Kathedralen für den Fußball – Stadien für den akustischen Rausch

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Denkmale

Immer wieder mal werden Stadien als „Kathedralen für den Fußball“ bezeichnet und gerade ist der Ausdruck wieder aufgetaucht in Bezug auf die unglaublich teuren Neubauten in Polen und der Ukraine. Was man wegen der allzu naheliegenden Assoziationen zu Fußballgott, Glauben an den Sieg und in Massen pilgernden Fußballfans zunächst für eine ein bisschen platte Fügung halten könnte, erweist sich bei näherer Betrachtung als verblüffend tragfähige Parallele – auch wenn die Bauform ihre Wurzeln im Arenabau der römischen Antike hat.

Warschau Nationalstadion

Lichtspiele wie zur Zeit der Gotik: Im Warschauer Stadion wird unter anderem das Halbfinale der EM 2012 stattfinden (Foto: Mateusz Włodarczyk via Wikimedia Commons).

Einer der führenden Architekten im modernen Stadionbau, Volkwin Marg, hat in mehreren Interviews von der Vergleichbarkeit von gotischen Kathedralen und Fussball-Stadien gesprochen, zum Beispiel in einem Interview mit der taz  und einem gemeinsam mit dem Architekten Hubert Nienhoff geführten Radio-Interview mit Stefan Osterhaus. Die beiden Architekten gehören zum Büro gmp, das schon 20 Stadien gebaut hat, darunter die Stadien in Warschau und Kiew für die EM 2012.

Symbolhafte Form und gemeinsames Stöhnen

Marg vergleicht Stadien mit gotischen Kathedralen in Bezug sowohl auf Funktion und Bedeutung als auch hinsichtlich ihrer Konstruktion. Das Prinzip der Entlastung der Wände, das bei der gotischen Kathedrale letztlich die Auflösung der gesamten Wandfläche ermöglicht hat, finde sich in den freitragenden Konstruktionen des Stadionbaus wieder.  Auch die architektonisch dichte Atmosphäre mit Enge und Steile habe ihre Entsprechung im Kathedralbau (hier könnte man anmerken, dass die Steile in der Kathedrale nach oben, also himmelwärts führt, während im Stadion der Eindruck vor allem entsteht, wenn man von den Rängen hinunter schaut).

Die steilen Wände und die Überdachung reflektierten den Schall wie der Schalldeckel über einer Kirchenkanzel, so Marg,  das ermögliche den synchronisierten Rausch der Akustik, der für die Fans so wichtig sei – beim gemeinsamen Protest wie beim gemeinsamen Stöhnen.

Auch das wird in den Interviews klar: Die symbolhafte Form der Stadien, die zur Identifikation mit der Stadt beiträgt, ist hier fast so wichtig wie in früheren Zeiten die hoch aufragende Kathedrale, die zum Erkennungszeichen der Stadt wurde und zum Beispiel auf Siegeln verwendet wurde.

Aber nicht nur in der Architektur finden sich Parallelen. Solche konstatiert zum Beispiel auch Linguistik-Professor Wolfgang Settekorn in Bezug auf das Verhalten der Fans:

Auch die Fußballfans von heute und die Jakobspilger von damals ähneln sich in verblüffender Weise. Man muss sich nur die Überwürfe, die Schals und die Hüte anschauen. Die Pilgerembleme werden heutzutage durch Markenzeichen ersetzt. Das alles ist kulturell gesehen also nichts Neues.

Strebt mit aufgelösten Wandflächen gen Himmel und ist noch immer ein Anziehungspunkt der Massen: Die Kathedrale in Prag (Foto: Eva Bambach)

Sogar quasiliturgische Prozessionen gibt es in den Fußballstadien beim Einlaufen der Spieler.  Wie heute feierten die Kathedralen den Wohlstand der Städte und ihrer Bürger ebenso wie die Macht und die auf Steuergeldern beruhende Finanzkraft ihres Bischofs. Und Sponsoring? So was in der Art gab‘s natürlich auch: Reiche Bürger wollten sich durch Schenkungen ihr Seelenheil sichern und der König zeigte sich in der Regel auch außerordentlich freigebig: So konnte er seinen Gefolgsleuten Stellungen mit guten Einkünften verschaffen.

Eine Dokumentation gegenwärtiger und vergangener Kathedralen des Fußballs findet sich hier.

Schon aus den 1960er Jahren, aber immer noch schön zu lesen: Georges Duby, Die Zeit der Kathedralen

 

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Ich bin Kunsthistorikerin und arbeite freiberuflich als Redakteurin/Lektorin/Autorin. Dieser Blog enthält Überlegungen und Informationen, die ich sonst nirgendwo unterbringe. Die aber rauswollen.

16 Kommentare

  1. Sollte die Gotik, also dieser Verlauf der Wände zum Dach hin, nicht auch betende Hände symbolisieren, die zum Himmel gerichtet sind? Das wäre dann der entscheidende Unterschied zu den Stadien. Der Kult ist ähnlich, aber in der gotische Kathedrale ist es an Gott gerichtet und im Fußballtempel feiert sich der Mensch selbst, wenn man so will.

    Wobei ich sagen muß, ich bin Christ und habe eine Dauerkarte auf Schalke. Schalke ist für mich aber kein religiöses Erlebnis. Wiewohl es das für so manche andere schon ist.

  2. Religion Fussball

    Vor vielen Jahren sah ich bei einem Spiel des HSVs ein Transparent der Hamburger Fans mit der Aufschrift “Zeugen Yeboahs”. Beim EM-Spiel England-Frankreich zeigten die englischen Fans eins mit “In Roy We Trust”

  3. Fussball Religion

    Eigentlich bin ich ja eher skeptisch, wenn Phänomenen allzu schnell das Label Religion oder Quasi-Religion aufgeklebt wird. Beim Fussball sind aber die rituellen, Gemeinschaft und Sinn stiftenden, baulich-ästhetischen usw. Aspekte schon sehr stark erkennbar.

    Hier ein Beitrag aus dem humanistischen Magazin “Diesseits”:
    http://www.diesseits.de/…l-humanistischen-kultur

    Auch die Gegenposition räumt dort religiöse Elemente ein:
    http://www.diesseits.de/…l-humanistischen-kultur

  4. @Martin Huhn

    Das mit den betenden Händen kannte ich noch gar nicht. Offenbar handelt es sich um eine nachträgliche Assoziation. Ihren Ursprung verdanken die gotischen Strebepfeiler der Sehnsucht nach dem Licht Gottes. Damit es in die Kirche eindringen konnte – noch dazu veredelt durch die bunten Glasmalereien – mussten die Mauern so weit wie möglich aufgelöst werden. Und weil der Gewölbeschub trotzdem abgefangen werden musste, leitete ein System von Strebepfeilern und -bögen den Schub auf die Fundamente ab. Die in den Himmel ragenden Aufsätze und Türmchen hatten die Funktion, durch ihr Gewicht die Statik der Strebepfeiler zu verbessern.
    Obwohl ich selbst nicht gläubig bin, sehe auch ich einen spirituellen Unterschied zwischen einem Fußballspiel und einem Gottesdienst.

  5. Fußball

    … und Religion spielen in der selben Liga, jedenfalls die Anhängerschaft betreffend, die anderen bekommen ja Geld.

    Dasselbe gilt auch bspw. für die Freunde der Oper oder das Regietheater.

    Vermutlich gibt es auch noch anderes, an Automarken und den Glauben an sie darf gedacht werden oder an die Rolex und den Louis Vuitton (für die Damen, die aber auch gerne Cheerleader sind), wenn auch ohne große Bauten, hier wird der Gegenstand selbst zum Denkmal oder Kultobjekt.

    Die Eheringe nicht zu vergessen oder das erworbene oder gebaute Haus, all in all sind Veranstaltungen dieser Art nur natürlich, der Glaube verschwindet nie, Postreligiöse glauben anders, aber eben gerne auch objektiv oder auf das Objekt oder Symbol bezogen.

    MFG
    Dr. Webbaer

  6. Die gotische Kathedrale @Martin Huhn

    “Sollte die Gotik, also dieser Verlauf der Wände zum Dach hin, nicht auch betende Hände symbolisieren, die zum Himmel gerichtet sind?”

    Nein, wahrscheinlich denken Sie dabei an eine Skulptur des Bildhauers Auguste Rodin. Dieser hatte für eine überlebensgroße Statue das Motiv der Hände gewählt, die sich einander so zuwenden, dass sie an einen gotische Spitzbogen erinnern. Sein Werk nannte er „Die Kathedrale”. Inspiriert wurde er dazu wohl von der gotischen Kathedrale in Chartres, die er immer wieder besuchte.
    http://www.evangelisches-sonntagsblatt.de/…1.jpg

    Gotische Kathedralen sollten, wie alle christlichen Kirchenbauten, die Himmelsstadt symbolisieren. Näheres dazu finden Sie hier: http://agl.homelinux.com/…;id=186&Itemid=218

  7. Fan-atismus

    Es gibt noch mehr Parallelen: z.B. das Schwingen von Fahnen und Standarten. Statt der goldenen Monstranz wird der goldene (vom Design her meist grässliche) Pokal abgeküsst, der einem Kirchenschatz alle Ehre machen würde. Von der Inbrunst beim Singen von Nationalhymnen und diverser Schlachtgesänge können allerdings Pfarrer heute nur noch träumen. Überhaupt ehe ich den Haupt-Unterschied zwischen der getragenen Stimmung in der Kirche und “dem synchronisierten Rausch der Akustik” im Stadion. Selbst eine Kirche im mittelalterlichen Spanien war kein Hexenkessel wie das Stadion in München.

  8. Fussball als Spiegel

    Danke für den Artikel und Danke an @Michael Blume für die Links. Das folgende Zitat gefällt mir (gerade auch im Zusammenhang mit dem Post oben) besonders:

    Man konnte so der Klasse entfliehen. Der Adel ritt und ruderte, das Bürgertum turnte, der Prolet drosch gegen den Ball.

    Ich glaube, es hat (leider) noch heute seine Berechtigung und drum sind auch die Kathedralen je nach Klasse andere…

    Und doch: Gerade in diesen wirtschaftlich schwachen Zeiten für Europa kann ich mich nicht davon abhalten, an eine römische Arena zu denken – und an Brot und Spiele…

  9. Sozialstruktur

    Ich habe den Eindruck, dass Fussballbegeisterung zumindest in Deutschland ein klassenübergreifendes Phänomen ist. Aber von der Fankurve zum Loungebereich bilden sich unterschiedliche Klassenzugehörigkeiten in den Stadien deutlich ab.

  10. @Eva Bambach: Sozialstruktur

    Ja, die Abbildung im Stadium erinnert etwas an die in Kirchen.

    Aber ich bin nicht sicher, dass die Begeisterung überall gleich ist. Die aktive Beteiligung scheint mir schon deutlich klassenabhängig zu sein, höhergestellte Gesellschaftsschichten beschäftigen sich noch heute eher mit Tennis, Golf, Reiten & Co. Und für die passive bin ich mir nicht sicher, dass sie nicht auch (ähnlich wie in Rom) von den höheren Schichten instrumentalisiert wird.

    Darüber hinaus aber gibt es in Deutschland wohl einen geschichtlichen Grund, warum Fußball wieder so geliebt wird – dort darf man Nation(al) sein.

  11. @ Mona

    wahrscheinlich denken Sie dabei an eine Skulptur des Bildhauers Auguste Rodin

    Ich war in Sydney in einer Kirche und da gab es eine Führung mit einer Schulklasse und dabei habe ich gelauscht, was der Führer, ein Geistlicher, zur Architektur gesagt hat.

  12. @ Franke

    Von der Inbrunst beim Singen von Nationalhymnen und diverser Schlachtgesänge können allerdings Pfarrer heute nur noch träumen.

    Kommt auf die Kirche/Gemeinde an. Es gibt auch gut besuchte Gottesdienste mit kräftigen Stimmen.

  13. Sozialstruktur

    Daß die Anhängerschaft der Fußballclubs überwiegend aus Proleten besteht, das galt in den 1980er Jahren. Das ist aber schon lange nicht mehr so. Die armen Leute können sich das meist gar nicht mehr leisten, weil die Karten so unheimlich teuer geworden sind. Da reicht auch ein Gang über die Parkplätze der Fußballstadien, was da so für Autos versammelt sind. Arme Leute Sport ist das schon lange nicht mehr und es wird immer schlimmer.

  14. @Martin Huhn

    Ja, der Fußball seine Anhängerschaft verbreitert. Aber, soziologisch gesehen, inwieweit ist das nicht (zumindest teils) nur Mittel zum Zweck? Zur Selbstdarstellung, zur Anerkennungsgewinnung, zur Beherrschung der Massen, etc.

    Denn: Wieviele dieser Gutsituierten sehen im Fußball ihre Verwirklichung, wieviele haben gespielt, wieviele spielen noch heute selbst? Wieviele “Chefs” gehen nicht nur dahin, um mit dem Event zu Protzen – denn die Mitarbeiter waren ja nur vor dem Fernseher beteiligt? Wieviele wären nicht eigentlich lieber im Golfclub, im Ruderverein oder auf dem Rücken der Pferde?

    Außerdem: Finanzielle Möglichkeiten lassen nicht unbedingt auf die Klasse schließen. Das ist auch heute nicht viel anders, als vor gut 100 Jahren. Wobei gerade in Deutschland das Auto nur sehr begrenzte Rückschlüsse auf die Finanzen zulässt, ist es doch der Deutschen liebstes Kind.

    Und Inbrunst ist immer auch ein auf die jeweilige Vergleichsgruppe bezogenes Phänomen – ich kenne wie Sie einige gut funktionierende Gemeinden, wo es um gemeinsames Erleben und gemeinsames Musizieren geht. Und wo daher weder die Selbstdarstellung noch das Amüsement über andere die Inbrunst erzeugen. Aber gerade darum scheint mir die Inbrunst in vielen Fußballstadien nicht ganz geheuer.

  15. @Huhn

    Daß die Anhängerschaft der Fußballclubs überwiegend aus Proleten besteht, das galt in den 1980er Jahren. Das ist aber schon lange nicht mehr so. Die armen Leute können sich das meist gar nicht mehr leisten, weil die Karten so unheimlich teuer geworden sind.

    Heute sind Fußball-Fans keine Proleten mehr, weil sie nicht mehr in persona in die Stadien gelangen können, weil dieses zu teuer?

    Eine bemerkenswerte Einsicht,
    MFG
    Dr. Webbaer (kein großer Fußball-Fan, aber solange zumindest Uli noch da ist, dem FC Bayern durchaus gewogen)

  16. Es gibt sicherlich naheliegende Analogien zwischen Religion und Sport. Kathedralen Stadien, Fangesänge Choräle usw.
    Dennoch scheint mir manches in diesem durchaus interessanten Text etwas zu weit hergeholt. Interessant zu lesen ist er aber allemal, danke dafür.

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