Richard Dawkins zu Religion und Demographie

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

In den letzten Wochen sind eine Vielzahl von Artikeln zur Evolution von Religiosität und Religionen und auch zu Religion-Demografie in der englischen Welt erschienen. Den Anfang machte ein Artikel von Jesse Bering auf Scientific American, gefolgt von einem Artikel in den Sunday Times ("Atheists a dying breed"), einer ganzen Gott-Instinkt-Debatte auf Guardian CIF u.v.m. Immer wieder wurde dabei auch auf meine Forschungen verwiesen.

Gespannt war ich natürlich, ob und wie der meinerseits durchaus für seine Metaphern und Zuspitzungen geschätzte Richard Dawkins und seine Anhängerschaft reagieren würden. Immerhin hatte Susan Blackmore angesichts der empirischen Befunde ja bereits die Größe besessen, ihre Position zu korrigieren. Auch Richard Dawkins konnte den Religion-Demografie-Zusammenhang schlechterdings nicht mehr leugnen und kommentierte ihn mit erkennbarem Widerwillen (Original & Übersetzung).

This whole argument rests on the unspoken assumption that children automatically take on the beliefs of their parents. Let us hope […] that this link can be broken.

Richard

Dieses ganze Argument basiert auf der unausgesprochenen Annahme, dass Kinder automatisch die Glaubenshaltungen ihrer Eltern übernehmen. Lasst uns hoffen, dass diese Verbindung gebrochen werden kann.

Richard

Wie breitet sich Religiosität eigentlich aus?

Leserinnen und Leser von "Natur des Glaubens" wissen natürlich, dass das Quatsch ist. Die evolutionäre Ausgangsfrage ist doch gerade, warum sich Religiosität und Religionen trotz Phasen massiver Säkularisierung immer wieder erholt bzw. neu formiert haben – und warum es keine menschliche Gesellschaft gab oder gibt, in der Religiosität völlig ausgestorben wäre.

Genau in dieser Woche erschien nun eine populationsgenetische Studie von Robert Rowthorn "Religion, fertility and genes: a dual inheritance model", der sich genau dieser Frage widmete – und mit realitistischen Modellannahmen auch zu einem erstaunlich realistischen Bild kam. Eine deutsche Zusammenfassung finden Sie unter dem Titel "Genetik: Vererbte Religion" auf spektrumdirekt. Rowthorn konnte zeigen, dass sich religiöse Veranlagungen gerade dann ausbreiten, wenn in jeder Generation einige Kinder säkularisieren – und ihre Gene also in die nichtreligiösen Populationen "einströmen".  Auch Rowthorn’s Befunde werden in den englischen Medien bereits lebendig diskutiert.

Das Toben vieler Religionskritiker – und die doch lebendigere Debatte

Selbstverständlich toben nun auch im englischsprachigen Raum die Debatten – und auch dort erweisen sich nun viele Religionskritiker als nur sehr begrenzt "wissenschaftlich", sobald die Befunde nicht ihren Erwartungen entsprechen. Und doch fällt mir positiv auf, dass sich die Debatten viel leidenschaftlicher um die Themen drehen, statt dass – wie ich es immer wieder in Deutschland erlebt habe – fehlende Argumente durch persönliche Attacken kompensiert wurden. Und auf einer psychologischen Ebene finde ich es ja auch völlig verständlich, dass sich Menschen damit schwer tun, ihre Vorurteile zu hinterfragen.

Die Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen gedeiht also munter weiter und breitet sich auch gegen zähe Widerstände aus. Lasst uns hoffen, dass auch diese Forschungsrichtung noch viele Fortschritte macht. Und, hey, wenn in der Wissenschaft nur immer das heraus käme, was sich der Mainstream vorher gewünscht hat, wäre es doch langweilig, oder!? 🙂

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

77 Kommentare

  1. Haha,…

    die Kommentare sind echt lustig. Das erinnert mich doch sehr an die Startseite von Web.de, unter den Artikeln lassen sich auch so wunderschöne Vorurteile lesen. Und diese vernichtenden Einschüchterungsversuche immer. *lach
    Es lässt sich richtig herrlich die Adaption des Menschens beobachten. Argument, Argument, Argument, Adaption —-> Meinung 🙂 aber das ist nun mal die Evolution. Und die Falszifizierung hier auch sehr amüsant:

    He’s part of a “Christian-Muslim” family and his ambition seems to be to find a God gene.

    My woo sensors are on full alert…

  2. @Tim

    Ja, und Kollege Jesse Bering ist bekennend atheistisch und bekennend homosexuell. Was es den üblichen Verschwörungstheoretikern mit der Zeit richtig schwierig macht… 😉

    Hier wird aber auch er seitenweise beschimpft:
    http://www.guardian.co.uk/…instinct-jesse-bering

    Was soll’s. Bislang haben eben vor allem religiöse Kreationisten gegen die Evolution getobt, nun machen es halt auch ein paar Antitheisten. Mir scheint, auch sie können den Erkenntnisfortschritt aber nicht wirklich aufhalten… 😉

  3. @Michael Blume schrecklich

    Wir in Deutschland sind da doch um einiges weiter vielleicht auch, weil wir nicht so viele Fundamentalisten haben. Eine totale Ablehnung gegen die Philosophie oder Religionen, ist denke ich nicht richtig. Es ist genau das Argument das Frau Prof Kather im Juni 2008 vortrug: Die Naturwissenschaft zeigt wie etwas funktioniert, am Beispiel eines Armes das nach einem Glas greifen soll und es stattdessen umstösst. Die Wissenschaft erklärt welche neuronalen Vorgänge dafür nötig sind. Sie kann aber nicht erklären ob der Träger dieses Armes es absichtlich umgestossen hat oder einen Fehler getan hat. Weil dafür eine subjektive Interpretation notwendig ist. 🙂 *grins

  4. @Tim

    Da bin ich mir nicht so sicher. Mir scheint es, dass die entsprechenden Debatten in Deutschland sehr viel verdruckster sind. In den englischsprachigen Debatten sehe ich schon eine Lust am Austausch von Argumenten und dort nimmt man es einander auch weniger übel, unterschiedlicher Meinung zu sein. In den deutschsprachigen Debatten habe ich das verkniffener erlebt und oft liefen “Diskussionen” auf das “Argument” hinaus, dies oder jenes dürfe man doch einfach gar nicht denken…

  5. Frage

    Sehr interessant!
    Aber eine Frage hab ich noch:
    Sie schrieben: “Die evolutionäre Ausgangsfrage ist doch gerade, warum sich Religiosität und Religionen trotz Phasen massiver Säkularisierung immer wieder erholt bzw. neu formiert haben […]”.
    Ich dachte bisher immer die Säkularisierungsphase seit der Aufklärung ist etwas ziemlich Neues und fand vorher nie so statt. Hat es tatsächlich schon in Mittelalter oder Antike Säkularisierungsphasen gegeben, die danach aber wieder abgeflaut sind? Oder denke ich zu großschrittig und es ist z.B. Religiosität in Russland nach dem Fall der Sowjetunion gemeint (wobei sich die erneute Verbreitung von Religiosität ja noch in Grenzen hält, soweit ich weiß)?

  6. Interessant!

    Ich finde die Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen sehr überzeugend und es leuchtet ein, dass Evolutionsbiologen wie Richard Dawkins dazu nichts sagen können — sie sind eben zu sehr in der sogenannten „wissenschaftlichen” Biologie verankert.

    Könnte man mit der biologischen Religionswissenschaft auch erklären, warum Religiösität mit erhöhter Kindersterblichkeit und erhöhten Raten von Geschlechtskrankheiten einhergeht? Könnte es „Gottesgene” geben, die zu riskanterem Sexualverhalten und verringertem Vertrauen in die Geburtsmedizin führen?

    Auf jeden Fall eine sehr lebendige Debatte, vielen Dank dafür!

  7. An einem “Religionsgen” zweifle ich; vielmehr sehe ich Religion als eine rein kulturelle Erscheinung, also durch Erziehung und Umfeld vermittelt, durch Überlegung und Überzeugung angenommen.
    Auch wenn es nicht bis zum Letzten erklärbare plötzliche “Gotteserlebnisse” gibt, die Menschen zur Religiosität bringen, ist das m.E. eher auf eine besondere Sensibilität als auf genetische Disposition zurückzuführen.

  8. @Sebastian Voß

    Es gab Säkularisierungsphasen immer wieder, schon in der Antike gab es z.B. Aufs und Ab von religiösen Aktivitäten, wurden z.B. Tempel aufgebaut und wieder verlassen, freuten sich Priester über Zustrom oder beklagten leere Ränge. Der Monotheismus breitete sich in einer solchen säkularen & demografischen Krise im römischen Reich aus:
    http://www.chronologs.de/…te-und-siegte-der-eine

    Und auch seitdem gab es immer wieder Auf- und Abschwünge, die sich z.B. an Gottesdienstbesuchs- oder Pilgerzahlen ablesen lassen. Häufig lässt sich das Ende von Säkularisierungsphasen durch neue Reformströmungen sehen, die veränderte Bedürfnisse aufnehmen.

  9. @Mumel

    Danke für Ihr Interesse! Sie fragten: Könnte man mit der biologischen Religionswissenschaft auch erklären, warum Religiösität mit erhöhter Kindersterblichkeit und erhöhten Raten von Geschlechtskrankheiten einhergeht? Könnte es „Gottesgene” geben, die zu riskanterem Sexualverhalten und verringertem Vertrauen in die Geburtsmedizin führen?

    Theoretisch wäre eine solche Koppelung natürlich denkbar. Aber die Belege sprechen sehr viel stärker dafür, dass Religiosität als Coping-Strategie stärker dort nachgefragt wird, wo es Menschen schlecht geht – wo Armut, Verzweiflung, fehlende Solidarität etc. drohen, dort fallen religiöse Botschaften und Gemeinschaften auf fruchtbaren Boden, “wird das religiöse Potential stärker aktiviert”. Wo es den Menschen dann längere Zeit besser geht, setzten dagegen unweigerlich Säkularisierungsprozesse ein, steigt der Anteil der Menschen, die eher liberalisieren oder ganz aussteigen – viele “sehen es nicht mehr ein”, haben nicht mehr das Gefühl “dass es etwas bringt” und natürlich auch mehr intellektuelle Alternativen.

    Diese Wechselwirkungen zwischen Religiosität und Wohlstand hatten übrigens bereits Adam Smith und John Wesley (einer der Gründer des Methodismus) gesehen, ohne ein Patentrezept dazu benennen zu können. Aber aus evolutionärer Sicht muss das alles ja nicht schlecht sein, so entsteht auch kulturell immer wieder Neues. 😉

  10. @Claudia: Religionsgen

    Nun, ich kenne auch keinen Wissenschaftler und keine Wissenschaftlerin, die ernsthaft von der Existenz eines einzigen “Religionsgens” ausgehen würden. (Auch Dean Hamer hält diesen Ansatz in seinem “Gottesgen” ausdrücklich nicht durch, sondern räumt ein, dass es Dutzende, wenn nicht Hunderte verschiedener geben dürfte.)

    Mit Religion verhält es sich damit wie mit Musik, Intelligenz, Kreativität oder Sprachfähigkeit: Sie alle sind polygen veranlagt und Zwillingsstudien belegen eine von den Eltern vererbte, unterschiedliche Veranlagung. (In Sachen Musikalität habe ich z.B. ziemlich Pech gehabt… 😉 ) Zu Zwillingsstudien im Bereich Religion hier:
    http://www.chronologs.de/…-der-verhaltensgenetik

    Wäre ein so komplexes Merkmal wie Religion (oder Musik, oder Sprache etc.) ohne jede genetisch-biologische Basis, so wäre das eine Sensation und ein echter Rückschlag für die Evolutionstheorie an sich. Es gibt jedoch keinerlei ernsthafte Belege dazu, dass (nur) Religion plötzlich “vom Himmel gefallen” ist, sie wurde und ist Teil unserer evolvierten Natur.
    http://www.wissenschaft-online.de/artikel/982875

  11. Ich bezweifle sehr stark, dass es ein oder mehrere “Religions-Gene” gibt, schliesslich bekommen Kinder die Rituale und Geschichten von den Eltern beigebracht/erzählt oder von Bekannten, die der selben Glaubensrichtung angehören. Man könnte ja ganz einfach einen Versuch durchführen: Man nehme Neugeborene von religiösen Eltern, die angeblich das Religions-Allel besitzen und ziehe diese Kinder ohne jeglichen religiösen Einfluss auf. Nach 20 Jahren schaut man dann, ob diese Menschen ähnliche Verhaltens- und Glaubensmuster aufweisen, wie Kinder die bei ihren religiösen Eltern geblieben sind. Um die Ergebnisse meiner Meinung nach schon einmal vorweg zu nehmen, dies würde sicherlich nicht passieren, da Religion eben (wie hier schon mehrfach erwähnt) in kultureller Form auftritt, so entsteht und auch so weitergegeben wird.

    Ich gebe Robert Rowthorn sowieso den Tipp, mal ein ordentliches Genetik-Seminar zu besuchen, am besten mehrere Wochen lang! Denn das was er von Genen, Haploidie, Diploidie und Vererbungsgängen in seinem Paper offenbart, ist einfach nur noch grauenhaft!

    Ein Kind bekommt immer nur EIN Gen vom Vater und EIN Gen von der Mutter, da der haploide Chromosomensatz vom Vater und der haploide Chromosomensatz von der Mutter schliesslich zum diploiden Chromosomsatz in der befruchteten Eizelle verschmelzen. Das Kind ist also IMMER diploid! Zudem muss man jawohl auch mit einbeziehen, dass ein Allel, also die Ausprägungsform eines Gens, rezessiv oder dominant sein kann und die Ausprägung schliesslich davon abhängt, wie die Allelkonstitution INSGESAMT ist. Im Paper gibt es also mehr Mäkel als es aussagekräftige Ergebnisse vorzeigen kann!

    Wenn Rowthorn sagt

    Society is divided into two distinct allegiance groups

    dann meint er damit auch gleich zwei Gene, da er nicht von einem rezessiven und einem dominanten Allel spricht, was etwas völlig anderes wäre. Allein aber unter dem Punkt (b) sagt er

    In all of the models we consider, religious
    predisposition (‘religiosity’ for short) is determined by a single gene.

    Wie soll das also zusmamenpassen? Ganz großes Kino, wie sich ein Ökonom auf einer genetischen Bühne präsentieren möchte!

  12. @Sebastian R.

    Rowthorn schreibt ausdrücklich, dass er für das Modell ein Gen verwendet, aber die realistischere Polygen-Variante das Ergebnis doch nicht ändern würde.

    Selbstverständlich hat auch Religion eine biologische Grundlage – das wusste schon Darwin. Und zu Ihrem Gedankenexperiment gab es bereits Zwillingsstudien mit klarem Befund. Kein Mensch wurde da noch zweifeln, wenn es z.B. um Musik ginge. Aber bei Religion wird munter ausgerückt, das darf nicht sein…

  13. @ Blume

    Wenn Sie die Sprachfähigkeit, Religion, Musikalität auf der genetischen Grundlage betrachten, so verstehe ich diesen Satz nicht:

    Ihr Zitat: “(In Sachen Musikalität habe ich z.B. ziemlich Pech gehabt… ;-)”

    Antisthenes:

    “Einem, der ihn verhöhnte, weil nicht seine beiden Elternteile frei geboren waren, sagte er: ‘Beide waren auch keine Ringkämpfer, dennoch bin ich einer.'”

  14. @Dietmar Hilsebein

    nun, ich bin meinen Eltern schon sehr dankbar, aber war halt immer musikalisch unmusikalisch. Das ist für mich auch immer eine schöne Erinnerung daran, dass uns kein letztes Urteil über den Wert einzelner Merkmale oder Menschen zusteht. Die Mischung macht’s! 🙂

    Nun aber ernsthaft: Würden Sie bestreiten, dass auch Sprache und Musik genetische Grundlagen haben?

  15. @ Blume

    “Nun aber ernsthaft: Würden Sie bestreiten, dass auch Sprache und Musik genetische Grundlagen haben?”

    Wenn ich dies beantwortete, so würde ich meine Kompetenz überschreiten. Ich kann aber sagen, daß es keine unmusikalischen Menschen gibt. Es gibt nur ungeduldige Lehrer/Erzieher.

  16. @Dietmar Hilsebein

    *schmunzelt*

    Okay, natürlich ist ja auch Musikalität polygen und völlig unmusikalisch ist wohl kaum ein Mensch. Nur halt mehr oder weniger. Wie halt bei Sprache, Intelligenz, Sport – oder eben auch Religion. Es ist gar kein komplexes Verhaltensmerkmal des Menschen ohne biologisch-genetische Grundlage denkbar.

  17. Kein Mensch wurde da noch zweifeln, wenn es z.B. um Musik ginge. Aber bei Religion wird munter ausgerückt, das darf nicht sein…

    Genau, das darf nicht sein, trotzdem ist es so. Ich frage mich sowieso, wieso man sagt, man könne Religion durch Naturwissenschaften nicht erklären. Dies ist jedoch in der hier erwähnten Studie von Rowthorn der Fall: man benutzt naturwissenschaftliche Mittel, um die Religion zu erklären. Ein wahres Parodoxon!

    Rowthorn schreibt ausdrücklich, dass er für das Modell ein Gen verwendet, aber die realistischere Polygen-Variante das Ergebnis doch nicht ändern würde.

    Ein Gen, zwei Gene oder noch mehr Gene. Der Mann kann sich auch nicht entscheiden! Mir ist verständlich, dass er sein vereinfachtes Modell auf nur ein Gen begrenzt. Dies sagt er zwar, benutzt dann aber trotzdem zwei Gene für seine Berechnungen und sagt danach, es mache eh keinen Unterscheid. Das ist mir schon ZU sehr vereinfacht und abstrakt. Durchaus spielt es schon eine große Rolle, ob nur ein Gen oder mehrere am Werk sind, schliesslich können sie sich in ihren Wirkungen beeinflussen und dies auf verschiedenste Weise.

    Nun aber genug der Kritik, es wird langsam schon etwas unübersichtlich. Ich möchte hier nur die verdammt großen Ungereimtheiten offenlegen, die für mich ersichtlich sind und so zum Schluss kommen, dass die Studie…nun ja…nicht standhalten kann.

    Die Hypothese, dass säkularisierte Religions-Gen-Träger daher die Religion verbreiten, ist dann doch eher unglaubwürdig.

  18. @Sebastian R.

    Ach so, daher weht also der Wind. Klar, wenn Sie davon ausgehen, dass sich menschliches Verhalten ohnehin nicht umfassend durch die Evolutionsforschung erkunden lässt, werden weder Zwillings- noch Gehirnstudien, weder archäologische Befunde noch aktuelle Religionsdemografie, weder evolutionäre Vergleiche noch (z.B. psychologische) Experimente und auch keine Studien überzeugen.

    Denn niemand stützt sich hier allein auf Professor Robert Rowthorn – seine explorative Studie ist ja nur ein weiterer Baustein in einem bereits beeindruckenden Korpus von Belegen.

    Und, nein, er geht ausdrücklich nicht von einem oder zwei Genen aus, sondern erstellt Modellrechnungen, in denen sich die Gensequenzen auch beliebig portionieren lassen. Gerade das erlaubt ja auch die realistische Annahme von polygener Vielfalt: So wie @Dietmar Hilsebein zu Recht darauf hinweist, dass es kaum völlig unmusikalische Veranlagungen gibt (und also auch meine Kinder durchaus Chancen haben, sie versuchen sich derzeit auch an Instrumenten und ich habe ihnen mein Scheitern noch nicht gestanden 😉 ), so gab und gibt es auch mehr oder weniger “religiös musikalische” Menschen. Zumal im Bereich der Religion (aber auch z.B. der Musik) das Phänomen tatsächlich gut bekannt ist, dass sich gerade auch “Hochbegabte” von etablierten Traditionen abwenden, weil sie sich darin nicht ausreichend wiederfinden. Viele sehr religiöser bzw. musikalischer Menschen befinden sich lebenslang auf der Suche.

    Und Rowthorn kann sich also keineswegs nicht zwischen einem oder zwei Genen entscheiden (…), sondern er erprobt sogar nicht nur haploide, sondern auch dipolide Vererbungswege, um z.B. Aussagen über denkbare Einflüsse von gemischten Beziehungen machen zu können.

    Darf ich daran erinnern, dass seine Studie in einem der renommiertesten Fachmagazine des Vereinigten Königreichs peer-reviewed wurde?

    Mir ist nicht ganz klar, worin Ihre Befürchtungen vor der naturwissenschaftlichen Erforschung (auch) von Religion wurzeln. Fürchten Sie, dass sich daraus verbindliche Aussagen über die Existenz Gottes ableiten lassen? Das halte ich nicht für möglich. In der Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen arbeiten Atheisten, Agnostiker und Glaubende auf der Basis des methodologischen Agnostizismus zusammen. Schon Darwin sah die Perspektive und erkannte, dass aus der Evolution keine absoluten Existenzaussagen gemacht werden können:
    http://www.scilogs.eu/…eligiosity-and-religion-s

    Vielleicht interessiert Sie ja auch, wie fruchtbar längst auch Geistes- und Kulturwissenschaftler einschließlich Theologen mit dem “Prinzip Evolution” arbeiten?
    http://www.chronologs.de/…-guido-vergauwen-hrsg.

    Das Forschungsfeld ist sehr spannend und ich sehe wirklich keinen Grund, davor Angst zu haben. Geben Sie sich einen Ruck, haben Sie Mut zur Neugier! 🙂

  19. @Sebastian R.

    Die Naturwissenschaften haben ihre eigenen Grenzen. Wenn wir Herr Blume trauen können, dann beobachten wir die Geschichte, Adaption, Nützlichkeit und den Weg den die Religionen gehen. Welche Motivation die Religiösität wohl hat ist wohl eher subjektiver Natur.
    (Beispiel: Studenten bei einer Messwertauswertung, Studenten schreiben das auf was sie gelernt haben. Hier sieht man das in roher Form)

    Weil die Falszifierung immer aus Kompromissen besteht, die wir Meinung nennen. Und das ist doch Evolution: Kompromisse der Adaption die wir eingehen, um weiter zu kommen und um ein besseres Produkt zu erzeugen.

    Dass es kein Religions-gen gibt, ist glaub ich schon längst Konsens, ich frage mich nur warum sich so etwas wünscht und oder braucht.

  20. @Tim

    Danke, wobei ich schon anmerken würde, dass es ja gar nicht darauf ankäme, (nur) mir persönlich oder Prof. Robert Rowthorn wissenschaftlich zu glauben. Wie erwähnt stammt die Grundannahme ja bereits von Charles Darwin und heute sind wir Dutzende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen, Hintergründe und Weltanschauungen, die zu einem immer dichteren Konsens in der Evolutionsforschung von Religiosität und Religionen finden.

    Von Prof. Jesse Bering (Psychologie, Primatologie) über Prof. David Sloan Wilson (Evolutionsbiologie) bis zu Prof. Ara Norenzayan (Sozialpsychologie), Dr. Dean Hamer (Molekulargenetik), Prof. Andrew Newberg (Neurologie), Prof. Patrick McNamara (Medizin, Neuroverhaltensforschung), Prof.en Laura Koenigs und Thomas Bouchard Jr. (Zwillingsforschung) – die Liste ließe sich noch endlos fortsetzen.

    Vor allem aber gibt es längst keine wissenschaftlich vergleichbare Alternativhypothese mehr: Es gibt keine haltbaren Annahmen, Daten oder Studien dazu, dass Religion außerhalb der Evolution entstanden, vom Himmel gefallen oder “nur ein kulturelles Produkt” (was soll das sein? Selbst Lesen und Schreiben baut auf vererbten, biologischen Grundlagen auf.) sein sollte.

    Mich überrascht es dabei doch immer wieder, wie schwer sich viele nach eigenem Selbstverständnis “wissenschaftliche” Menschen mit der Akzeptanz oder wenigstens offenen Prüfung von Befunden tun, die ihnen emotional oder weltanschaulich schwer fallen…

  21. Biologische Grundlagen der Religion

    Ich möchte zu der letzten Auseinandersetzung nur ergänzend bemerken: Von einer ganz anderen Seite her ergänzt das Buch des Altphilologen Walter Burkert, “Kulte des Altertums, biologische Grundlagen der Religion” die Sache. Bestimmte menschlichen Verhaltensweisen, die eben in Religionen besonders deutlich zutage treten haben Wurzeln bis weit zurück in das Verhalten vergleichbarer Tiere. Hauptsächlich Riten. Aber auch Umgang mit Hierarchien, Opfer-Gaben, Umgang mit “Schuld”. Das Buch ist für heutige Verhältnisse schon sehr alt (1996/98). Ich weiß das auch nicht mehr im Einzelnen, müsste es wieder mal drauf ansehen.

  22. @Hermann: Ja, absolut!

    Und vielen Dank auch für diesen erinnernden Hinweis. Auch für Klassiker der (Religions-)Soziologie wie Emile Durkheim war es noch selbstverständlich, dass (auch) Religion unter evolutionären Gesichtspunkten betrachtet werden könne.

    Es ist noch nicht ganz klar, was den Ausschlag für den jahrzehntelangen “Forschungsabriss” gegeben hat. Waren die Polemiken zwischen religiösen Kreationisten und religionskritischen “Darwinisten” zu stark geworden, so dass jede(r) zwischen die Fronten geriet? War die Natur-Kultur-Trennung (auch nach dem Missbrauch a la Sozialdarwinismus & Blut-&-Boden-Rhetorik) zu einem heiklen Dogma geworden? Oder fehlte einfach noch das methodische (auch z.B. neurologische) Handwerkszeug, mit dem wir heute das Thema auch seriös erschließen können? Am wahrscheinlichsten dürfte eine Mischung dieser Faktoren sein, auch jetzt ist es ja noch nicht ganz leicht…

  23. Und Rowthorn kann sich also keineswegs nicht zwischen einem oder zwei Genen entscheiden (…), sondern er erprobt sogar nicht nur haploide, sondern auch dipolide Vererbungswege, um z.B. Aussagen über denkbare Einflüsse von gemischten Beziehungen machen zu können.

    Damit habe ich ja mein Problem, den es gibt keine haploiden oder diploiden Vererbungswege! Wie gesagt, ich möchte als Naturwissenschaftler nur die Mäkel der Studie hervorheben. Da ist es mir auch egal, dass es in einem rennomierten Fachmagazin peer-reviewed wurde, trotzdem kann das Paper falsche Annahmen oder Methoden aufweisen, die eben darauf basieren, dass die genetischen Kenntnisse fehlen. Man muss sich da nur an das Paper über das Arsen-Bakterium zurückerinnern, dass im Science-Journal veröffentlich wurde. Ebenfalls sehr renommiert, trotzdem wurde das Paper aus wissenschaftlicher Sicht zerrissen.

    Die Spermien eines Mannes besitzen immer nur einen haploiden Chromosomensatz, also 23 Chromosomen, ebenso betrifft das die Eizelle der Frau. Wenn ein Gen also, ob es jetzt von der Mutter oder vom Vater weitervererbt wird, wird es immer auf haploidem Weg vererbt. Es liegt eben nur einmal vor! Erst wenn Eizelle und Spermie verschmelzen, setzen sich beide haploiden Chromosomenstäze zusammen und die befruchtete Eizelle besitzt 46 Chromosomen und ist somit diploid. Was ist also ein diploider Vererbungsweg? Es gibt keinen! Diese Begriffe werden hier falsch angewendet und schwächen somit die Hypothese ungemein.

    Fürchten Sie, dass sich daraus verbindliche Aussagen über die Existenz Gottes ableiten lassen?

    Ganz und garnicht. Ich finde es aus persönlicher Sicht nur nicht zutreffend, dass es ein oder mehrere “Religions-Gene” geben soll, die eben dafür sorgen, dass Religion sich ausbreitet. Meiner Ansicht nach ist es ganz klar, dass Religion über Kultur weitergegeben wird, dass Kinder eben die Religion von ihren Eltern “lernen”. Das Argument zur Musikalität und das es sich auf die Religion übertragen lassen kann, finde ich zwar logisch, aber nicht richtig. Musik ist nämlich etwas völlig anderes als Religion.

    Ich habe die verlinkten Texte in ihrem letzten Kommentar noch nicht durchgelesen, werde dies aber noch tun und vielleicht ändert sich meine Meinung ja dadurch. Als Naturwissenschaftler sollte man sowieso diese Haltung haben und wenn wirklich aussagekräftige Ergebnisse auf den Tisch kommen, bin ich der letzte der etwas gegen ein “Religion-Gen” einzuwenden hat.

    Wenn man aber mit so einer Absicht an die Erforschung der Religionsausbreitung rangeht, wäre eine sehr aussagekräftige Studie die Genomsequienzierung von religiösen und nicht-religiösen Menschen und deren Vergleich. So könnte man am schnellsten ein “Religions-Gen” finden.

    Das Forschungsfeld ist sehr spannend und ich sehe wirklich keinen Grund, davor Angst zu haben. Geben Sie sich einen Ruck, haben Sie Mut zur Neugier! 🙂

    Hätte ich Angst, hätte ich ihren Artikel garnicht gelesen. Also keine Sorge, ich lese mir hier schon interessiert alles durch 😉

    @Tim:

    Dass es kein Religions-gen gibt, ist glaub ich schon längst Konsens, ich frage mich nur warum sich so etwas wünscht und oder braucht.

    Das frage ich mich auch. Vielleicht soll es letztendlich doch die Zusammenführung der Naturwissenschaft und der Religion/Theologie ebnen, die vorher ja immer als nicht möglich gehalten wird/wurde. Mit einem “Religions-Gen” könnte man schliesslich die Religion aus naturwissenschaftler Sicht rechtfertigen und es würde sich nicht mehr um einen reinen Glauben handeln. Naja, das Thema ist komplex, aber ich stimme durchaus damit überein, dass Religion nicht einfach so vom Himmel gefallen ist, sondern ebenfalls evolviert ist. Dies beweist aber noch lange nicht, dass dieser Evolution auch Gene zu Grunde liegen.

  24. Religionsgene sind überflüssig

    Religionsgene sind nicht zwingend notwendig, um eine Grundlage von Religiosität erklären zu können.
    Erfahrungen von Geist-/Lichtwesen werden, als ein Erklärungsansatz für das Entstehen von Religiosität, immer wieder erwähnt – und deren Entstehung kann nachvollziehbar erklärt werden: http://www.spektrumverlag.de/artikel/1058259.
    D.h aus der Art und Weise wie unser Gehirn/Gedächtnis arbeitet, läßt sich die Entstehung von Religiosität teilweise ableiten – als das Ergebnis von Erinnerungsvorgängen.

  25. @Sebastian R.

    Nun, inzwischen hatte ich auch Kontakt mit Prof. Rowthorn – und erfuhr von ihm, dass die Idee mit der diploiden Vererbung von einem der (naturwissenschaftlichen) Peer-Reviewer kam, der anregte, er solle doch auch dipolide bzw. “marriage”-Modelle durchrechnen.

    Ob Forschungen zur Natur von Religion auch philosophische und theologische Auswirkungen haben werden? Ich mag das eigentlich im Bezug auf alle Forschungen hoffen – halte es aber für völlig unmöglich, diese vorab abschätzen zu wollen. Charles Darwin – der ja bereits eine natürliche Grundlage auch von Religiosität annahm – wird man eine Pro-kirchliche “Verschwörtung” kaum andichten können und auch die allermeisten meiner Kolleginnen und Kollegen sind nichtreligiös, viele, wie z.B. Jesse Bering, auch erklärt atheistisch. Vgl. einen aktuellen Beitrag von ihm aus diesen Tagen hier:
    http://www.guardian.co.uk/…instinct-jesse-bering

    Warum darf Wissenschaft nicht einfach ergebnisoffen sein und forschen?

    Sie schrieben selbst – was ich sehr gut fand: Das Argument zur Musikalität und das es sich auf die Religion übertragen lassen kann, finde ich zwar logisch, aber nicht richtig. Musik ist nämlich etwas völlig anderes als Religion.

    Wie kann etwas logisch, aber nicht richtig sein? Darwin nahm die Evolution beider Merkmale an – warum sollte er darin falsch liegen? Warum soll “Musik etwas völlig anderes als Religion” sein? Weil der eine das eine und die andere das andere toll findet?

    Wenn ich etwas in den vergangenen Jahren der interdisziplinären Arbeit und Promotion im Bereich Religion – Naturwissenschaft gelernt habe, dann ist es das, sich von niemandem mehr das Denken und Forschen verbieten zu lassen. Solange es keine ernsthafte Alternative zu der – durch immer mehr Studien und Daten gestützten – Annahme gibt, dass (auch) Religion im Evolutionsprozess des Menschen entstanden ist, halte ich Darwin’s Position dazu für gestärkt und richtig.

  26. Biokulturelle Evolution

    Nur als kleine Zwischenbemerkung:
    Vielleicht hilft auch eine genaue Unterscheidung von Religiosität und Religion dabei in dieser Diskussion weiterzukommen. So kann man Religiosität ganz bestimmt genetische Grundlagen unterstellen. Religionen hingegen (damit meine ich vor allem die Glaubensinhalte – ich hab mir beibringen lassen, dass die Konzentration auf Glaubensinhalte ein Spezifikum des Christentums ist, das sich auch auf die abendländische Gesellschaft ausgewirkt hat) sind wohl eher kulturell evolviert – auf den biologischen Grundlagen von Religiosität, Sprachvermögen, Gehirnstrukturen usw..
    Je nach dem, ob die kulturell evolvierten Religionen den persönlichen Präferenzen entsprechen, kann dies dazu führen, dass die vererbte Religiosität stärker ausgeprägt wird oder eher ins Hintertreffen gerät – ganz so, als ob ein durchschnittlich musikalischer Mensch in seinem Leben dazu kommt über längere Zeit ein Instrument zu spielen oder es einfach lässt, weil er andere Dinge zu tun hat.
    Es ist also immer ein Wechselspiel von biologischer und kultureller Evolution… nur als kleine Erinnerung 😉

  27. Betreff: Musikalität und Religösität

    Ich finde den Vergleich sehr schön! Beide Arten sind ein gefühlvolles Erleben eines Momentes. So stelle ich mir auch den Geist als Gefühl vor, weil ich mich fühle bin ich, Ich. Das zeigt das Beispiel der Depersonalisation, in einem Moment der Angst spart sich der Körper einfach das Ich. Er behält nur noch das nötigste, es bleiben nur noch die Realitätsprüfung und die Orientierung.

    Vielleicht (jetzt mal etwas gewagtes und noch nicht bewiesen)
    ist Religiösität auch für die Entstehung des Geistes verantwortlich gewesen, durch Entstehung des Subjektes durch die Erkenntnis einer Aufgabe im Leben zu haben. Erkannt durch die Intelligenz und konvergent als religiöses Gefühl. Viele naturalistische Wissenschaftler sehen ja keinen Zweck in Ihren Sein und ich denke nicht ,dass diese Einstellung die Reproduktion fördert.

  28. kleine Fortsetzung nach kurzem Grübeln…

    Wenn ich weiter über die These nachdenke, dass die Menschheit sich den Geist erarbeitet hat. Somit können wir Ihn als Luxusprodukt sehen? Das Subjekt ist das Gefühl und wird vom Gehirn produziert, also wie entstand es? Durch Kommunikation! Sprache ist fortgeschrittene Adaption, weil wir den anderen als lebend und ansprechbar sehen, haben wir ein Gefühl für uns, weil wir es auf uns reproduzieren als eine Person. Nur weil wir wissen was wir sind, sind wir ein Subjekt. Und die Motivation, der Glaube an Gott gehört dazu um uns als ganzes sehen zu können. Die Idee von Gott ist grossartig meiner Meinung nach und in meinen Augen als einzig gültige für dieses System.

  29. @Tim

    Sehr interessante Spekulationen! Ich hänge einer ähnlichen Spekulation an, die man natürlich irgendwie verifizieren müsste und bisher im Prinzip durch nichts gestützt wird:
    Nämlich, warum sollte nicht das, was wir “Geist” nennen, eine weitere Dimension unserer Welt sein? Wenn man darüber nachdenkt, sind Augen so etwas wie die Nutzbarmachung von elektromagnetischer Strahlung, die in der Natur vorkommt oder man könnte auch sagen, ein Abbild der physikalischen Natur dieser Strahlung (Linsengesetz, Absorption von Energiequanten usw.). Augen sind gewissermaßen ein Beleg für die Existenz elektromagnetischer Strahlung.
    Ebenso ist der Flügel eines Vogels ein Beleg für die Existenz eines Stoffes, den wir Luft nennen, mit bestimmten physikalischen Eigenschaften, an die der Flügel angepasst ist und die somit von ihm quasi abgebildet werden. Flügel sind ein Beleg für die Existenz von Luft.
    Beine sind in jedem Fall ein Beleg für festen Boden und wenn man sie sich genauer anguckt, kann man auch auf Gras-, Dschungel- oder Bergwelten schließen.
    Alle diese Organe/Körpereigenschaften machen sich eine Eigenschaft der Welt um uns herum nutzbar und sind ein Beleg für ihre Existenz.
    Könnte unser (Groß-)Hirn also auch ein Beleg für die Existenz einer weiteren Dimension sein, die durch die Struktur des Gehirns für das einzelne Lebewesen zugänglich wurde? Eine Dimension, die wir zwar im Alltag jederzeit erfahren, aber die wir bisher wissenschaftlich noch nicht erfassen konnten und vielleicht auch nie können werden?
    Wenn man dann Religiosität als intuitives Wissen um diese Zusammenhänge, eng verbunden mit der Entstehung des (Selbst-)Bewusstseins, interpretiert, dann bekommt das alles noch eine ganz andere Bedeutung…
    Wie gesagt, es sind nur Spekulationen, aber dafür sehr interessante, wie ich finde 😉

  30. @Sebastian Voß

    Auch diese Art der Dokumentation hat Dawkins in seinem “Gotteswahn” kritisiert. Man kann nicht mit Unwissenheit argumentiern oder auch Spinoza mit seinem berühmten Zitat: “Ignorantia non est argumentum”. Man verliert an Boden wenn man herausfindet, dass es einen anderen Grund für dieses Verhalten hat, dieses Argumentation beruht auf einer entschiedenen Wahrheit. Doch Wissenschaft ist von keiner Wahrheit ausgehend. Evolution ist vielleicht das einzige Mittel durch erkennen eines Weges, etwas objektiv zu argumentieren.

  31. @Tim

    Daher habe ich ja ausdrücklich von Spekulationen gesprochen 😉
    Es lässt sich zwar mit Argumenten aus der Evolutionstheorie dafür argumentieren, aber die Argumente sind natürlich kein Beweis. Womöglich sind sie nur der Versuch einer falschen Analogie. Aber solange wir es nicht besser wissen, bleiben diese Spekulationen durchaus interessant, finde ich 🙂
    Und außerdem möglicherweise auch ein Ansatzpunkt für weitere Forschung; schließlich geht man ja in den meisten Fällen von irgendwelchen Erwartungen aus, die man zu bestätigen sucht. Allerdings muss man für solche Vermutungen erst mal Experimente finden, mit denen sie sich überprüfen lassen. Das scheint mir momentan noch sehr schwierig zu sein…

  32. @Sebastian Voß

    Ich lese aus dem letzten Text eine Distanzierung von der Evolutiontheorie heraus. Ich hoffe wir können uns einig sein, dass es zur Zeit das beste Fenster ist, die Welt naturwissenschaftlich zu betrachten? Die Flügel des Vogels haben sich entwickelt, weil der Vogel das fliegen gelernt hat. Das Auge ist auch ein Produkt von Anpassung bzw. Kompromisse. Somit hat sich Religiösität auch entwickelt und war nicht immer vorhanden. Die Existenz von Luft bewirkt nicht dass ein Lebewesen Flügel hat, sondern es Bedarf einer Motivation und Entwicklung! Der Punkt ist nicht, weil ein Gott existiert sind Menschen religiös, sondern weil der Bedarf da ist.

  33. @Tim

    Ja, was die Bedeutung der Evolutionstheorie betrifft, sind wir uns auf jeden Fall einig! Meine Distanzierung bezog sich auf den Gedanken, dass “Geist” eine weitere Dimension unserer Umwelt sein könnte, so wie es elektromagnetische Strahlung ist. Dies möchte ich ausdrücklich nicht als Meinung, sondern als (interessante) Spekulation verstanden wissen.
    Und die Begründung, warum ich überhaupt in eine solche Richtung spekuliere, sind eben Argumente aus der Evolutionstheorie bzw. der Versuch Analogien in der Evolution zu ziehen, die möglicherweise aber nicht zulässig sind. Das beinhaltet keine Distanzierung von der Evolutionstheorie, da diese hier nirgends in Zweifel gestellt wird 😉
    Und dann kann man die Analogien eben auf verschiedenen Ebenen betrachten: Evolutionsbiologisch haben wir Augen, weil sie zunächst das Erkennen von Hell/Dunkel, dann das Erkennen von Bewegungen und schließlich auch die Differenzierung in Farben ermöglichten und ihren Besitzern damit immense Orientierungsvorteile ermöglichten, die sich in Fortpflanzungsvorteile ummünzten. Physikalische Voraussetzung ist aber erst einmal die Existenz von elektromagnetischer Strahlung und die Möglichkeit diese aufgrund ihrer physikalischen Eigenschaften nutzbar zu machen. So selektierte die Evolution diejenigen Lebewesen, die die physikalischen Eigenschaften von Licht am besten umsetzten (verkürzt gesagt durch Mutation und Variation). Diese Umsetzung spiegelt damit auch automatisch die physikalischen Eigenschaften: Das Auge besitzt eine Linse, weil Licht daran gebrochen wird und sich dann auf der Netzhaut in Information übersetzen lässt – physikalisch. Ich kann natürlich auch wieder sagen, das Auge besitzt eine Linse, weil diese in der Evolution die beste Anpassung darstellte – aber eben aufgrund der physikalischen Erklärung.
    Ähnlich kann man auch wieder bei den Flügeln argumentieren: Der Vogel lernte fliegen, weil es ihm neue ökologische Nischen erschloss. Oder weil sich seine Extremitäten durch Mutation und Variation zufällig die physikalischen Eigenschaften von Luft zu eigen machten und dem Vogel das Fliegen ermöglichten. Die Existenz von Luft ist Voraussetzung, aber nicht Grund für die Entwicklung von Flügeln.
    Es ist stets ein Wechselspiel von verschiedenen Faktoren 🙂
    Es ist also ganz gewiss richtig, dass sich Religiosität entwickelt(evolviert) hat. Ob die Existenz eines Gottes dafür Grund oder Voraussetzung ist, bleibt allerdings natürlich jedem selbst überlassen.
    Mein Gedanke drehte sich auch erst einmal vorsichtigerweise um die Entwicklung von Geist/Bewusstsein, dessen Voraussetzung irgendeine Art “geistige Dimension” sein könnte, von der wir noch keine große Ahnung haben.
    Im Übrigen fällt mir gerade ein, dass das gar nicht mein eigener Gedanke ist. Ich hab ihn aus einem Buch behalten: “Der Geist fiel nicht vom Himmel – Die Evolution unseres Bewusstseins” von Hoimar von Ditfurth.

  34. @Blume

    Nun, inzwischen hatte ich auch Kontakt mit Prof. Rowthorn – und erfuhr von ihm, dass die Idee mit der diploiden Vererbung von einem der (naturwissenschaftlichen) Peer-Reviewer kam, der anregte, er solle doch auch dipolide bzw. “marriage”-Modelle durchrechnen.

    Ich meine den Sinn von Rowthorns angestrebter Studie mit “haploiden” und “diploiden” Erbgängen verstanden zu haben, daher das Gen kann vom Vater kommen, von der Mutter oder von beiden…Moment, ich habe mir das Paper nochmal durchgelesen und jetzt verstehe ich doch wieder nur noch Bahnhof. Ich verstehe einfach nicht in welchem Zusammenhang er die allelen Formen verwedent. Beim haploiden Modell spricht er von einem Gen, dass zwei Allele besitzt. Beim diploiden Modell sagt er, jeder trägt zwei Allele. Das hat er vorher doch beim haploiden Modell auch schon gesagt. Sehen sie, ich verstehe die Genetik dahinter nicht!
    Gibt es zu dem Paper irgendwo eine wissenschaftliceh Debatte, also über die Genetik, wo es vielleicht Erklärungen dazu gibt?

    Wie kann etwas logisch, aber nicht richtig sein?

    Ich gebe zu, ich war etwas voreilig und habe mir darüber gestern und heute Gedanken gemacht und möchte meinen Standpunkt ändern. Tim hat es eigentlich perfekt formuliert: man muss einen Unterscheid zwischen Religion und Religiosität machen. Dies habe ich nicht, daher stimme ich doch überein, man könnte die Religiosität mit der Musik z.B. gleichsetzen und dieses Phänomen auf gleiche Art und Weise untersuchen.

  35. @Sebastian R.

    Okay, dann passt es ja. Ja, bei der diploiden Variante war Rowthorn ja auch nicht wohl – aber er hat eben die Reviewer-Anregung aufgenommen, auch das mal durchzurechnen. Dabei ging es wohl vor allem um die Rezessivität: Also die Annahme, dass ggf. Religiosität nur dann aktiviert würde, wenn sie beiden Elternteilen her vererbt würde. Dass das keine sonderlich realistische Grundannahme ist (die wir z.B. für Musikalität oder Sprachfähigkeit auch kaum machen würden…), sehe ich auch so – aber auch gewagte Modelle mal durchzurechnen ist ja nichts Schlechtes. Die haploid-polygenen (zwar mit 1 angesetzten, aber “portionierbaren”) Modelle mit kulturellem Defektionsanteil unter den Phänotypen scheinen m.E. nicht nur von der Ausgangsüberlegung her am Sinnvollsten sein – die errechneten Befunde passen m.E. auch am Besten zu den empirischen Daten zu religiösem Verhalten. Und das ist doch schon mal etwas für eine explorative Studie!

    Ja, die Diskussion über die Genetik von Religiosität ist schon ein paar Jahre alt. Eine große Rolle hat dabei Dean Hamers “Das Gottesgen” gespielt, das jedoch mit dem reißerischen Titel ebenfalls eine monogene Veranlagung nahelegt – die Hamer dann im Buch natürlich nicht aufrecht erhält. (Er fand ein Gen, das auf einer Spiritualitäts-Skala um ein bis zwei Prozent korrelierte – und schloß daraus, dass Spriritualität und Religiosität polygen sein müssten. Manchmal können Buchtitel fast böswillig verkürzen…)

    Auf der Biology of Religion-Tagung im HWK Delmenhorst brachte dann Thomas Bouchard die Befunde der Zwillingsforschung ins Spiel. U.a. die neuropsychologischen Arbeiten und meine Studien zu Religion-Demografie aufnehmend, plädierte er für weitere, populationsgenetische Modelle. Das Buch mit den Papers, die auch Rowthorn zitiert hier:
    http://www.chronologs.de/…;_knv_dok_nr=090501574

    Genau auf diese Vorarbeiten stützte sich Rowthorn mit seinen explorativen Modellrechnungen. Und so geht es weiter, Schritt für Schritt – wie in der Evolutionsforschung zu Musik, Sprachfähigkeit, Intelligenz, Kreativität usw. auch.

    Wir sind uns sicher einig, dass jede einzelne Arbeit in der Evolutionsforschung immer hinterfragt werden kann und muss, schließlich auch jede Erkenntnis durch bessere ersetzt werden kann. Was nur m.E. nicht mehr geht ist der Ansatz, einfach alles vom Tisch wischen zu wollen, um (nur? auch?) Religion irgendwie aus der Evolution ausgliedern zu wollen. Das halte ich für unwissenschaftlich, zumal es keine seriöse Alternativhypothese zu einer evolutionären Emergenz auch dieses Merkmals mehr gibt.

    Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie freilich die Chance genutzt, sich anhand von Internetressourcen schon tiefer in das Thema einzulesen und auch Ihre eigenen Intuitionen zu hinterfragen. Und das ist, erlauben Sie mir das aus oft bitterer Erfahrung zu schreiben, schon mehr, als viele vermeintlich “wissenschaftlich Interessierte” leisten, wenn es um lieb gewordene Präferenzen oder Vorurteile geht – in diesem Sinne Ihnen also einen ehrlichen Dank!

  36. Religionssucht

    Ich bin zwar kein Mediziner, weiß aber, daß es ein Suchtzentrum im Hirnareal gibt. Es wäre interessant zu wissen, ob die Sucht nach Religion im gleichen Areal nachzuweisen wäre.
    Meine Mutter hatte mich immer wieder mit dem gleichen Argument konfrontiert, “es müsse etwas am Christentum dran sein, sonst würde es nicht so lang Bestand haben”. Worauf ich antwortete, “dann müsste das Schamanentum prevalent sein, da dies ja bekanntlich noch viel älter ist”.
    Nun, Religion beschränkt sich ja nicht auf eine bestimmte Glaubensbekenntnis, sondern ist eher vielfältig.
    Ich meine, da der Mensch in seinem Bestreben Wissen zu erlangen, in vielen Fällen hierzu unfähig war, sich einfach darauf verließ zu glauben; um bestehende “Lücken” zwischen unerklärlichen Ereignissen und dem Durst nach Erkenntnis zu schließen, war dies die einfachste Lösung.
    Es war schon immer so, das die Eiferer unter den Menschen am findigsten waren Pseudo-Lösungen zu präsentieren und andere davon zu überzeugen; z. T. auch gewaltsam. Dabei gibt es ja völlig unlogische und auch sich widersprechende Lösungsansätze.
    In Teilen unserer Welt, wo die Menschen ungebildet sind und über das geringste Wissen verfügen, herrschen Glaube und Aberglaube. Ist jemand ungebildet, kann er jedoch sehr intelligent sein. Ist jedoch jemand ungebildet und obendrein dumm, dann ist er auch einfältig und äußerst anfällig für die Glaubenssaat irgendwelcher Eiferer.
    Umgeben von Dunkelheit, kann jemand – wenn überhaupt – nur schemenhafte Umrisse wahr nehmen. Wird die Dunkelheit von Licht geflutet, sieht man – sofern nicht blind – alles scharf und klar. In der Dunkelheit / Unwissenheit in der wir uns oftmals befinden wird uns der wahre Blick verwehrt. Man spricht nicht umsonst vom “Lichtblick” und meint damit eine neu gewonnene Erkenntnis.
    GLAUBEN HEISST NICHT WISSEN.
    Besteht denn zwischen religiösen Glauben und allgemeinen Glauben ein Unterschied?

  37. @yoatmon

    Danke, das sind interessante Überlegungen. Nur: Welche “Sucht” erhöht im Durchschnitt das Kooperationsniveau und den Reproduktionserfolg der “Süchtigen”? Wenn Religion nur clevere Ausbeutung wäre – wie kommt es dann, dass gerade auch kleine, nur dezentral organisierte und über Jahrhunderte verfolgte Gruppen wie die Old Order Amish, Old Order Mennonites oder Hutterer kinderreich bestehen?
    http://www.blume-religionswissenschaft.de/…y.pdf

    Die Aufgabe von Wissenschaft ist es, die unendlich vielen “So-könnte-es-doch-sein”-Denkmöglichkeiten zu überprüfen und auf diesem Wege weiter zu kommen. Das bedeutet auch, dass man immer wieder liebgewordene (Vor-)Urteile hinter sich lassen muss, um neue, bessere Erkenntnisse gewinnen zu können.

  38. @ Sebastian R. & all

    Nun ist in Razib Khan’s Bioblog “Gene Expression” eine ausführliche Diskussion der Rowthorn-Studie erschienen. Wenn sich aus jeder Antwort natürlich auch neue Fragen ergeben, so sieht Khan die Rowthorn-Studie doch als insgesamt gelungen und bestätigt auch aus seiner Sicht die biokulturelle Heritabilität von Religiosität:
    http://blogs.discovermagazine.com/…Expression%29

  39. Religionssucht

    @ M. Blume:
    Obwohl sich manche Menschen ausgesprochen unsozial / asozial verhalten, ist der Mensch jedoch ein soziales Wesen. Soziale Bindungen haben definitiv ihre Vorteile. Die Weitergabe von erlernten Wissen an folgende Generationen ermöglicht mehr Freizeit. Muß das “Rad” nicht immer neu erfunden werden, kann die so gewonnene Zeit für andere Tätigkeiten – auch Muse – genutzt werden.
    I kenne keine der Weltreligionen der es nicht gelang eigene religiöse Überzeugungen mit dem Vorteil sozialer Sicherheit zu verbinden; eben das Nützliche mit dem Notwendigen zu verknüpfen. Dies trifft auch für die Ämisch, Hutterer etc. zu;
    Eine Variante dieses Prinzips wurde in der Vergangenheit erfolgreich von Schallplatenproduzenten angewandt. Die Platten waren beidseitig bespielt. auf jeder Seite befand sich ein Hit (Zugpferd), die folgende Stücke waren Ladenhüter wurden aber trotzdem verkauft, weil das Eine nicht ohne das Andere zu haben war.
    Religiöse Konvertiten stellen eine Minderheit dar. So wie jemand von Kindesalter erzogen wird, erhält er eine Prägung für sein ganzes Leben. Häufige Wiederholung sind ja der bekannte stetige Tropfen der auch einen Stein aushöhlt. Es gibt Menschen die glauben gebildet zu sein und es gibt Menschen die es auch sind. Warum sind es gerade gebildete Menschen die immer häufiger ihrer angestammten Religion den Rücken kehren?

  40. @yoatmon

    Ja, das ist schon wirklich gut! Als nächstes könnten Sie ermitteln, warum religiöse Traditionen dieses Potnetial haben, nicht aber z.B. philosophische. Auch dazu gibt es bereits viele Studien und noch viel zu entdecken.

    Gebildete säkularisieren häufiger, da sie meist auch Sicherheit und Wohlstand genießen und also weniger Gemeinschaftsbedarf haben. Zudem stehen ihnen mehr Welterklarungen zur Auswahl, .

  41. @ M. Blume

    Philosophische Traditionen hatten nie einen “religiösen” Status. Z. B. wird der Buddhismus oft als Religion dargestellt, was er aber gar nicht ist; er ist eine Lebensphilosophie. Wie bei anderen Philosophien fehlt auch hier eine Verknüpfung zwischen der “Lehre” und sozialer Sicherheit. Damit wären wir wieder bei dem Beispiel der Schallplatte; Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Ich bin überzeugt, daß die eigentliche Triebfeder die soziale Sicherheit ist und die Religion billigend in Kauf genommen wird. Die eigentliche Frage ist ob das so überhaupt wahrgenommen wird. Die Verknüpfungen zwischen Religion und sozialer Sicherheit sind sehr geschickt verwoben. Das Druckmittel der Religionen war ja immer ein Verlust der sozialen Sicherheit verbunden mit einem Abgleiten in die Annonymität des Lebens (gar dessen Verlust)und ewiger Verdammnis. Auch M. Luther war mit dieser Situation konfrontiert. Er hat es bildlich geschafft sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Bestimmt möchte kein normaler Mensch freiwillig auf die Vorteile sozialer Sicherheit verzichten und ist bereit die eine oder andere bittere Pille zu schlucken um diese Sicherheit zu wahren.

  42. @yoatmon

    Wenn Sie erlauben: Sie sind richtig gut! Auf Basis der auch von Ihnen vertretenen These arbeiteten z.B. Inglehart und Norris in ihrem weltweiten Datenvergleich für “Sacred and Secular”, das Sie sehr interessieren könnte:
    http://www.amazon.de/…de-Cambridge/dp/0521548721

    Ich würde Sie, falls Sie das Thema weiter interessiert, gerne ermutigen, sich in der Richtung einzulesen (ggf. das o.g. Sacred and Secular und auch unser Gott, Gene und Gehirn) und ggf. wissenschaftlich oder publizistisch zu engagieren. Sie scheinen da durchaus Talent für empirisches & evolutionäres Denken zu haben – und das meine ich wirklich ernst und ohne jede Ironie.

  43. @yoatmon

    “Ich bin überzeugt, daß die eigentliche Triebfeder die soziale Sicherheit ist und die Religion billigend in Kauf genommen wird.”
    Ich glaube, hier muss man möglichst genau zwischen intrinsicher und extrinsischer Religiosität unterscheiden, so wie es bei der Untersuchung der Vererbung von Religiosität getan wird – intrinsische Religiosität, also quasi religiöses Interesse von Innen heraus, wird sehr viel stärker vererbt; extrinsische Religiosität hingegen hat mehr mit gesellschaftlicher Prägung/Übernahme der gesellschaftlichen Norm zu tun.
    Und so kann ich mir vorstellen, dass für extrinsisch motivierte Gläubige die soziale Sicherheit einen viel höheren Stellenwert hat bzw. eine viel größere Motivation ausmacht als bei intrinsisch motivierten Gläubigen.
    Übrigens auch sehr interessant: Seitdem es gesellschaftlich nicht mehr “nötig ist”, religiös zu sein/der Kirche anzugehören und dementsprechend vermutlich vor allem extrinsisch motivierte Gläubige aus der Kirche austreten, sind Effekte wie die höhere Geburtenrate bei Gläubigen viel stärker empirisch zu erkennen und zu belegen als vorher.
    Alle Informationen aus “Gott, Gene und Gehirn”, also wenn Sie das interessiert, hat Michael Blume Recht, dass Sie das mal lesen sollten 🙂

  44. Religionen und Einschränkungen

    Richard Sosis, Anthropologe an der Universität Connecticut hat 200 alternative Kommunen untersucht, die im 19. Jahrhundert in den USA entstanden: Anarchisten, Sozialreformer, Religiöse Gemeinden. Während die säkularen Gruppen maximal vierzig Jahre hielten, hatten auch nach achtzig Jahren noch 20 Prozent der religiösen Kommunen Bestand.

    Was mich überraschte:

    Vor allem die religiösen Gemeinden, die den Lebensstil ihrer Mitglieder besonders stark reglementierten hielten sich am längsten. Vom Verbot von Alkohol über Kleidungsvorschriften bis zu bestimmetn Fastenzeiten.

    OK, der Mensch braucht Regeln… aber das hatte ich nicht unbedingt erwartet.

  45. @Joe

    Ja, die Studien von Richard haben mich damals auch sehr geprägt und hier auf NdG auch einen eigenen Blogpost. Entscheidend scheint zu sein, dass die hohen Anforderungen auch Verbindlichkeit und “Wärme” unter den Anhängern schaffen. Möglicherweise hilft es auch, mit der Überzahl an Optionen fertig zu werden, wenn diese quasi “vorsortiert” sind. Sosis hat die Forschung voran gebracht, auch seine Hutterer-Studie kann ich nur empfehlen!

  46. @Sebastian Voss

    Vielen Dank und inhaltlich: Stimmt. Es ist ja eine interessante Ironie, dass in Phasen von Säkularisierung eher nur die intrinsisch Motivierten bleiben – und sich so die religiösen Veranlagungen eher besser durchsetzen. Umso schwächer die Religion erscheint, umso stärker evolviert sie…

  47. @ Sebastian Voß

    Gewiß bin ich nicht der Erste der sich die Frage nach dem Sinn des Lebens gestellt hat. Ebensowenig bin ich bestimmt auch nicht der Erste der zu der Antwort, “Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst”, gelangt ist. Ein Teil dieses Sinns ist die Erhaltung der Art. Indem wir die Erhaltung der Art sichern, erhalten wir ein Teil unserer selbst in unseren Nachfahren. Für meinen Teil, erkenne ich einiges von mir in meinen Kindern und Enkel wieder; positives und weniger positives.
    Intrinsiche und extrinsische Religiosität könnte auch auf intrinsiches und extrinsisches Verhalten übertragen werden. Dies ist eine Verhaltensweise die nicht nur auf religiöses Verhalten beschränkt ist. Ganz allgemein könnte auch gesagt werden, das intrinsisches Verhalten eher dogmatische und fundamentalistische Tendenzen aufweist. Ich , persönlich, gebe Pragmatie den Vorzug gegenüber Dogmatie; meiner Meinung nach hat das auch etwas mit Liberalismus und Konservatismus zu tun.
    Eine Religion die Dogmatie und Fundamentalismus über den Sinn des Lebens stellt, ist nicht nur Menschen feindlich, sie ist im höchsten Maße Menschen verachtend.
    Kinder sollten nicht in dogmatischen Klischees erzogen werden weil Sie dabei abhängig werden. Es sollte die beste Absicht aller Eltern sein, ihre Kinder als frei-geistige Individuen zu erziehen damit diese ein Leben in Unabhängigkeit und Freiheit erfahren und genießen können. Nur wer selbst das Leben fürchtet wird seine Kinde zur Abhängikeit erziehen um sich einer vermeintlichen Lebensstütze sicher zu sein.

  48. Soziale Sicherheit u Religion

    „Ich bin überzeugt, daß die eigentliche Triebfeder die soziale Sicherheit ist und die Religion billigend in Kauf genommen wird.“ (yoatmon). Dafür (zusammen mit dem Schallplattenbeispiel) gibt es viele Belege. Insofern ist es „wirklich gut“ beobachtet. Aber ich bin damit nicht wirklich zufrieden. Die Belege gibt es nur in Gesellschaften relativer Wahlfreiheit bzw. um diese Wahl konkurrierender Glaubensformen.
    Dazu aber zwei ergänzende/gegenübertretende Überlegungen:
    1) Je näher wir an die Quelle von Religionen kommen, umso weniger verfängt das. Denken wir an die frühesten Spuren ihres Aufkommens: Was haben Bestattungs-Riten oder auch Pubertätsriten mit sozialer Sicherheit zu tun? (Da darf auch die Sache mit den kostenpflichtigen Signalen wie Beschneidung/Opfer nicht nur als Wettbewerbsfaktor zwischen verschiedenen Glaubensformen, gar gegenüber Atheismus, gesehen werden – wem sollten die australischen Aborigines mit ihren Riten etwas signalisieren wollen?).
    2) Je näher wir an die Gründungen und Umbrüche von Religionen mit historisch einigermaßen greifbaren Anfängen kommen, umso weniger entspricht das der ursprünglichen Intention.. Denke ich an Gestalten wie: Abraham, Mose, die Propheten, den Wanderprediger aus Nazareth, den Zeltmacher Paulus, den Beginn des asketischen Mönchtums, die mittelalterlichen Armutsbewegungen und den als einzigen in diesem Zusammenhang schon erwähnten Luther. (Die fallen mir als christlicher Theologe zuerst ein; es gibt natürlich in anderen Religionsbereichen auch Beispiele). Da mag manches idealisiert sein oder die Gestalten selber gar nicht historische Gestalten. Aber so wurde und wird über sie erzählt und so wurde und wird mit ihnen auch geworben! Siehe Hebräer 11.
    Beides hebt den andern Mechanismus nicht auf, sagt aber auch: Die Nichts-als-Isten habe nicht nur Recht.
    In den langfristigen Strategien solcher Religionen spielt das sicher da und dort mit – Mission und Kolonialismus/Entwicklungshilfe, Mission und Diakonie… geben solche Beispiele her. Aber das nur als fiese Verkaufsstrategie zu denunzieren, das wäre doch zu simpel. Und es entspricht auch nicht einer zentral überlegten Strategie, soziale Sicherheit anzubieten, um Religion mit unterzujubeln/einzuschmuggeln. Sondern der Grunderkenntnis, dass Theorie und Praxis wesensmäßig zusammengehören – vielleicht so wie zu entsprechenden Gesundheitseinsichten dann auch Sportstätten gehören.
    Ich finde es in diesem Zusammenhang interessant, dass es auch auf atheistisch-humanistischer Seite entsprechende Überlegungen gibt. Zum Beispiel hier, gefunden in „wissenrockt“: „Ein Vorsatz zur Überwindung der Glaubenskrise?“ Da formuliert ein Chris Stedman von der Humanist Chaplaincy an der Universität Harvard die Forderung: zum „Aufbau einer anteilnehmenden humanistischen Community“ seien „Vorträge und Debatten … wichtig, aber wir müssen auch singen und etwas aufbauen“. Denn: „Die Zukunft des säkularen Humanismus liegt schließlich aber nicht in blasphemischen Werbetafeln, bombastischer Rhetorik oder in Blogs – sondern im Aufeinanderzugehen, gegenseitigem Austausch und Beziehungen.“.
    Ich weise darauf überhaupt nicht gegnerisch-hämisch hin. Sondern: Ja, da wird begriffen, worum es geht.
    Ähnlich sagt es Michael Schmidt-Salomon bereits vor fast drei Jahren in einem Grundsatzreferat „Vom neuen Atheismus zum neuen Humanismus?“: “Gewiss: Wenn der neue Humanismus eine echte Alternative zur Religion sein soll, so darf er nicht bloß Theorie bleiben, er muss praktisch werden. Das bedeutet u.a., dass soziale Institutionen geschaffen werden müssen, die vom Geist des neuen Humanismus getragen sind (etwa Kindertagesstätten, in denen Kinder nach den neusten Erkenntnissen der Lernforschung gefördert werden und in denen sie die grundlegenden Werte eines humanen Zusammenlebens spielerisch erfahren).“ Auch auf ihn weise ich nicht gegnerisch-hämisch hin, er ist immer wieder gut für gute Überraschungen.
    Nun ja, Religionen haben da bereits lange (und zwiespältige) Erfahrungen. Also, jetzt mal sehen, welche Überraschungen auf dieser (von mir aus gesehen) anderen Seite uns noch erwarten.

  49. @ H. Aichele

    Was haben Bestattungs-Riten oder auch Pubertätsriten mit sozialer Sicherheit zu tun?
    Beginnen wir doch mit der Frage von Pubertätsriten. Ja, besonders Kinder und Jugendliche können sehr grausam sein. Solches Verhalten lässt sich immer häufiger beobachten. In bestimmten Gruppen herrscht ein “Gruppenzwang”; dieser reflektiert ein bestimmtes Verhaltensmuster das nicht unbedingt nachahmenswert ist. Wer zu solch einer Gruppe gehören möchte muß sich dem Zwang der Gruppe unterwerfen und den etablierten Ritus über sich ergehen lassen. Tut er dies nicht wird er zum Aussenseiter und “Langweiler” abgestempelt. Solche Riten sind unterschiedlich, z. T. ähnlich, aber so zahlreich wie solche Gruppen selbst.
    Somit strebt auch ein Gruppenmitglied nach “sozialer Akzeptanz” und sozialer Sicherheit die ihm eine solche Gruppe bietet.
    Dann gibt es auch gesellschaftliche Normen / Riten die erwartungsgemäß von einem Pubertierenden zu erfüllen sind. Nicht selten geraten solche betreffende in geistige und physische Konfliktsitutationen und die Unmöglichkeit gleichzeitig den Gruppen- und Gesellschaftsanforderungen gerecht zu werden. Oft bleibt nur die Wahl zu einem Gruppen- oder Gesellschaftsaußenseiter zu werden; oder zu einem Einzelgänger außerhalb der Gruppe und Gesellschaft. Wahrhaftig glücklich sind diejenigen die in einem intakten Umfeld “Nestwärme” und soziale Akzeptanz und Sicherheit erfahren dürfen.

    Bestattungsriten: Die Summe der Erfahrungen einer Gruppe oder Gesellschaft prägen deren Verhalten zu Lebzeiten und nach dem Ableben. Ist man jemanden zu Lebzeiten mit Respekt oder Verachtung begegnet, wird man es, in aller Regel, auch so mit ihm halten nach dessen Ableben. Jeder Tag von Geburt an (und sogar noch davor) bis zum Tod prägt einen Menschen; auch wenn es der eine oder andere nicht wahr haben will. Mit der Ausnahme eines Selbstmörders, ist das Leben immer zu kurz. Im Grunde ist sich jeder dessen bewußt, wenn auch nur unterschwellig. Die passende Antwort auf diese Sehnsucht ist die Vorstellung von einem Leben nach dem Tod. Die meisten sind auf die eine oder andere Weise auf ihr Ableben vorbereitet, unabhängig davon, ob sie von einem Weiterleben überzeugt sind oder nicht. Die Lebenseinstellung – man könnte auch sagen – der Zeitgeist, unserer Gesellschaft bestimmt unser Verhaltensmuster zu Lebzeiten und danach.

  50. Die Lösung ist viel einfacher

    Warum benutzen fast alle Windows und nicht UNIX oder OS X? Weil es durch Zufälle das dominierende geworden ist und alle Programme klauen und tauschen die unter Windows laufen (und weil die meisten Spiele unter Windows gespielt werden.)

    Wenn aber eine Erfindung in einer bestimmten Ausprägung dominierend und Kulturgut geworden ist wird man es auf zwei wegen los. Entweder eine Katastrophe oder etwas viel neueres was alle haben wollen kommt vorbei. Das muß nicht mal einen “echten” Nutzen haben. Es reicht völlig wenn es “cooler” ist.
    So ist bei Älteren Jungen Yu-Gi-Oh! coler als Pokemon. Schon konverteiren Massen zur neuen Religion. Es geht also mehr um Festigung der Gruppenstruktur und weniger um den echten Nutzen. Es geht um Kommunikation und Status.
    Wie der Gott heißt und was er gebietet ist also egal. Aber ein Menschn muß nunmal zu einer Gruppe gehören und wird nur selten aktiv zum Aussenseiter werden wollen. Denn dadurch hat er erhebliche Nachteile.

  51. @Andreas Debus

    Obgleich ich Ihnen da in einigen Aspekten durchaus zustimme – empirisch ist inzwischen stark belegt, dass sich der reproduktive Erfolg “nur” in einigen jener Traditionen einstellt, die sich auf überempirische Akteure beziehen, also religiös sind. Politische, sportliche, spielerische, künstlerische u.s.w. Gruppen ohne diese Aspekte weisen dagegen keine dauerhaft erfolgreichen Fertilitätsraten auf. Das spricht dagegen, dass es (demografisch und mithin auch biologisch) völlig egal sei, auf welcher Grundlage sich Menschengruppen finden.

  52. “The truth, as always, will be far stranger.” Arthur C. Clarke

    Die Religion schützt den unbewussten Kulturmenschen vor der Erkenntnis, dass das Leben, das er führt, gar nicht lebenswert ist. Insofern kann auch Richard Dawkins froh sein, dass er noch gar nichts verstanden hat, sich aber etwas Geld verdient mit dem Verkauf eines dicken Buches an viele andere unbewusste Menschen, die sich “Atheisten” nennen und glauben, sie wüssten schon was. Der “Atheist” glaubt, dass Gott nicht existiert, oder zumindest nicht das ist, was der Gläubige sich darunter vorzustellen glaubt. Mit Letzterem hat er Recht, aber Gott existiert. Gott existiert, bis er erkannt und verstanden ist! Bis dahin steuert “Gott” auf subtile Weise das Verhalten des unbewussten Menschen, ob “gläubig” oder “ungläubig”:

    http://www.deweles.de/willkommen.html

  53. Pingback:Endlich! Dank für die Auszeichnung zum “Dodo des Monats” durch die deutschen Brights! › Natur des Glaubens › SciLogs - Wissenschaftsblogs

  54. Menschen hatten schon immer das Bedürfnis, für die Geschehnisse der Natur die Ursachen ausfindig zu machen. Das ist notwendig für die Bewältigung des Lebens. In der vorwissenschaftlichen Zeit hat man dafür überirdische Wesen als Urheber verantwortlich gemacht. Mit dem Aufkommen der Wissenschaft können diese Wesen durch Theorien ersetzt werden. Religiosität ist ein historisches Relikt und hat nichts mit Evolution zu tun. Natürlich kann man irgendwelche Korrelationen konstruieren, so wie man für Störche und Geburten eine Korrelation finden kann, wenn man gezielt danach sucht. Der evolutionäre Vorteil von Religiosität ist nach meiner Überzeugung eine petitio principii. Genauso kann Religiosität ein evolutionärer Nachteil werden, wenn man die falsche Religion hat. Welchen evolutionären Vorteil hat beispielsweise die Ablehnung ärztlicher Hilfe, bestimmte Essens- oder Kleidungsvorschriften, Gebete statt Schutzmaßnahmen, wenn sich Lebensumstände wie z.B. das Klima, das Nahrungsangebot oder die Aktivität eines Vulkans ändern? Sind es nicht gerade die religiösen Menschen, die diesen Planeten ausplündern und zerstören?

    • @Anton Reutlinger

      Wie sonst sollte denn Religiosität entstanden sein – wenn nicht durch Evolution? Das war schon Darwin klar, und er hatte nach heutiger Kenntnis Recht.

      Und der differentielle Fortpflanzungserfolg ist nun mal “der” Goldstandard der evolutionären Fitness, wie Ihnen jede seriöse Biologin bestätigen wird.

      Dass das Ganze weh tut, verstehe ich – Sie sind da wirklich nicht der Erste, der sich lange sträubt. 🙂

      Falls Sie sich ernsthaft interessieren, hier eine filmische Darstellung des Ganzen.
      https://m.youtube.com/watch?v=Iy9J9ddelVw

    • @ Anton Reutlinger

      “Religiosität ist ein historisches Relikt und hat nichts mit Evolution zu tun.”

      Dass es nichts mit Evolution zu tun hat, bezweifle ich.

      Nun gibt es allerdings auch genetische Dispositionen für Krebs und Diabetes. Diese sind zweifelsfrei im Laufe der und durch die Evolution entstanden. Der “Goldstandard der evolutionären Fitness” (Michael Blume) kann allerdings hierbei kaum als Erklärung für ihre weite Verbreitung in der Population herangezogen werden.

      Also nicht alles, was mit Evolution zu tun hat, lässt sich auf einen differentiellen Fortpflanzungserfolg zurückführen. Wie das mit der genetischen Disposition für Religion gelagert ist, ist noch Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen.

      • Die Aussage “hat nichts mit Evolution zu tun” ist zugegebenermaßen eine Pauschalaussage, die man zu recht bezweifeln kann. Man könnte eventuell nachweisen, dass die Selektion Religiosität bevorzugt hat. Nach meiner Überzeugung ist Religiosität eine Nebenerscheinung des Bewusstseins, so wie Wissenschaft, Glaube an Astrologie oder Homöopathie. Gibt es einen Unterschied zwischen Religiosität als dem Glauben an die Wirkung überirdischer Wesen und dem Glauben an die Wirkung von Homöopathie? Ich denke bei diesem Thema vielmehr an die Drei-Stadien-Theorien von Giambattista Vico und Auguste Comte. Selbstverständlich muss man diese Theorien nicht als “Goldstandard” werten, aber sie sind plausibel und empirisch prüfbar. Religiosität hat meines Wissens kein physisches Substrat, das der Variation im Verlauf der Evolution unterliegen würde, so wie das anatomische Gehör für die Sprachfähigkeit. Es bleibt also eigentlich nur die Selektion von Verhaltensdispositionen auf Grund von Religiosität. Aber religiöse Dogmatik in einer dynamisch wandelbaren Welt wirkt viel eher als evolutionärer Nachteil. Das ist nie deutlicher geworden als in der Gegenwart!

        • Sie postuilieren Religiöse Dogmatik als Resultat der Evolution. Auf diese Idee können sie nur kommen, wenn sie daran glauben, alles sei mehr oder weniger direkt vererbt und wenn es nicht so sei spreche das gegen Vererbung. So etwas ist jedoch nicht möglich, denn der Mensch hat nur etwa 3 Gigabyte an DNA-Code. Ich behaupte: Nicht einmal der Glaube an einen Gott hat in diesen 3 Gigabyte Platz. Religiosität muss zwangsläufig ein verschwommenes und mit anderen Eigenschaften wie sozialem Verhalten verknüpftes Merkmal sein.

          • @Martin Holzherr

            Religiosität ist eine biokulturelle Fähigkeit wie Sprachfähigkeit oder Musikalität, die erst und nur durch kulturelle Traditionen ausgeformt wird. Es behauptet doch auch kein Mensch, dass alles, was jemals gesprochen bzw. musiziert würde, zuvor in den Genen festgeschrieben sei. Vielmehr haben wir die evolutions- und neurobiologischen Grundlagen, um sprachliche, musikalische und auch religiöse Traditionen aufzunehmen und weiter auszuprägen.

          • Das haben Sie offenbar missverstanden, wahrscheinlich weil ich nicht den Konjunktiv verwendet habe. Meine Behauptung war doch gerade das Gegenteil! Die Vererbung bzw. die Selektion ist auch nur im fortpflanzungsfähigen Alter für die Evolution wirksam, danach spielt das Verhalten keine Rolle mehr, höchstens indirekt als Rückwirkung auf die Jugend, wenn sie z.B. in Kriegen verheizt wird. Ein aktuelles Beispiel für die evolutionäre Wirkung ist die dogmatische Vodoo-Religion in den Ebola-Gebieten Afrikas, indem durch Rituale die Ausbreitung gefördert wird.

          • @Anton Reutlinger

            Nun bin ich baff. Haben Sie tatsächlich noch nie über die Bedeutung gemeinschaftlicher Kinderbetreuung und z.B. der Rolle der Großeltern und Lehrenden in der Evolution des Menschen gelesen? Auch heute noch hängt die Zahl der möglichen Kinder entscheidend davon ab, ob und wie stark (potentielle) Eltern gemeinschaftliche und familiäre Unterstützung erhalten! Eine Rezension dazu hier:
            https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/mutter-natur-verstehen-die-evolutionsforscherin-sarah-hrdy/

            Und, ja, es gibt Religionsgemeinschaften, die sich über Mission ausbreiteten – bis zum Extrem der Shaker, die sogar auf jeden eigenen Nachwuchs verzichteten.
            https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/die-shaker-kurze-bl-te-kinderlos/

            Und umgekehrt gibt es Religionsgemeinschaften, die sich unter Verzicht auf aktive Mission durch Kinderreichtum ausbreiten, beispielsweise die Haredim oder Amish.
            http://www.sciebooks.de/cms/books/die-amish-ihre-geschichte-ihr-leben-und-ihr-erfolg

            Religiosität weist ein kooperatives und reproduktives Potential auf, das dann kulturell unterschiedlich ausgefüllt wird. Es ist eigentlich nicht so schwer zu verstehen…

      • Wie @Joker sagt. Fertige Forschungsfragen gibt es in den empirischen Wissenschaften übrigens nie – alles kann noch immer besser verstanden, jede These & Theorie überprüft und ggf. überboten werden.

        Und selbstverständlich können Menschen aufgrund psychologischer, religiöser oder ideologischer Dispositionen auch immer Teile bzw. die Fülle der Evolutionsforschung ablehnen. Damit muss (und kann) jeder Forschende leben. 🙂

        PS: Man beachte, dass der differentielle Fortpflanzungserfolg religiös Praktizierender nicht einfach vermutet, sondern empirisch beobachtet und beschrieben ist, z.B. in “Religion und Demographie”. 🙂

  55. In Deutschland steigt die Lebenserwartung der Großeltern und gleichzeitig sinkt die Kinderzahl! Das durchschnittliche Alter der Erstgebärenden ist von 23 Jahren um 1900 auf jetzt 29,6 Jahre angestiegen. Die Kinderzahl allein ist nicht relevant für die Evolution, auch die Kindersterblichkeit und viele andere Faktoren sind dabei zu berücksichtigen.

    • Klar – nur ändert auch eine Lebenserwartung von 120 Jahren nichts daran, dass biologische Veranlagungen nur über Nachkommen weiter gegeben werden…

      Ich kann nicht mehr tun, als Sie zu bitten, sich mal zu beruhigen und sich ernsthaft und sachlich mit der aktuellen Literatur zur Evolutionsforschung zu befassen. Wissenschaft ist wirklich interessant, auch wenn sie hin und wieder einige unserer weltanschaulichen Annahmen hinterfragt…

      • Genau das würde ich Ihnen auch empfehlen! Sie haben meine Aussage absichtlich verdreht. Wenn die Lebenserwartung steigt und gleichzeitig die Kinderzahl sinkt, dann ist Ihre eigene Aussage, dass Betreuung durch Großeltern die Kinderzahl steigen lässt, offensichtlich oder empirisch widerlegt.

        • Meinen Sie das jetzt wirklich Ernst, @Anton Reutlinger? 🙂

          Selbstverständlich ist Cooperative Breeding ein Faktor und die Auflösung von Großfamilien, die räumlichen Trennungen, die Erwerbsarbeit außer Haus usw. spielen eine große Rolle in der modernen Demografie! Früher lebten Eltern und Großeltern regelmäßig zusammen, das ist heute die Ausnahme!

          Ich schlage vor, Sie gönnen sich und uns eine Denk- und Lese-Pause… 😉 Ciao! 🙂

          • Ich gebe Ihnen gerne noch einen Hinweis zum Nachdenken in der Pause. Sie hatten die Sprachfähigkeit als Beispiel genant. Die Sprachfähigkeit beruht auf anatomischen Gegebenheiten, dem Hör- und dem Sprechapparat, die der Variation und der Selektion unterliegen. Dafür ist sogar ein Mastergen bekannt, das auch bei Neandertalern vorhanden ist. Gibt es auch für Religiosität anatomische oder organische Gegebenheiten?

      • Keine Ursache 😉 Zumindest ein Video von Spitzer hatten Sie ja auch schon an anderer Stelle verlinkt. Obwohl ich religiös sehr “unmusikalisch” bin, bin ich doch davon überzeugt, dass der Mensch in irgendeiner Form nach festen Erkenntnissen zur Erklärung der Welt strebt. Ob das nun religiöse Gene sind oder eher ein grundlegender Antrieb zur Neugierde und Frage nach dem Sinn des Seins, vermag ich nicht zu beurteilen. Auch ich habe in diesem Sinne meine “Religion”, nämlich Grundgesetz und Menschenrechte, die ich für schier unglaubliche und bewunderswürdige kulturelle Leistungen halte. Auch Liebe und Nächstenliebe scheinen mir ein evolutionärer Vorteil (bspw. für die Brutpflege) zu sein, der im Menschen als sozialem Wesen, das auf Zusammenarbeit und soziale Interaktion angewiesen ist, angelegt sind. Selbst die christliche Feindesliebe verstehe ich noch in diesem Sinne als evolutiv vorteilhaft, wenn damit die Empathie gemeint ist, im Sinne eines Verstehens, was den Feind (als jemand, der einem nach dem Leben trachtet) bewegt und zu seinem Verhalten antreibt. Bei der “anderen Wange” im weiteren Sinne habe ich dann allerdings gewisse Schwierigkeiten, im engeren Sinne .(Beleidigungen oder nicht gesundheitsgefährdende Behandlungen) ist sie aber durchaus vorteilhaft, weil man nicht unnötig lebensverkürzende Stresshormone produziert 😉

        • Tja, dann sind wir uns in sehr vielem einig, @Lutz – ich bin vielleicht etwas optimistischer als Sie, was die Ausstrahlungskraft von Demokratie und Menschenrechte auch auf Angehörige anderer Kulturen angeht!

          Wussten Sie, dass z.B. in Deutschland 80% der Muslime (ggü. nur 76% der Ostdeutschen…) die Demokratie für eine “gute Regierungsform” halten? (-> Bertelsmann Religionsmonitor 2013)

          Und falls Sie es noch nicht kennen, findet vielleicht auch dieses Video zur Evolution der Religion(en) Ihr Interesse. 🙂
          http://youtu.be/Iy9J9ddelVw

          Herzliche Grüße!

  56. Pingback:Rezension zu Thomas Junker – Warum sind Menschen religiös? Die evolutionäre Perspektive › Natur des Glaubens › SciLogs - Wissenschaftsblogs

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