Zukunft und Zuversicht

BLOG: Das Sabbatical

Abenteuer Auszeit
Das Sabbatical

Es sind die letzten Tage meines Abenteuers Auszeit. Ganz bewusst verbringe ich sie nicht in Gemeinschaft und nicht in einer großen Stadt. Ich habe mir Besinnung verordnet in Punta Rubia, einem winzigen Ort voller zusammengewürfelter Sommerfrische-Häuschen in Uruguay. Hier, am sturmumtosten Atlantik gibt es außer Wind und Wellen kaum etwas. Das macht nichts. Ich will lesen und schreiben, über Vergangenes und Zukünftiges nachdenken, aber vor allem im Jetzt sein. Das gelingt mir mehr oder weniger gut – je nach Tagesform. Aber mich so anzunehmen, wie ich eben bin, ist eine der Aufgaben, die bleiben.

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Die Uruguayos sind gute Gefährten bei meinem Vorhaben. Sie wirken tiefenentspannt und das hängt nicht nur an den Hanfpflanzen, die fast jeder (legal) auf der Terrasse oder der Veranda zieht. “Wir sind ein kleines Land, eingeklemmt zwischen Argentinien und Brasilien”, erklärt mir Gonzalo, der hier ein paar der Ferienhäuschen betreut, “nicht mal die USA interessieren sich sonderlich für uns – und ehrlich gesagt, wir auch nicht sonderlich für den Rest der Welt”. Dem widerspricht zwar, dass viele wichtige, internationale Organisationen ausgerechnet in Montevideo ihre Stützpunkte haben und wichtige Denker aus dem kleinen südamerikanischen Land kommen, aber es erklärt doch auch die Gelassenheit der Menschen. Sie bauen an ihren Häuschen und kultivieren ihre Gärten, gehen ihrer Arbeit nach, pflegen Familien- und Freundesleben und sind nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen.

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Gleichwohl haben sie auf vieles auch einen interessanten Blick von außen und verstehen manches, was dem Europäer verstellt ist, weil er immer mitten drin steckt im Getümmel. Und so drückt mir Gonzalo das Buch seines Landsmanns Eduardo Galeano “Las venas abiertas de América Latina” (auf Deutsch: Die offenen Adern Lateinamerikas) in die Hand. Immer wieder hatte ich davon gehört, jetzt traue ich mich ran. Es ist harte Kost – nicht nur der Sprache wegen. Doch es ist eines der Werke, auf das das Kafka zugeschriebene Diktum passt: Ein Text muss sein, wie eine Axt für das gefrorene Meer in uns”. Der im Frühjahr verstorbene Schriftsteller schreibt journalistisch so packend über die Kolonialisierung des Kontinents, über Zucker, Baumwolle, Gold und die dazu gehörigen wirtschaftlichen Kreise, das man alles bildlich vor sich sieht. Er zeigt so verstörend auf, wie unsere europäische Entwicklung und unser Wohlstand mit der Verelendung und Unterentwicklung sowie der Umweltzerstörung zu tun haben, dass einem schier der Atem stockt. Selten hat ein Buch 45 Jahre nach seinem Entstehen noch Gültigkeit. Aber Galeano hatte den weiten Blick von außen, der noch heute hilft zu begreifen, wie solche Mechanismen funktionieren und dass so vieles von uns Menschen gemacht ist, dass wir aber – beispielsweise durch was und wie wir konsumieren – einen Einfluss darauf haben. Stoff zum Nachdenken also, am Strand von Punta Rubia.P1070880Ich habe es mir auch sonst nicht wirklich leicht gemacht. Neun Menschen, die meinem Herzen nahe stehen, habe ich drei Fragen geschickt. Sie sollten mir schreiben, was aus ihrer Sicht meine größte Stärke ist, in welcher Situation sie mich um Hilfe bitten würden und wo ich mich ihrer Ansicht nach selbst blockiere. Spannende Sache: selbst die, die von solchen Rundfragen gar nichts halten, schreiben mir Nachdenkenswertes. Andere offerieren einen Blick auf mich selbst, den ich bislang nicht hatte. Klar, bei den Stärken ist vieles dabei, was mich einfach nur freut, dass es so wahrgenommen wird – und dass mich so viele, in fast jeder Lebenslage um Hilfe oder Rat bitten würden, ist wundervoll – aber am aufschlussreichsten sind meine Selbstblockaden. “Deine Selbstzweifel, deine Ungeduld, deine Zukunftsängste und dass du dir selbst nichts zutraust, dir selbst die Wertschätzung und das Mitgefühl versagst, die du anderen so selbstverständlich gibst”, das schreiben mir Männer wie Frauen ins Stammbuch.

P1070819Das nehme ich mir zu Herzen und denke darüber nach. Ganz bewusst richte ich meinen Blick darauf, was ich denn mitnehme, aus diesem Sabbatjahr. Es werden eng beschriebene Seiten voller in Worte gefasster Edelsteine. Angefangen von einer gewissen Gelassenheit und Zuversicht, die ich zuvor nicht kannte, bis hin zum Vertrauen darauf, dass die Dinge nicht immer so kommen, wie ich sie mir wünsche, aber oft genau so, wie ich sie brauche. Dass ich gelernt habe, Geborgenheit und Fürsorge in mir selbst zu finden und nicht mehr von außen zu brauchen. Dass ich mit diesen unglaublichen Mädchen und Jungen in den Kinderheimen von Casa Verde leben konnte, ihre Zuneigung und ihre Zuversicht spüren; sie sind mir die großen Vorbilder darin, immer wieder “trotzdem” zu sagen. Dass ich einen 6000er-Berg bestiegen habe und das ganze Jahr über spüren durfte, wie viele Menschen mich lieben und an meiner Seite sind – egal, wo ich bin. Dass ich eine Sprache des Herzens lernen konnte und Menschen erleben durfte, die mit ganz wenig Sicherheit, aber sehr viel Wärme ihr Leben meistern. Dass ich an mir selbst spüren konnte, mit wie wenig ich auskomme und dass mir nichts fehlt dabei. Dass ich mutig bin und alleine reisen kann, dass es manchmal aber auch in Ordnung ist, den Mut zu verlieren und ihn wieder “tanken” zu müssen.

P1070840 (2)So wird es also eine Andere sein, die nächste Woche das Flugzeug gen Deutschland besteigt. Ich hoffe, dass ich wesentlicher geworden bin, mit weniger Selbstzweifeln und ganz viel Kraft für das, was kommt. Ich habe, den Eindruck, dass aus der Raupe doch noch ein Schmetterling geworden ist, der wirklich fliegen kann. Danke euch allen, dass ihr an meiner Seite wart, eure Mariposa.

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Ich bin von Natur aus neugierig, will Menschen und ihre Beweggründe verstehen und ich liebe gute Geschichten über alles: Das macht mich zur Journalistin. Ich möchte aber den Dingen auch auf den Grund gehen und verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält: Das erklärt meine Faszination für Wissenschaft und Forschung. Nach dem Studium der Germanistik und Politikwissenschaft habe ich als Zeitungsredakteurin für viele Jahre das Schreiben zum Beruf gemacht. Später kamen dann noch Ausbildungen zur zertifizierten Mediatorin und zum Coach hinzu, die mich in meiner Auffassung bestärkt haben, dass das Menschliche und das Allzumenschliche ihre Faszination für mich wohl ein Leben lang nicht verlieren werden. Das Organisieren habe ich als Büroleiterin einer Europaabgeordneten gelernt, bevor ich im Juli 2012 als Referentin des Chefredakteurs bei Spektrum der Wissenschaft begonnen habe. Von dieser Tätigkeit bin ich nun erst einmal ab 1. Januar 2015 für ein Sabbatical beurlaubt. Und ganz gespannt, was das „Abenteuer Auszeit“ für mich bereithalten wird.

4 Kommentare

  1. Liebe Kirsten, das waren intensive und spannende Monate für Dich!
    Und jetzt freuen wir uns sehr, dass Du bald wieder in Heidelberg bist! Bis nächste Woche, sei gedrückt! Bea und Joey und Fiffel

  2. Gaah, grgg, so schaut’s hoffentlich besser aus:
    Auf jeden Fall vielen Dank für Ihre Nachrichten, Sie schaffen es zu berichten, womöglich auch aus einen pol. Spektrum heraus, das nicht jeder gut finden muss, ohne direkt “negativ” zu werden.

    MFG
    Dr. W (der selbst natürlich schon ein wenig “trockener” ist, nicht in Kollektivismus und so macht, abär gerne Ihr ferner Beobachter blieb)

  3. Ach Kirsten,
    ich vermisse Dich so und hoffe, dass Du Dich bei mir meldest, wenn Du wieder in Heidelberg bist.
    Herzliche Grüße
    Anja F.

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