Das Medium [er]trägt die Botschaft

BLOG: Con Text

Wörter brauchen Gesellschaft.
Con Text

Kleinstkind vertieft in erstes BilderbuchGlauben Sie auch, dass Technologie, besonders digitale Technologie, unser Untergang ist? Dieser Geist spukt immer noch immer wieder durch die Feuilletons und selbst intelligente Menschen fallen auf diesen kulturpessimistischen Langweiler rein. Das Internet macht uns dumm [nope], Computer verändern unsere Gehirne [Huh?!], Smartphones sind irgendwie und überhaupt, elektronische Bücher sind des Teufels, kinderschändende Abscheulichkeiten, Untergang des Abendlandes/der Kultur/der Intelligenz.

Basis aller mehr oder weniger überspitzt daherkommenden ‘Technologie ist doof’-Beiträge ist

Nostalgie.

Sie wissen schon: Früher war alles besser. Dieses ‘früher’ ist dabei immer die eigene Kindheit und Jugend, jene fröhlichen Tage, die jede von uns als Instant-Paradies bereit hält. Egal wie sehr Schriftsteller sich bemühen, zu zeigen, dass unsere Erinnerungen doch nicht mehr sind als Verklärungen. Aber was für uns gut war, muss für andere gut sein. Ja, es muss besser sein als alles, was der Fortschritt mitbrachte.

Bücher zum Beispiel. Die haben wir geliebt. Sie rochen so toll1, sie greifen sich so schön, wir tauchen in sie ein 2, sie offenbaren. Man kann rein schreiben!3. Wir verehren sie.

Ich meine das ganz wörtlich: Wir erheben das Medium Buch zum goldenen Kalb. Inklusive Verbrennung.

Dabei sind Bücher nur eine Möglichkeit, Ideen zu kommunizieren. Ein 1-zu-viele-Medium4 – einer schreibt es, lässt es veröffentlichen, viele lesen es.

So ganz richtig ist die Beschreibung nicht, sie ist sogar in einem wesentlichen Punkt falsch. Das Buch ist eine verlegerische Angelegenheit. Autoren schreiben Texte. Im Grunde sollte ihnen völlig egal sein, wie die Texte an möglichst viele Leser verteilt werden.5 zur Zeit ist ‘Buch’ noch eine bequeme Kurzformel für ‘der Öffentlichkeit seriös zugänglich gemachter Text’. Er trägt aufgrund langer Geschichte mehr Gewicht als z.B. ‘Blog’.

Runenstein im Schleswig-Holsteinischen LandesmuseumBevor es Bücher gab, schrieben Menschen auf ganz unterschiedlichen Medien: Holzstäben, Tontafeln, Naturstein, gegerbten Tierhäuten, mit Schnüren. Irgendwann wurde Papier erfunden. Das war lange vor dem Druck mit beweglichen Lettern, der eine schnelle und billige Produktion von Pamphleten und Büchern ermöglichte.6 Denn natürlich denken wir bei ‘Buch’ an diese Art Bücher. Seltener an die sauteuer und in langer Handarbeit entstandenen, die vor Beginn des 16. Jahrhunderts von Mönchen [im christlich geprägten Mittelalter] zusammengeklöppelt wurden. Vor allem Bibeln für Reiche und Abschriften antiker Schriften für Kloster- oder Vatikanbibliothek.

Die Gutenberg’sche Technologie brachte Bibeln in jeden Haushalt. Aber es machte die Bibel nicht geistig wertvoller, sie war immer noch, was bisher per Hand geschrieben worden war, zusammengebunden zwischen Leder- und Holzdeckel. Oder auf Rollen. Die Form hatte sich verändert, nicht aber der Inhalt. Sicher, soeben hatte Martin Luther sie in die Sprache des Volkes übersetzt, aber das war Zufall und hat nichts mit der neuen Form – gedrucktes Buch – zu tun.

Es ist keine Neuigkeit, dass nicht wenige dieses neue ‘Buch’ ablehnten. So wie Plato jede Art schriftlicher Aufzeichnung ablehnte. So wie alte Hethiter Papyrus ablehnten und Tontafeln bevorzugten. So wie sich deutsche und britische Kolumnisten fragten, was denn diese viel zu schnelle, neue Errungenschaft ‘Bahn’ bringen solle – zu Fuss ist den Menschen nicht schnell genug, wo wollen die hin, was soll das, das ist doch auch gefährlich, man holt sich beim Hinterherschauen Nackensteife!

Gedruckte Bücher sind bloss eine Möglichkeit, Ideen zu verbreiten. Einer Idee ist das Medium egal, Hauptsache sie wird gut verpackt – in eine Geschichte mit Figuren, die uns anregt. Das wusste auch Ray Bradbury, der in Fahrenheit 451 klar macht, dass auch Ideen komplexer Natur sich ein neues Medium suchen, wenn ein anderes vernichtet wird.7 Dort lernen Menschen Bücher einfach auswendig, wie es Plato gefallen hätte. Oder meiner Grundschullehrerin.

eReader wie der Kindle oder Tablets mit einer Software zum Lesen elektronischer Bücher sind ein Medium. Sie bieten gegenüber gedruckten Büchern ein paar Zusatzfunktionen, die man gut finden und nutzen kann oder auch nicht. Wer lieber ein Buch aus der Hand legt, um in ein Wörterbuch im anderen Zimmer zu schauen, wer lieber in die Bibliothek fährt, um sich Hintergrundwissen für eine bestimmte Passage zu holen, soll das gerne machen. Ich finde es praktischer, das im Buch, beim Lesen zu machen. Es geht schnell und reisst einen nicht raus.

Für Kinder, besonders im Schulalter, sind eReader und eBooks fantastisch! Sie haben Wörterbücher eingebaut, sie können schnell Passagen finden, sie können zwischendurch schnell was in der Wikipedia [o.ä.] nachschlagen. Sie lernen Wörter. Sie lernen aktiv lesen. In Zukunft wird es noch einfacher sein, in verschlungenen Romanen den Überblick zu behalten, weil immer mehr Bücher entsprechende Indexfunktionen haben.8

KindleSelbst umfangreiche Werke mit vielen, vielen Seiten und noch mehr Dramatis Personae wie Tolstois Vojna i mir [Krieg und Frieden] verlieren ihren Schrecken – schon weil sie nicht mehr schwer im Arm lasten. Gedruckte Bücher bringen schnell gut Gewicht zusammen, das beim Flug in den Urlaub als Übergepäck bezahlt werden muss.

Nachteile des neuen Mediums? Die Batterie, vor allem bei selbstleuchtenden eReadern. Layout- und Typografie-Fanatiker werden auch nicht unbedingt Freundschaft schliessen, aber die sollten auch mit gedruckter Massenware grosse Schwierigkeiten haben. Kulturell sehe ich keine dunkle Seite.

Menschen sind zum Glück flexibler und robuster, als Kulturpessimisten wahrhaben wollen. Sie gebrauchen neue Technologien, wenn sie ihnen Nutzen bringt. Sie kommen damit klar. Sie werden nicht schlechter, sie lösen sich nicht auf, sie werden nicht dümmer.

Nein, the medium isn’t the message. Es ist nur Ideenträger.

Notes:
1. Nicht wirklich, aber Sie wissen schon: Nostalgie.
2. Metaphorisch selbstverständlich, machten wir es wirklich, könnten wir nicht mehr lesen.
3. Macht man natürlich nicht, denn das sind doch wertvolle Stücke, die man nicht besudelt!
4. Ja, es gibt Autorengruppen, die ein Werk verfassen, gerade in der Wissenschaft. Es gibt auch Sammlungen von Kurzprosa oder Gedichten diverser Autoren. Das Prinzip bleibt bestehen.
5. Falls Ihnen dieser Gedanke bekannt vorkommt, ich habe den bereits hier benutzt.
6. Bevor ich darauf hingewiesen werde: Ja, noch vor Herrn Gensfleisch und Mr Caxton erfanden Chinesen den Druck. Aus verschiedenen Gründen war er aber kein weltweiter Erfolg.
7. Der Grundgedanke ist nicht unähnlich dem des Meme, das Richard Dawkins in den 1970ern erfand.
8. Bei neueren Kindles heisst diese Funktion X-Ray.

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?

10 Kommentare

  1. OK, gegen den Geruch vor allem alter Bücher kommt eh nichts an. Was mich aber etwas vorsichtig werden lässt, ist die Abhängigkeit von der Technik beim Lesen. Werden wir unsere Dateien auch noch in 20, 30 oder 50 Jahren lesen können? Oder in 100? Meine ältesten Bücher sind deutlich älter als 100. Berauben wir also nicht nur uns, sondern vor allem kommende Generationen der Literatur, wenn wir _nur noch_ elektronisch lesen? Und was passiert dann mit Werken, die heute (oder irgendwann) nur noch elektronisch publiziert werden?
    Zugegeben, ich bin, was dieses angeht, ein extreme late adopter. Die Anzahl meiner elektronischen Bücher ist sehr überschaubar. Dafür habe ich meine Gründe (bin unter anderem ein sehr haptischer Mensch, und ich liebe den Geruch und die Haptik von Papier). Außerdem gebe ich gerne meine gelesenen Bücher weiter. Und als quasi Bookcrosser standen einige Aspekte der digitalen rechte für mich noch unter einem Fragezeichen.

    • @ Herr Ries :
      Ergänzend diese Datentabelle:
      -> http://de.wikipedia.org/wiki/Langzeitarchivierung#Haltbarkeit_der_Tr.C3.A4germedien

      Die Informationstechnologie mit einhergehender Persistierung (das Fachwort) von Daten ist natürlich recht neu und nicht darauf angelegt besonders stabile Formen der Datenhaltung zu entwickeln.
      Es besteht hier kein wirtschaftliches Interesse, sollte dieses bestehen, ein kulturpessimistischer Markt wäre hier vielleicht zu bearbeiten (oder sehr langzeitig angelegte Missionen ins sogenannte Weltall), sollte dieser zahlungskräftig werden, ließe sich hier anzunehmenderweise einiges machen, was auch die besten oben verwiesenen Datenträger sozusagen in den Schatten stellt.

      MFG
      Dr. W

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  3. Die von mir gekauften elektronischen Bücher sind in der Cloud wohl besser gesichert, als wenn ich sie im Bücherregal hätte, denn ich weiss, dass sie dort abrufbar sind, ganz anders als bei physischen Büchern, die ausgeliehen sein können – bei wem schon wieder? -, die man verlegt oder nur einfach unterm Bett vergessen hat. Eines der Geräte, auf dem ich sie lese, hab ich verloren und inzwischen wieder ersetzt – die Bücher sind aber immer noch da.
    Besonders praktisch an elektronischen Büchern finde ich aber folgende Punkte:
    – es gibt sehr viel gute, jederzeit herunterladbare Gratisliteratur, weil die Lizenzrechte abgelaufen sind. Vor 15 Jahren hab ich Kafkas Schloss auch schon heruntergeladen und dann auf dem eigenen Drucker ausgedruckt. Heute ist das nicht mehr nötig
    – die meisten kostenpflichtigen Bücher erhält man nun in kostenlosen Auszügen zum hineinschmökern. Davon mache ich regen Gebrauch. Nur etwa 1/4 der so angelesenen Büchern, kaufe ich später auch. Siri Husvedts intelligenten neuen Roman beispielsweise hab ich nur angelesen und wusste dann, dass ich ihn nicht kaufe, Houllebecs “Unterwerfung” dagegen habe ich mich sofort unterworfen, obwohl das Buch eigentlich gar keine Literatur ist, sondern “nur” ein Gedankenspiel.
    Nun was mich stört an elektronischen Büchern:
    – es gibt keine fixen Seiten mehr, keine Seitenzahlen, denen ich eine bestimmte Texstelle zuordnen kann, vielmehr wird der Text ständig umgebrochen, wenn man vom Hoch- ins Querformat wechselt oder die Schriftgrösse ändert.
    – Annotierungen können zwar durchsucht werden, aber anders als in physischen Büchern gibt es keine optischen Marken, an denen man erkennt wo die Markierungen relativ zur Dicke des Buches liegen.
    – Copy-Paste ist deaktiviert, verständlich aber auch umständlich, wenn ich eine Textstelle anderswo zitieren will.

    • Nun was mich stört an elektronischen Büchern: (…)

      Hier könnte inhaberseitig nachgebessert werden, hier ließe sich jeweils etwas machen.
      ‘Houllebecs “Unterwerfung”‘ ist insofern keine Literatur, als dass sie große Literatur oder Weltliteratur ist, korrekt.

      MFG
      Dr. W

  4. es gibt keine fixen Seiten mehr, keine Seitenzahlen, denen ich eine bestimmte Texstelle zuordnen kann, vielmehr wird der Text ständig umgebrochen, wenn man vom Hoch- ins Querformat wechselt oder die Schriftgrösse ändert.

    Sprechen Sie vom Kindle? Beim Tolino und beim Kobo ist das nicht so. Da bleibt die Original-Seitenzahl erhalten – was dann bedeutet, dass man bei großer Schrift 3 Seiten lang die gleiche Seitenzahl hat.

    • IPad und IPhone. Übrigens kopiere ich nun Textstellen mittels Screenshot und dann OCR.

    • Die fehlenden fixen Seitenzahlen sind ein bekanntes IBooks-Problem, das auch auf der Apple-Support-Seite aufgelistet wird, wo man folgende Bemerkung dazu findet:

      This is a limiting factor of using ibooks for research, school purposes, referencing, technical books. Currently page numbers scale depending on font size, iBooks does not use original paperback page numbers. I have just bought a book from the apple store and it is a technical book where I need to jump to cetain pages. I am also a university student and our lecturer gives us pages 100 – 150 to read however I am not able to follow the readings because this function is not built into ibooks. I have contacted Apple support and they have confirmed this function is currently missing, is there any ETA on when this function maybe integrated. This is a very important if ibooks is to be used to read books for any type of research or school purposes, and pretty much a deal breaker for me as I need to re-purchase a paperback version now. I know Kindle supports this function and has been doing so since 2011.

  5. Was für ein großartiger Text dem ich in so vielen Punkten einfach nur zustimmen kann. In der Tat sind nicht die Träger (oder wie hier geschrieben das Medium) das wichtige, nein, es geht um die Information. Und diese Debatte kann man auf viele andere Bereiche ausdehnen:

    Kürzlich hatte ich erst wieder eine Debatte mit jemanden, der mir erklärte, was für ein großes Gefühl es für ihn ist, eine Schallplatte zu hören. Das Herausholen aus der Hülle, das Auflegen und Reinigen der Platte, die Nadel, die aufsetzt, das knistern – all das kann ich, obwohl ich ebenfalls einige Schätze in Vinyl besitze, nicht so recht nachvollziehen. Die Musik ist das wichtige für mich und solange die Qualität stimmt, ist es mir egal ob von Platte, CD oder mp3.

    Eine vergleichbare Diskussion gibt es auch bei Bildern: muss eine private Person wirklich ein Gemälde im Original zu Hause hängen haben? Eine Mona Lisa oder andere Bilder sehen doch nicht schlechter aus, wenn ich sie als Nachdruck zu Hause hängen habe. Mit der heutigen Technologie kann doch sogar ein Screen stündlich einen anderen großen Meister darstellen.

    Nochmal: ein toller Text dessen Botschaft sich auf soviel mehr als nur Bücher beziehen lässt. Vielen Dank dafür.