Lagerkoller im Paradies

BLOG: Das Sabbatical

Abenteuer Auszeit
Das Sabbatical

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Ja, es gibt ihn, den Sabbatical-Blues oder den Lagerkoller im Paradies. Es handelt sich dabei um einen ziemlich unangenehmen Zeitgenossen, der einen hinterrücks überfällt. Dabei setzt er den betroffenen Menschen nachhaltig außer Gefecht und wirft ihn in ein schwarzes Loch. Egal, ob die Umgebung mitten in der Wüste grünt, schöne Sonnenuntergänge parat hält oder Kulturschätze aufbietet – alles hilft nichts. Wen die Tristesse in Klauen hält, der fragt sich nur, was soll ich hier? Und dem geht bei dieser Frage kein Licht mehr auf.

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Was ist passiert? Ich bin eine Frau des Wortes, immer schon gewesen, doch jetzt bin ich immer häufiger sprachlos und das wirft mich aus der Bahn. Seit zwei Monaten lerne ich nun intensiver Spanisch. Auf drei Vergangenheitsformen und etliche hundert Vokabeln plus einem guten Batzen Grammatik habe ich es zwischenzeitlich gebracht. Ich kann damit einkaufen, den meisten Gesprächen folgen und weiß, wie ich aus den knallvollen Kombis (Sammelbusse) wieder aussteigen darf. In den Zeitungen verstehe ich die Überschriften und wenn Frank seine Kochkurse mit den Jugendlichen hält, verpasse ich nichts.

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Dazwischen plätschert das Leben traumhaft vor sich hin. Morgenlauf mit dem Hund und abendliche Spaziergänge Richtung Kulturprogramm (Arequipa bietet unglaublich viele Konzerte und Filmabende gratis). Dazwischen Arbeit für Casa Verde und per Internet für Deutschland, viel Korrespondenz und Skype-Gespräche mit Familie und Freunden, ein paradiesisches Dasein, oder?

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Doch das reicht nicht – und bei dieser Erkenntnis fühle ich mich schlecht. Samstagabend zum Beispiel: Geburtstagsfest von Frank, stundenlange lebhafte Diskussion der Gäste über Gott und die Welt, Männer und Frauen, deren Rollen und was es bedeutet, mit seinem Land nicht einverstanden zu sein. Ich habe das Gefühl, dass einer der Herren ziemlich brachialen Stuss von sich gibt, bin mir aber nicht sicher, ob ich wirklich alles richtig verstehe, geschweige denn, ob ich das, was ich dazu meine, rüber bringen könnte, und bleibe – stumm. Umso mehr Wein der Knabe konsumiert, umso steiler werden seine Thesen.

Kurz vor Mitternacht entfesselt sich dann ein richtiger Disput zwischen unserer Quechua-Gastgeberin und dem selbstgefälligen Gast, der den Aymara angehört. Und es wird klar, diese Gesellschaft spaltet mehr als nur die Hautfarbe und die Geschichte. Gerne würde ich irgendetwas tun. Vermitteln, eingreifen, schauen, was dahinter steckt, irgendetwas. Aber ich bleibe stumm. Ich spüre die tiefe Kluft mehr,  als dass ich sie verstehe und mein Bauch krampft sich zusammen. Meine sonst so hilfreiche Energie wendet sich zerstörerisch nach innen, lässt mich abstürzen und reißt dabei vieles auf: Was will ich hier? Das macht doch keinen Sinn! Nie werde ich diese Sprache so lernen, dass ich mich gut verständigen kann! Ich fühle mich völlig überfordert! Mir fehlt der Heidelberger Wald, meine Freunde und meine Tiere! Und verstehen wird das auch keiner!

Zumindest letzteres stimmt ganz und gar nicht. Mein “Sabbatical-Blues” wird verstanden und das wiederum lässt ihm die Luft ab. Ich, die ich mich immer als Potenzialguckerin bezeichne, schaffe es mit Hilfe eines langen Gesprächs während eines Spaziergangs entlang des Rio Chili bei mir den Blick wieder auf die Fortschritte zu lenken und nicht nur die Defizite zu sehen.

Ich nehme aber auch meine Bedürfnisse wieder stärker wahr. Ich bin kein Stadtkind. Die Luft hier ist Diesel geschwängert, die Leute sind laut, alles ist eng und staubig. Ich muss mehr raus, Erde unter den Füßen spüren, mich von meinen Beinen tragen lassen, mir dieses Land erwandern und erspüren. Und mich in Geduld üben – auch mit mir selbst. Und da könnten mir die Quechua mit ihrem manchmal stoisch-ergebenen Gemüt durchaus Vorbild sein. Die Jahrtausende in den Anden haben sie geprägt. Sie wissen, dass übers Knie brechen nichts bringt, das vieles sich entwickeln muss und alles immer im Fluss ist.

Und dann erwacht am Ende auch meine Neugierde wieder. Auf dem Rückweg von Casa Verde nach Yanahuara entdecken wir den alten Friedhof von Cayma, ein besinnlicher Ort der Ruhe und des Lebens.

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Und voller Rätsel noch dazu. Mehrstöckig wie Hochhäuser sind die Steingräber angeordnet, manche schon seit Jahrzehnten belegt. Wie hat da eine ganze Familie Platz? Was geschieht mit den Toten in dieser steinernen Luft? Und was bedeutet eine Feier mitten auf dem Friedhof, bei der nicht nur eine Band spielt, sondern auch das Bier in Strömen fließt?

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Ich bin von Natur aus neugierig, will Menschen und ihre Beweggründe verstehen und ich liebe gute Geschichten über alles: Das macht mich zur Journalistin. Ich möchte aber den Dingen auch auf den Grund gehen und verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält: Das erklärt meine Faszination für Wissenschaft und Forschung. Nach dem Studium der Germanistik und Politikwissenschaft habe ich als Zeitungsredakteurin für viele Jahre das Schreiben zum Beruf gemacht. Später kamen dann noch Ausbildungen zur zertifizierten Mediatorin und zum Coach hinzu, die mich in meiner Auffassung bestärkt haben, dass das Menschliche und das Allzumenschliche ihre Faszination für mich wohl ein Leben lang nicht verlieren werden. Das Organisieren habe ich als Büroleiterin einer Europaabgeordneten gelernt, bevor ich im Juli 2012 als Referentin des Chefredakteurs bei Spektrum der Wissenschaft begonnen habe. Von dieser Tätigkeit bin ich nun erst einmal ab 1. Januar 2015 für ein Sabbatical beurlaubt. Und ganz gespannt, was das „Abenteuer Auszeit“ für mich bereithalten wird.

9 Kommentare

  1. Oh ja, das kenn ich. Als ich nach meiner Zeit in Südamerika nochmal die Briefe gelesen habe, die ich damals nach Hause schrieb, wurde mir das auch im Nachhinein erst so richtig deutlich. Vielleicht ist das noch ein Teil des Ankommens – wenn die Realität diese Erwartungen an sich selbst, die man mitbringt, auf das richtige Niveau “stutzt”. Danach ist man richtig “da” – kann sich richtig einlassen und richtig genießen. Also: gehört dazu und geht vorbei 🙂

  2. In der Wochenendausgabe der RNZ wäre dieser Blog der Lese(r)-Favorit.
    Von Ihnen erlebt und “sicher” auch wieder bewältigt.
    Schreiben Sie – für sich und für uns – weiter – immer wieder.

    Was sagt Frank zu den Erfolgen von Christoph?

  3. Liebe Frau des Wortes,

    du machst genau das Rchtige, du schreibst, in einer Sprache die dir geläufig ist und lässt uns alle an deinem Leben in Peru teilhaben – nebenbei werden wir alle auch ständig schlauer. Hast du wirklich geglaubt, dass du nach 3 Monaten in einer dir vorher völlig fremden Sprache diskutieren kannst? Da kommt noch so ein unangenehmer Zeitgenosse zum Vorschein, nennt sich Perfektionismus, aber den kennen wir ja und müssen uns nicht weiter darüber auslassen. Du fehlst mir und dem Hond hier auch, und besonders, wenn wir ohne dich durch die dir aktuell so fehlende heimische Natur wandern. Lass uns alle weiter an deinen Erlebnissen teilhaben und dir und uns wirds dadurch besser gehen. Freu mich schon auf den nächsten Beitrag der ‘Frau des Wortes’.

  4. Liebe Kirsten,

    auch wenn das überhaupt nicht passt und vollkommen der falsche Ausdruck ist: Ich bin stolz auf Dich. Und beneide Dich um Deinen Mut und diese Erfahrungen. Mir fällt schon beim Urlaub in Allgäu manchmal auf, dass meine Landsleute dort in den Bergen anders ticken. Du bist in einem komplett anderen Kulturkreis. Wir sind alle Menschen, aber was verbindet uns wirklich? Was die Sprache angeht, hatte ich Dir ja erzählt, wie uns im Spanischkurs diese verschiedenen Zeiten aus den Schuhen gehauen haben. Die eine Vergangenheitsform für das Erzählen, die andere für etwas, das noch nicht abgeschlossen ist und und und. Wir dachten, dass das in der Praxis doch vollkommen egal ist. Wenn wir mit den Leuten reden, ist denen doch egal, ob wir die Gammatik korrekt beherrschen. Aber eine Kollegin meiner Frau ist mit einem Argentinier verheiratet und hat erst letzt beim Besuch der Familie die frustrierende Erfahrung gemacht, dass man sie nicht verstand – weil sie die falschen Vergangenheitsformen benutzt hat. Also noch mal: Du bist eine Heldin, und auch Helden haben den Blues. Das ist ihr Berufsrisiko.

    Schöne Ostern, KDL

    • Lieber KDL,

      bin ganz gerührt über Deinen Kommentar. Als Heldin fühle ich mich aber wirklich nicht. Allerdings ist es ein schönes Gefühl, dass Du stolz auf mich bist. Gerade setze ich mich hier mit voller Wucht der peruanischen Karwoche aus und bekomme so einen völlig anderen Blick auf den religiösen Kulturkreis, aus dem ich ja auch stamme. Und mit den Vergangenheitsformen kämpfe ich natürlich auch. Schöne Ostern an euch, Kirsten

  5. Liebe Frau des Wortes, ich melde mich erstmals mit selbigem und einem nachträglichen Geburtstagsgruß. Ich lese Dich nicht regelmäßig, aber immer mit großem Interesse und einem schweren Anflug von Fernweh, also auch ich habe dann den Blues..Liebe Grüße aus Heidelberg, endlich im Frühling.

  6. Blues ist ne tolle Musik: sie bringt dich mit deinen Gefühlen in Kontakt. Und die gute Nachricht über diesen Zeitgenossen, der dich hinterrücks anspringt ist: er kommt und geht auch wieder. Was ist zur Zeit angesagt? Polka? Immer der gleiche 3/4 Takt? Funk? Soul? Hiphop?

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