Die “Wegwerfkinder” in der Stadt des Friedens

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Abenteuer Auszeit
Das Sabbatical

Ob Padre José (Josef M. Neuenhofer) oder sein Werk „Arco Iris“ (Regenbogen) beeindruckender sind, muss ich glücklicherweise nicht entscheiden. Sicher ist aber, dass dieser Mensch und seine Stiftung aus dem sozialen Leben in La Paz nicht wegzudenken sind. Mehr noch: egal wo man in Bolivien jemanden fragt, die Menschen haben von dieser Initiative gehört. Seit mehr als 20 Jahren sind die Straßenkinder, die Ärmsten der Armen in La Paz und ihrer durch die Landflucht explodierenden Schwesterstadt El Alto, das Herzensanliegen des bald 78-Jährigen. Tausenden von ihnen hat er im wahrsten Sinne des Wortes das Leben gerettet und eine Perspektive gegeben.

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In mehr als zwei Jahrzehnten ist mit überwiegend deutschem Spendengeld ein Imperium entstanden. Das in seiner Vielfalt zu erhalten, erfordert derzeit jährlich mehr als eine Million Euro. „Ich habe ein Unternehmen, das nur kostet“, sagt Padre José. Es ist ihm anzumerken, wie sehr dieses Wissen auf seinen Schultern lastet. Weniger charismatische oder weniger gläubige Menschen würden mitunter verzweifeln oder manches Projekt rigoros streichen. Aber was?

Diese Frage könnte ich angesichts der Komplexität, aber auch des systemisch-stimmigen Aufbaus der Hilfe nicht beantworten. Und doch werden die Verantwortlichen in Deutschland und Bolivien um Padre José möglicherweise genau dies tun müssen.

Mädchen isst Spaghetti

Vor nicht allzu langer Zeit war die Last noch deutlich geringer. Doch unter Präsident Evo Morales sind in Bolivien die Sozialabgaben und Löhne stark gestiegen. Allein das mittlerweile vorgeschriebene 14. Monatsgehalt kostet die Stiftung knapp 100.000 Euro im Jahr. Das den großzügigen Spendern zu vermitteln, ist eine schwere Aufgabe. Ohnehin gelten Ausgaben für Personal bei vielen Spendern fast als anrüchig. Dabei sind es immer Menschen, die diese Jungen und Mädchen von der Straße holen, ihnen helfen, sich eine Existenz aufzubauen und sie dabei unterstützen, mit ihren Familien nicht zu verhungern.

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Arco Iris (www.arco-iris de und www.foerderverein-arco-iris.de) ist mindestens so bunt wie der den Namen gebende Regenbogen. Es gibt die „klassischen Kinderheime“ für Jungen und Mädchen im Alter von 5 bis 18 Jahren, aber beispielsweise auch die „Casa de Paso“, eine Art Tagesheim für Straßenkinder, die es noch nicht schaffen, fest an einem Ort zu bleiben. Sie werden mit Alphabetisierung, Nachhilfe, psychologischer und medizinischer Betreuung, Mahlzeiten, Sport, Computerkenntnissen und anderem auf ihrem „Marathon ins Lebens zurück“ begleitet. Viele von ihnen werden in den Brennpunktgebieten regelrecht eingesammelt, andere schaffen es alleine zu Arco Iris ins Zentrum.

Manche von ihnen übernachten auch in den Schlafsälen. Deren Kargheit ist anzuspüren, wie schwer es diesen Jugendlichen fällt, Regelmäßigkeit und Schönheit auszuhalten. „Das Trauma dieser Kinder ist, dass sie nie im Leben Liebe erlebt haben“, beschreibt Padre José seine Erfahrungen und schluckt schwer. Und trotzdem kämpfen er und ein engagiertes Team von Erziehern, Sozialarbeitern und Psychologen um jedes einzelne Mädchen, um jeden einzelnen Jungen. Oft muss auch Trauerarbeit geleistet werden. Der Tod ist ein ständiger Gefährte, wenn Drogensucht wie Klebstoffschnüffeln, Prostitution, Aids und andere Krankheiten so allgegenwärtig sind. Doch aufgeben gilt nicht und die Erfolgsgeschichten der Ehemaligen sind viel zahlreicher als die Misserfolge.

Zum Beispiel „la Casa Refugio“: Minderjährige Mütter (die Jüngste ist zehn Jahre alt) finden mit ihren Babys oder vor der Entbindung Aufnahme. Fast alle von ihnen wurden sexuell misshandelt und wussten weder ein noch aus. Jetzt können sie zur Ruhe kommen, ihre Schule beenden und eine Ausbildung machen. Genau so entsteht Hoffnung, wie beispielsweise für die 14-jährige Raquel, die mit elf Jahren schwanger wurde: „Wenn ich meine Schule beendet habe, möchte ich Anwältin werden, um Menschen wie mir zu helfen“.

Mehr und mehr hat sich die pure Notfallhilfe in den Bereich der Prävention begeben. Wer Familien in prekären Situationen hilft, beispielsweise mit Nahrungsmitteln und Beratung, verhindert vieles, genauso wie der, der Jugendliche mit Schulschwierigkeiten pädagogisch unterstützt und ihnen dann eine Ausbildung und Arbeit in der Bäckerei, Tischlerei, Strickerei, Schlosserei oder im Café bietet.

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Oder das Centro Educativo Infantil Kurmi Utasa (Ceiku). Hier werden 70 Kleinkinder tagsüber betreut, während ihre Mütter beispielsweise als Straßenhändlerinnen versuchen, den Lebensunterhalt zu verdienen. Die Einrichtung dürfte pädagogisch eine der besten in ganz Bolivien sein. Der Beitrag, den die Eltern leisten müssen, deckt natürlich nur einen Bruchteil der Kosten, ist aber wichtig für die Anerkennung der Arbeit. Die Jungen und Mädchen werden hier nicht nur bestens betreut und gefördert, sondern erhalten auch Essen und erlernen wichtige Grundfertigkeiten.

Das spiegelt sich dann wieder im Elternhaus. Wenn die Kleinen auf einmal mehr Gemüse oder Obst fordern und darauf drängen, dass Hygieneregeln eingehalten werden.

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Gut möglich, dass bei der Mama der kleinen María oder des kleinen Pedro am Nachmittag eine Freiwillige von Arco Iris am Stand vorbeikommt und sie zum Sparen auffordert. 300 Männer, Frauen und Jugendliche schließen sich dieser mobilen Sparkasse an, bei der sie ein Sparziel formulieren (beispielsweise ein neuer Kasten für einen Schuhputzer, ein Bett für die Kinder, ein Herd oder ein paar kleine Weihnachtsgeschenke). Dann vereinbaren sie mit den Freiwilligen, die jeden Tag bei ihnen auf der Straße vorbei schauen, wie viel sie zurücklegen können. Das wird dann gesammelt, akribisch in ein Heft notiert und auf ein Konto eingezahlt, bis das ersehnte Ziel erreicht ist. Für manche der Sparer sind die Besuche auch Seelennahrung. Beispielsweise für Juan den Schuhputzer. Wie viele seiner Kollegen auch arbeitet er mit einer Wollmütze über dem Kopf, die nur die Augenschlitze freilässt. Das ist bei ihm aber weder Schutz vor Hitze noch vor Kälte, sondern Schutz seiner Identität, denn im „wahren Leben“ ist er Jurastudent und er will nicht, dass jemand erfährt, wie er sein Studium finanziert.

Manchmal gibt es von Arco Iris auch so genannte Mikrokredite oder eine Starthilfe, um ein kleine Werkstatt zu eröffnen oder die erste eigene Wohnung zu beziehen. Relativ spät dazu gekommen sind das Krankenhaus und die Gesundheitszentren, in denen auch die Schützlinge der Stiftung behandelt werden.

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Begonnen hat alles mit Straßenkindern. Sich um die zu kümmern, so lautete der Auftrag des Bischofs von La Paz an den deutschen Pater. Der war zunächst widerspenstig. Hatte er sich doch nach langem Bitten endlich die Entsendung in das lateinamerikanische Land erkämpft, mit seiner ihm zugewiesenen Gemeinde eine Kirche gebaut und schien am berufenen Platz angekommen. „Doch schließlich habe ich als Priester Gehorsam gelobt“, sagt er mit einem verschmitzten Lächeln. So lebte er also mit den Kindern auf der Straße, begleitete sie zu ihren Grabnischen auf dem Friedhof, in denen sie schliefen und gewann nach und nach ihr Vertrauen. Vielleicht waren ihm diese Jugendlichen auch deshalb nah, weil er selbst als Kriegskind Hunger gelitten und Entbehrungen erlebt hatte. Aber anders als diese Jungen und Mädchen hatte er liebende Eltern. „Diesen Kindern jedoch fehlt jedes Selbstbewusstsein“, fährt er fort, „sie empfinden sich als Wegwerfkinder“. Auch deshalb ist ihm die psychologische Betreuung so unglaublich wichtig.

Was gibt Padre José Hoffnung, dass der Regenbogen auch nach seinem Tod am bolivianischen Himmel bestehen bleibt? Das sind unter anderem die 300 Freiwilligen, die seit Beginn von Arco Iris dem Projekt einen Teil ihrer Lebenszeit geschenkt haben. Sie bleiben in einem eigenen Verein (Fundacíon Arco Iris Voluntarios) dem Projekt verbunden und werden die Idee auch in Deutschland weitertragen. Und dann beginnt die Stiftung auch in den wohlhabenden Gesellschaftsschichten Boliviens immer mehr Wurzeln zu schlagen. Mit etwas Glück und gemeinsam mit den treuen Spendern aus Deutschland könnte so der Regenbogen auch in Zukunft am Himmel der Stadt des Friedens leuchten.

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Ich bin von Natur aus neugierig, will Menschen und ihre Beweggründe verstehen und ich liebe gute Geschichten über alles: Das macht mich zur Journalistin. Ich möchte aber den Dingen auch auf den Grund gehen und verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält: Das erklärt meine Faszination für Wissenschaft und Forschung. Nach dem Studium der Germanistik und Politikwissenschaft habe ich als Zeitungsredakteurin für viele Jahre das Schreiben zum Beruf gemacht. Später kamen dann noch Ausbildungen zur zertifizierten Mediatorin und zum Coach hinzu, die mich in meiner Auffassung bestärkt haben, dass das Menschliche und das Allzumenschliche ihre Faszination für mich wohl ein Leben lang nicht verlieren werden. Das Organisieren habe ich als Büroleiterin einer Europaabgeordneten gelernt, bevor ich im Juli 2012 als Referentin des Chefredakteurs bei Spektrum der Wissenschaft begonnen habe. Von dieser Tätigkeit bin ich nun erst einmal ab 1. Januar 2015 für ein Sabbatical beurlaubt. Und ganz gespannt, was das „Abenteuer Auszeit“ für mich bereithalten wird.

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