat, beschreibt er den Aufstieg der Mathematik. Seit dem 17. Jahrhundert beginnt eine Entwicklung die die Mathematik zu einem Garanten für die Wissenschaftlichkeit vieler Wissenschaften zur Legitimation werden ließ, sie wurden in dem Artikel aufgezählt, auch in den Kommentaren angesprochen: Mathematik hörte auf, “… ein Instrument der Empirik zu sein.Aus ihr wird eine unwahrscheinlich reiche, komplexe, und dynamische Sprache. Kursiv gesetzt wird von Steiner der nachfolgende Satz:”Und der Werdegang dieser Sprache ist der einer fortschreitenden Un-Übersetzbarkeit.” Und die Folge daraus. Wir alle verhalten uns aber nicht so, als wäre das wahr. Doch alle die – so Steiner – versuchen “sich das Universum durch einen Schleier nicht- mathematischer Sprache auszumalen, leben in einer Welt frohgemuter Fiktion. Die eigentlichen Tatsachen – die raumzeitliche Verbindung der Realität, die atomare Struktur aller Materie, die Wellennatur der Energie – wird vom Worte her nicht mehr zugänglich, und es ist daher durchaus kein Paradox, zu behaupten, daß in kardinalen Bezügen jetzt Realität außerhal(kursiv) der verbalen Sprache beginnt.” Steiner schrieb das 1958…

  15. Guten Tag Herr Honerkamp,

    wie schätzen sie die Debatte um den sogenannten Karlsruher Physikkurs ein? Da ist die DPG wohl etwas übers Ziel hinausgeschossen, darauf deutet jedenfalls die recht kontrovers/hitzig geführte Debatte. Könnten sie darüber einen Blogbeitrag schreiben? Die Kontroverse zeigt ja , dass in der Einschätzung wie man Physik “richtig” erklärt, noch deutliche Differenzen vorhanden sind (hätte ich so nicht erwartet). Man braucht nur einige E-Mails und Briefe lesen um zu sehen, das auch in der “trockenen Physik” emotionale Abstoßungskräfte wirken…

    http://www.physikdidaktik.uni-karlsruhe.de/kpk/Fragen_Kritik/DPG.html

  16. Guten Abend Herr Goldammer,
    ” Könnten sie darüber einen Blogbeitrag schreiben?” : So mit links geht das ja wohl nicht und ich bin zu sehr mit einem Buchprojekt beschäftigt. Da passt es gar nicht herein.

  17. @Fuhr: Interessanter Link und interessanter Mann (George Steiner). Mit “und es ist daher durchaus kein Paradox, zu behaupten, daß in kardinalen Bezügen jetzt Realität außerhal(kursiv) der verbalen Sprache beginnt.” schießt er wohl über das Ziel hinaus. Die Problematik war übrigens schon lange vor 1958 bekannt, George Steiner kann diese vermutlich besonders schön beschreiben.

  18. @ Dr. Webbaer:
    “Dr. W (der sich in dieser Kommentatorik hauptsächlich an den neuen Möglichkeiten abarbeitet, die eine großflächige Datenerfassung/Datenhaltung mit sich bringt, die ein neues Instrument darstellt und zu einer wissenschaftlichen, fortlaufend anzupassenden Theoretisierung einlädt, die sich wiederum der Falsifikation zuverlässig entziehen könnte – sozusagen auf der Zeitachse)”:
    Ich glaube nicht, dass man “vom grünen Tisch” zu den neuen Möglichkeiten etwas Substantielles sagen kann. Man müsste an einem konkreten Beispiel Probleme aufzeigen können, die es bisher bei empirischen Arbeiten nicht gibt.

    • Für die Wirtschaft, die seit Längerem mit großen Datenmengen arbeitet, die tabellarisch Daten halten und dementsprechend verweisen, man spricht hier von relationalen Datenhaltungen, und Sachen und Sachverhalte der Realität/Sachlichkeit nachbauen bzw. gar erst erschaffen, gilt das Problem als gelöst.

      Die Lösung lässt sich grob wie folgt zusammenfassen: Vorsicht vor dem Finanzmathematiker!

      Die Wissenschaften, die noch nicht so lange diesen Weg gehen, könnten hier in ähnliche Bedrängnis geraten, wie es in der Wirtschaft Tätige vor einiger Zeit (angefangen ist dort der Spaß vor mehr als drei Jahrzehnten mit den sogenannten indexsequentiell organisierten Datenhaltungen, den ISAMs – bevor die Meta-Sprache SQL kam; später kam das Online Analytical Processing, OLAP hinzu, in der Analyse das “Cubing”) geschah – und man sich dort nur dadurch sozusagen retten können, dass die Werkzeuge betont skeptisch genutzt worden sind und insbesondere auch das umgebende Personal.

      Das aber eher am Rande angemerkt,
      MFG
      Dr. W

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