Evolutionäre Fitness und Religiosität

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Immer mal wieder werde ich gefragt, warum ich nach der Dissertation zu Religion und Hirnforschung ausgerechnet die durchschnittlich höhere Kinderzahl religiös vergemeinschafteter Menschen zu meinem Forschungsschwerpunkt gemacht habe. Die Antwort ist: Weil genau dieser Faktor die biologischen und kulturellen Evolutionsprozesse verknüpft. Einerseits basieren alle kulturellen Fähigkeiten des Menschen auf biologischen Grundlagen, andererseits wirken die daraus entstehenden Kulturprodukte wieder auf den Reproduktionserfolg zurück – und so hat beispielsweise das Kochen Auswirkungen auf unsere Anatomie inklusive der Darm- und Gehirngröße genommen. Ebenso sind z.B. Musikalität, Sprache, Tanz oder das Tragen von Schmuck und Kleidung in der komplexen Wechselwirkung aus Natur und Kultur (genannt Gen-Kultur-Koevolution oder biokulturelle Evolution) erwachsen.

Biokulturelle Evolution oder Gen-Kultur-Koevolution (Schaubild, Blume 2009)

Beachten Sie dabei bitte auch die gegenseitige Verstärkung der Evolutionsprozesse: Wenn eine kulturelle Tradition (z.B. das Beherrschen einer Sprache) mit durchschnittlich höherer Kinderzahl einher geht, so werden nicht nur die genetischen Veranlagungen dazu gestärkt, sondern auch die kulturelle Variante selbst (z.B. die Muttersprache) durchschnittlich häufiger weiter gegeben. Aus dem gleichen Grund wachsen kinderreichere, religiöse Traditionen – wie derzeit z.B. die Old Order Amish – wogegen kinderarme Varianten – wie derzeit z.B. die Shaker – ausscheiden: Biocultural Evolution at work.

Definition Evolutionäre Fitness

Während der relative Reproduktionserfolg (über mehrere Generationen hinweg) also kulturellen Varianten Wettbewerbsvorteile verschaffen kann, ist er für den biologischen Evolutionsprozess sogar "die" entscheidende Variable. Und weil Blogkommentator Sascha Bohnenkamp weder den Definitionen auf Wikipedia trauen noch sich bei einem Biologen selbst kundig machen wollte, stelle ich hier gerne die Definition der darwinschen bzw. evolutionären Fitness nach dem empfehlenswerten Lehrbuch-Klassiker "Genetik" von Jochen Graw vor.

Graw definiert (S. 512):

Fitness ist ein Maß für den relativen Fortpflanzungserfolg eines bestimmten Genotyps in einer bestimmten Umwelt.

Und er erklärt auch ausführlicher (S. 511):

Man kann diesen Unterschied in der Fortpflanzungsfähigkeit quantitativ erfassen, indem man die relativen Beiträge der verschiedenen Genotypen der Individuen zur Nachkommenschaft zueinander in Beziehung setzt. Man erhält dann ein relatives Maß für den Fortpflanzungserfolg der verschiedenen Genotypen innerhalb einer Population, das als Fitness (W) des betreffenden Genotyps bezeichnet wird.[…] Hieraus wird deutlich, dass es sich bei der Fitness um einen Relativwert handelt, der nur innerhalb einer Population von Bedeutung ist. Die Fitness von Individuen in unterschiedlichen Populationen ist daher nicht vergleichbar.

Entsprechend war es mir wichtig, neben Auswertungen des relativen Reproduktionserfolges weltweit auch je ländergenaue Studien etwa zu den USA oder der Schweiz in den Blick zu nehmen. Inzwischen liegen Dutzende Studien verschiedenster Kolleginnen und Kollegen vor, die alle zu dem gleichen Ergebnis kamen und kommen: Religiös aktive Menschen pflanzen sich im Durchschnitt erfolgreicher fort als ihre nichtreligiösen Nachbarn, Religiosität erhöht also die evolutionäre Fitness.

Genetische Erblichkeit (Heritabilität)? Zwillingsstudien

Woher aber wissen Genetiker und wir anderen Evolutionsforscher überhaupt, dass kulturell ausgeprägte Fähigkeiten auch eine genetische Grundlage haben – und der Fortpflanzungserfolg also auf die genetischen Grundlagen rückwirkt? Vor allem durch Zwillingsstudien (hier auch ein starker Blogpost des Sciloggers Sebastian Reusch dazu), die seit 1875 getätigt werden. Graw (S. 616):

Für die Untersuchung von Verhaltensmerkmalen wird die Zwillingsforschung auch künftig nicht ohne Bedeutung sein. Der Vergleich bei monozygoten Zwillingen kann uns Aufschluss darüber verschaffen, ob die Ausprägung eines Merkmals stark von der Umwelt beeinflusst oder weitgehend genetisch festgelegt ist. Man untersucht hier monozygote und dizygote Zwillinge und stellt den Prozentsatz an übereinstimmender (Konkordanz) und abweichender Ausprägung (Diskordanz) fest.

Und so haben inzwischen Dutzende Zwillingsstudien auch das Merkmal Religiosität erfasst – und übereinstimmend Belege für die genetische Veranlagung auch dieses Merkmals gefunden.

 

Fazit 

Mindestens seit einigen Jahrzehntausenden ist religiöses Verhalten (gegenüber überempirischen Akteuren wie Ahnen, Geistern und später Göttern) bei unseren Vorfahren – Homo sapiens und Homo neanderthalensis – belegt. Und fasziniert erforsche ich im Rahmen der internationalen und interdisziplinären Evolutionsforschung an heutigen Homo sapiens zusammen auch mit Biologen, ob und wie dieser Evolutionsprozess weiter geht und sich Religiosität auf den Fortpflanzungserfolg und damit die Evolutionäre Fitness auswirkt. – Lesen Sie sich ein und entdecken Sie mit!

Gott, Gene und Gehirn (GGG) von Rüdiger Vaas & Michael Blume

Und wer findet, dass Wissenschaft auch Spaß machen darf: Anbei ein Video der Biologen der Universität Tübingen zum modernen Verständnis der Evolutionären Fitness: Darwin rocks! – Überlieben.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

51 Kommentare

  1. Religiosität und Religion

    Ein toller Blogpost, der noch mal einiges klarstellt!
    Ich hab lediglich eine Spitzfindigkeit zu bemängeln: Das Beispiel der Shaker zeigt ja, dass Religiosität an sich die evolutionäre Fitness nicht immer erhöht, sondern eben auch drastisch verringern kann. Müsste man dann nicht auch eigentlich sagen, dass es die Religionen, nicht die Religiosität, sind (und dann auch nur bestimmte von diesen, also die Shaker eben nicht), die die evolutionäre Fitness erhöhen?

  2. @Sebastian Voß: Spitzfindig 🙂

    Danke und der Kommentar war im guten Sinne spitzfindig, also gut beobachtet! Kulturfähigkeiten eröffnen grundsätzlich nur (ggf. adaptive) Potentiale, die dann durch Kulturprodukte ausgefüllt werden können und müssen.

    So hat sich schon manche(r) durch falsche Nahrungszubereitung vergiftet oder um Kopf und Kragen geredet – insgesamt aber haben sich Kochen – mit nahrhaften Gerichten – und Sprache – mit gelingender Kommunikation – als adaptiv erwiesen. Für Religiosität und religiöse Traditionen gilt das Gleiche, wie oben geschrieben:

    Einerseits basieren alle kulturellen Fähigkeiten des Menschen auf biologischen Grundlagen, andererseits wirken die daraus entstehenden Kulturprodukte wieder auf den Reproduktionserfolg zurück.

  3. Wohin?

    Eine gelungene Zusammenfassung, Dr. Blume! Wenn ich es richtig verstanden habe bedeuten die Erkenntnisse doch auch, dass SOWOHL die genetische WIE AUCH die kulturelle Evolution von Religion weiter stattfindet! Können Sie schon sagen, wohin?

  4. @Michael Blume

    Fitness ist ein Maß für den relativen Fortpflanzungserfolg eines bestimmten Genotyps in einer bestimmten Umwelt.
    Was bedeutet das, impliziert das Wort Fitness die Adaptionsfähigkeit? Oder erklärt es nur ein körperliches und geistiges Wohlbefinden und den daraus resultierenden Erfolg?
    Warum legt die Forschung so viel Wert auf den Begriff Fitness, ist es Zufall gewesen?
    Da ich das berühmte Darwin Zitat als: “der Anpassungsfähigste überlebt” verstehe und auch nur so, als richtig deute.
    Der Reproduktionsvorteil lässt sich dann darauf zurückführen, dass religiöse Menschen untereinander besser kooperieren und somit ist der Wille zu einer Fortpflanzung geschaffen. Säkulare Menschen hingegen leben in kleineren Gruppen und vertrauen sich weniger blind, was bei der Arterhaltung kontraproduktiv ist.
    Aber…. so sehe ich es, sind säkulare Bewegungen genauso wichtig, wie adaptive Lebensweisen, weil sie kreativ zu neuen Möglichkeiten führen.

  5. die liebe Kultur

    „Einerseits basieren alle kulturellen Fähigkeiten des Menschen auf biologischen Grundlagen, andererseits wirken die daraus entstehenden Kulturprodukte wieder auf den Reproduktionserfolg zurück.“

    Dies bedeutet, dass sich Menschen auch ihre Religionen so erschaffen, dass sie einerseits damit ihren reproduktiven und wirtschaftlichen Erfolg rechtfertigen und weiter ausbauen können. Religionen übernehmen damit den Rang von Argumentationsebenen mit dem Argument „Es ist Gottes Wille“, wenn ich Dir etwas wegnehme und dadurch mehr Erfolg habe.
    Evolution und Selektion finden beim Menschen auf der Individualebene statt.

  6. @ Michael Blume

    “…die durchschnittlich höhere Kinderzahl religiös vergemeinschafteter Menschen…” Natürlich gibt es dafür Beispiele – aber auch Gegenbeispiele. Als in Deutschland vor 100 Jahren… die Frauen über 10 Kinder bekamen – war das religiös bedingt? – oder weil Deutschland die Arbeitskräfte brauchte?
    Wenn eine Krankenschwester im Fernsehen der BRD auch nach dem 10. Kind noch sagte, dass ihre Kinder kommen wie es Gott will – war das eindeutig.
    In der DDR gab es deutlich mehr Kinder als in der BRD pro Paar – was sich nach der Wende mehr als umkehrte und als Wendeknick in die Geschichte der BRD einging. So wenig Kinder wie heute hat es im christlichen Deutschland noch nicht gegeben.

    In Afrika haben die Frauen viele Kinder, davon sterben wegen Unterernährung einige… Die vielen überlebenden Kinder sind eigentlich ihre Altersversicherung. Wären die sozialen Verhältnisse sicher – sehe das auch anders aus.
    Ein Fernsehbeitrag über Koranschulen – da wurde den Mädchen erläutert, dass viele Geburten gebraucht werden, um Mädchen und Märtyrer zu haben.
    Obwohl in Indien die Zahl der Geburten deutlich gesunken ist, steigt durch höheres Lebensalter die Zahl der Bevölkerung weiter.

    Ein starkes Bevölkerungswachstum liegt nicht im Interesse der Umwelt, aber auch nicht im Interesse sozial abgesicherte Menschen, wie u. a. Afrika zeigt. Neben den Menschen brauchen auch die Wälder, Felder und die Tiere ihren Platz auf dieser Welt! Die Meere sind jetzt schon überfischt.
    Es müsste also auch im Interesse der Religionen liegen, dass das Bevölkerungswachstum stagniert.

  7. @Kasslerin

    Ja, die (bio-kulturelle) Evolution des Menschen geht auf jeden Fall weiter. Ich würde sogar annehmen, dass sich Religiosität heute stärker auswirkt als früher – so viel Freiheit zur Vergemeinschaftung (oder nicht) sowie zur Familiengründung (oder eben nicht) hatten unsere Vorfahren wohl selten bis nie.

    Zukunftsprognosen sind immer schwer, da sich Evolutionsforschung ja immer nur auf die Vergangenheit bezieht – und sich auch immer wieder überraschende Pfadänderungen ergeben haben. Aber eine Tendenz, die sich z.B. abzeichnet, ist der stärkere Erfolg von eher dezentral-föderalen Traditionen (wie den Amish, den Pfingstkirchen oder dem sunnitischen Islam), wogegen stärker zentralistische Traditionen (wie die römisch-katholische Kirche, die Mormonen oder die Zeugen Jehovas) stärkere Schwierigkeiten zu haben scheinen, sich durch die Ausbildung von neuen Varianten auf schnelle Veränderungen einzustellen.

  8. @Tim

    Gerne gehe ich auf Deine Fragen ein.

    Der Begriff “Survival of the Fittest” geht auf den Darwin-Zeitgenossen Herbert Spencer zurück und wurde dann von Charles Darwin auch übernommen. Allerdings führte und führt er zu Mißverständnissen – so hilft ja aus evolutionärer Sicht ein reines “Überleben” nichts, wenn keine direkten oder verwandten Nachkommen daraus entstehen. Ebenso wurde häufig angenommen, dass mit “fit” so etwas wie “Stärke” gemeint sei – aber ein mörderischer Drogenboss kann evolutionär gesehen viel weniger “fit” sein als ein braver Kleinbauer und Familienvater. Fitness beschreibt den Evolutionsprozess in der Entwicklung – welche Wesen also zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort ihre Gene wie erfolgreich weitergeben. Nicht weniger, und auch nicht mehr.

    Der Reproduktionsvorteil lässt sich dann darauf zurückführen, dass religiöse Menschen untereinander besser kooperieren und somit ist der Wille zu einer Fortpflanzung geschaffen.

    Einverstanden, bis auf das “somit”. Hohe Kooperation führt nicht immer zu höherer Reproduktion, wie das o.g. und verlinkte Beispiel der Shaker belegt. Auch gibt es sogar individuell wirksame Faktoren, z.B. die Glaubensauffassung, dass Gott Kinder als Segen betrachtet. Selbst wenn man das nur privat glaubt, so kann dies doch die eigenen Lebensentscheidungen beeinflussen.

    Man könnte es also so schreiben: “Der Reproduktionsvorteil lässt sich auch darauf zurück führen, dass religiöse Menschen untereinander besser kooperieren und dies auch in höhere Kinderzahlen umsetzen können.”

    Aber…. so sehe ich es, sind säkulare Bewegungen genauso wichtig, wie adaptive Lebensweisen, weil sie kreativ zu neuen Möglichkeiten führen.

    Das sehe ich auch so. Vielfalt ist das evolutionäre Erfolgsrezept per se und daher hat sich m.E. auch Religiosität (wie Musikalität, Intelligenz, Sprachbegabung usw.) vielfältig ausgeprägt. Interessant ist dabei ein ziemlich stabiler (aber auch nur durchschnittlicher!) Geschlechterunterschied, der zuletzt auch hier Thema war:
    https://scilogs.spektrum.de/…antitheistischen-machismo

  9. @Andreas

    Du machst m.E. noch den Fehler, (bio-)kulturelle Evolution als Nullsummenspiel zu sehen – dann wäre der Gewinn des Einen der Verlust des Anderen.

    Wir sprechen hier aber von einem auch kooperativen Geschehen und religiöse Überzeugungen sind ein Weg, kooperative Potentiale zu erschließen und damit mehreren oder gar (fast) allen Beteiligten evolutionäre Vorteile zu erschließen.

    Schau Dir z.B. eine Old Order Amish-Siedlung an: Dort gibt es kleine Gemeinden und keine bezahlte Priesterklasse, sondern ein hohes Maß an Sozialkontrolle und Kooperation sowie ein über Generationen reichender Kinderreichtum. Das muss uns beiden nicht gefallen, aber wenn wir Wissenschaftler sind, sollten wir die Daten akzeptieren, wie sie sind.

    Und wenn Du das Ganze auch experimentell belegt haben möchtest, findest Du hier z.B. einen Artikel dazu aus der Science:
    http://www2.psych.ubc.ca/…mp;Shariff_Science.pdf

    Insofern kann Kultur tatsächlich “lieb” sein… 😉

  10. Immer noch skeptisch 🙂

    Einverstanden, bis auf das “somit”. Hohe Kooperation führt nicht immer zu höherer Reproduktion, wie das o.g. und verlinkte Beispiel der Shaker belegt. Auch gibt es sogar individuell wirksame Faktoren, z.B. die Glaubensauffassung, dass Gott Kinder als Segen betrachtet. Selbst wenn man das nur privat glaubt, so kann dies doch die eigenen Lebensentscheidungen beeinflussen.
    Und im Islam heisst es doch so ungefähr:
    “Traue Gott und habe viele Kinder, denn dieser wird sich im Leben darum kümmern”
    ist wahrscheinlich keine genaue Übersetzung, aber gibt den Inhalt gut wieder.
    Aber die Menschen tun das nur, weil sie sich in ihrem Umfeld wohl fühlen und dem Inhalt dieser Botschaft trauen können. Da es ihnen empirisch genützt hat und von Generation zur Generation weiter gegeben wird, somit wären wir wieder beim kooperativen Verhalten.

    Darf ich im eigenen Interesse ein paar Links an dieser Stelle posten?
    Ich habe viel zu oft gelesen, dass die Frau in den Religionen eine untergeordnete Rolle spielen würde, in den vielen Brights Blogs usw.
    In Polen hingegen, siehe Film, herrscht eine andere Haltung, ein kleiner kultureller Ausflug flott und interessant dargestellt von Steffen Möller (ehemaliger Wuppertaler).

    Liebe Grüße.

  11. Näherkommen

    Nein, ich sehe das nicht als Nullsummenspiel. Es gibt in der Evolution definitiv Gewinner und Verlierer und die Gewinner machen das Rennen.

    Die Frage lautet für mich: Wie benutzen Menschen die Religion? Auch innerhalb einer Gemeinde gibt es Gewinner und Verlierer. Ein Bischof verdient mehr als seine Putzfrau. Und eine Mutter, die zwei Ammen anstellt, nimmt wissentlich in Kauf, dass die Ammen ihre eigenen Kinder nicht ausreichend mit Milch versorgen können. Vorteile in der Evolution gehen immer auf Kosten anderer. Auch bei den Amisch erbt nur einer den Hof. Die anderen wandern aus oder bleiben Außen vor. Auch hier ist der Vorteil des einen der Nachteil eines anderen. Man muss nur das Gesamtsystem im Auge behalten und berücksichtigen, dass Evolution fast ausschließlich auf der Individualebene stattfindet (nicht in Gruppen).

    Unter dem Strich überwiegen die Vorteile und einige vermehren sich stärker. Also kein Nullsummenspiel, sonst würde die Evolution nicht voranschreiten. Aber es sind biologische Egoisten, die sich die Vorteile verschaffen. Einerseits, in dem sie sich eine Gruppe um sich versammeln und erhalten, die nach ihren Spielregeln tanzt. Andererseits, in dem sie diese manipulieren und zu ihren Gunsten ausnutzen, z.B. als Arbeitskräfte. (Dies ist im Tierreich nicht anders. Alle sozialen Tiere nutzen die Gruppe für sich, je nach Bedarf).

    Auch Kooperation ist im Tierreich weit verbreitet. Die gibt es auch ohne Religion. Aber wozu braucht der biologische Egoist religiös begründete Kooperation? Meiner Meinung nach, um seine Vorteile religiös begründet gegenüber seinen Gruppenmitgliedern zu argumentieren. „Gottes Wille“ wird zu einem Argument, hinter dem sich ganz biologische Egoismen verstecken. Religion wird von Menschen ersonnen und als Argumentationsebene benutzt. Und wer sie besser nutzt und gegen andere einsetzt, der kann sich auch besser fortpflanzen. Daher evolvieren auch die Glaubensinhalte und die Argumente. Dies ist das Feedback der Kultur auf die Gene.

    Und jetzt erst einmal herzlichen Glückwunsch zu diesem Blog, mit dem Du Deinem Wunschthema so nahe gekommen bist sowie ein Willkommen in der Biosoziologie bzw. Soziobiologie.

  12. Selektion und Friedenskirchen

    @Klaus Deistung
    “Ein starkes Bevölkerungswachstum liegt nicht im Interesse der Umwelt, aber auch nicht im Interesse sozial abgesicherte Menschen, wie u. a. Afrika zeigt. Neben den Menschen brauchen auch die Wälder, Felder und die Tiere ihren Platz auf dieser Welt! Die Meere sind jetzt schon überfischt.”

    Sie begehen gleich 2 Fehler:
    1. Sie argumentieren auf einer Normativen Ebene (“Wir sollten die Umwelt schonen…”; “Wir sollten anderen Lebewesen ihren Lebensraum lassen” usf.). Das mögen alles noble und wünschenswerte Zielvorstellungen sein, aber haj, das spielt für die Evolution absolut keine Rolle. Die bewertet nicht normativ, sondern entscheidet nur, welche vererbbaren Eigenschaften die Natürliche Selektion langfristig überleben und welche nicht, bzw. welche sich zahlreicher vermehren. Und bisher hat die schonungslose Ausbeutung der Natur die Gattung “Mensch” zur vorherrschenden Art dieses Planeten gemacht…
    2. Sie unterstellen “der Umwelt” irgendein Interesse, was eine nur schwer haltbare Behauptung ist und implizieren dabei, dass wir diesem Interesse der Natur nachkommen sollen. Es ist aber fraglich, warum wir uns um die Interessen der Natur kümmern sollte, selbst wenn sie welche hätte (was ich für eine Begriffsverwirrung halte!), schließlich scheint die Natur im Allgemeinen sehr lebensfeindlich zu sein (bisher kein Leben außerhalb des Planeten festgestellt und der Weltraum bietet für Leben auch keine idealen Bedingungen) und es stellt sich so die Frage, ob sie nicht “bösartig” ist.
    Wenn Sie dagegen mir ihrem Einwand nur meinen, dass sich das Ausbeuten der Natur mittelfristig auch negativ auf uns Menschen auswirkt, so haben Sie völlig recht. Diese Rückkopplung zwischen den Erfolg eines Lebewesens und der Zerstörung der Voraussetzungen desselben dürfte wohl einer der interessantesten biologischen Phänomene sein.

    @Michael Blume
    Was sagen Sie in diesem Zusammenhang zu den Quäkern, Mennoniten oder Aleviten? Also religiöse Strömungen, die das individuelle Empfinden der Gläubigen über die “toten Buchstaben” der jeweiligen “heiligen Bücher” stellen?

    Ist es nicht so, dass diese Form der Religion wesentlich flexibler und anpassungsfähiger sein müsste als die Buchreligionen? Warum sind es aber immer nur Minderheiten, die sie vertreten?

  13. @Andreas Cricetus

    Nun, in der Akzeptanz der Fakten nähern wir uns wohl tatsächlich langsam an, aber ich halte die Egoismus-Lesart der Evolution doch für ideologisch und zirkulär. Selbstverständlich kann man z.B. “interpretieren”, dass eine Mutter ihr Kind “nur deswegen” liebt, weil so ihre Gene weiter gegeben würden. Oder dass Wissenschaftler Wissenschaft “nur aus Egoismus” betreiben etc. Nach dem Motto: Wenn es erfolgreich war, muss es egoistisch gewesen sein.

    Ich sehe in dieser ideologischen Vorwertung allen evolutionären Geschehens nur keinerlei Erkenntnisgewinn. Wenn hier in meinem Ort Dutzende Jugendliche zwei Wochen ihrer Ferien opfern, um ehrenamtlich eine tolle, evangelische Dorffreizeit für die Zweit- bis Siebtklässler zu organisieren, so ist dies zumindest partiell altruistisch motiviert und kommt den Menschen und besonders Familien zugute. Und die Kleineren tragen stolz die Dorffreizeit-T-Shirts und sprechen schon selber davon, später auch einmal Helferinnen und Helfer sein zu dürfen.

    Aber vielleicht kannst Du ja auch einfach erklären, warum Du Biologie studiert hast und Religionskritik (sowie Interviews bei Heise) betreibst? Auch alles nur aus Egoismus? 😉

  14. @LastTrueNazoräer

    Sie fragten: Was sagen Sie in diesem Zusammenhang zu den Quäkern, Mennoniten oder Aleviten? Also religiöse Strömungen, die das individuelle Empfinden der Gläubigen über die “toten Buchstaben” der jeweiligen “heiligen Bücher” stellen?

    Ist es nicht so, dass diese Form der Religion wesentlich flexibler und anpassungsfähiger sein müsste als die Buchreligionen? Warum sind es aber immer nur Minderheiten, die sie vertreten?

    Ein Hinweis vorab: Die Mennoniten haben ebenfalls orthodoxe “Old Order”-Traditionen hervor gebracht, die vergleichsweise kinderreich wachsen wie die Old Order Amish. Sehr lesenswert zu diesen Traditionen: “On the Backroad to Heaven” von Kraybill & Bowman.

    Ebenso waren die Aleviten ursprünglich in Dörfern organisiert und keinesfalls so individualistisch, wie das heute in v.a. städtischen Diaspora-Kontexten erscheinen mag. Da gibt es auch innerhalb der Aleviten heftige Debatten drüber und durchaus Flügel, die (wieder) eine höhere Verbindlichkeit erreichen wollen.
    https://scilogs.spektrum.de/…-alevismus-in-deutschland

    Ich denke, dass religiöse Traditionen mit der Betonung individueller Lesarten und Erfahrungen dann eben tatsächlich auch individualistischer sind – und damit u.U. weniger Betreuungs- und Bildungsinstitutionen errichten, weniger Kooperations- und Reproduktionserfolg befördern sowie gerade auch bei Veränderungen z.B. in der Mitgliederstruktur leichter zerfallen als Wettbewerber mit höherer Verbindlichkeit. Von von Hayek stammt dazu die griffige Formulierung, erfolgreiche, religiöse Traditionen müssten immer wieder (d.h. auch je nach Umweltbedingungen) die richtige Mischung aus “Flexibilität und Rigidität” finden. Das scheint m.E. zuzutreffen.

  15. @A.C.: Individualselektion?

    Sehr geehrter Herr A.C. – Sie schreiben beim Menschen fände Evolution und Selektion auf der Individualebene statt. Das scheint mir falsch. Denn 1. Warum nur beim Menschen?

    Und 2. wenn ich für meine Schwester babysitte oder hoffentlich selbst einmal Kinder habe, so sind dies doch andere Individuen. Wenn ich nur an mich denken wollte, würde ich doch gerade KEINE kostspieligen Kinder haben wollen!!! Und wenn Sie mir jetzt sagen wollen, dass meine Nichte oder meine Kinder doch mit mir verwandt seien, dann argumentieren Sie doch gen-selektionistisch…

  16. Oh je

    Obwohl es ein bisschen irrational ist, da unsere eher säkulare Gesellschaft ja auch aus einer religiösen hervorgegangen ist – so bereitet mir Religion und ihr evolutionärer Geburtenvorteil doch nicht wenig Unbehagen. Man schlage z.B. mal nach
    3. Mose 20,13
    4. Mose 31,17-18
    Mt 5, 17-18, 22

    Das Schlimme daran ist die unreflektierte Moral, die manche meiner die Bibel wörtlich auslegenden Diskussionspartner aus der evangelikalen Richtung (Baden-Württemberg) schon – zum Glück wohl eher dem Lippenbekenntnis nach – vertraten:
    Wizzy: “[…] Es ist also moralisch, für eine rein verbale Beleidigung mit dem Feuer der Hölle zu bestrafen?” – Antwort war, dass alles(!) moralisch sei, wenn es ‘von Gott’ käme. Im weiteren Diskussionsverlauf wurde mir zudem klar, dass mein Gegenüber Gott per definitionem als ‘gütig’ sah. Selbst wenn er die gesamte Menschheit (Sintflut) auslöscht oder das Steinigen von Menschen befiehlt. Man frage mich nicht wie das mit manchen von Jesu Geboten überhaupt kongruent zu bringen ist, das habe ich leider nicht gefragt.
    Wizzy: “Wenn Sie also von Gott persönlich dazu aufgerufen wurden, wie im Alten Testament Angehörige anderen Glaubens zu erschlagen, …”
    “Selbstverständlich folge ich dem Willen des Herrn!”
    Wizzy: “Wie könnte man denn den Willen Gottes überhaupt von einer geistigen Krankheit unterscheiden? Ich wäre doch mit dem Erschlagen vorsichtig.”
    “Wenn wirklich der Herr zu mir spräche, dann wüsste ich, dass er es ist.”
    – Chat aus dem Gedächtnis und ca. 3 Jahre her. Das Internet senkt ja die Hemmschwelle für die Äußerung radikaler Ansichten, so dass ich eigentlich nicht beunruhigt sein bräuchte. Aber ich kenne und diskutierte auch persönlich mit Evangelikalen, die sich auf ähnlichen weltanschaulichen Positionen bewegen (Explizit, dass jegliche Gräueltat durch Gott rechtfertigt sein kann – also keine absolute Moralposition wie ‘Menschen zu foltern ist immer schlecht’ – der Herr quäle ja selbst durch die Holle).

    Nun, das ist sicher eine extreme, gruselige Ansicht, folgt aber meiner Ansicht nach konsequent aus dem ernsthaften Verstehen der Bibel als wörtliche Quelle der göttlichen Offenbarung, falls dies unter Geringschätzung jeglicher historisch-kritischer Quellen unternommen wird.

    Und im Koran sieht es in Bezug auf den Wortlaut auch nicht gerade besser aus!

  17. @ LastTrueNazoräer

    zu 1. Das kann ich nicht so sehen. 1 Mo 1,28 „Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.“ Wenn wir herrschen sollen, dann bestimmen wir auch, wie es zu laufen hat!
    Auch ohne „schonungslose Ausbeutung der Natur (würde Dg) die Gattung “Mensch” zur vorherrschenden Art dieses Planeten.“ Nur der Maximalgewinn und die Ausbeutung wären geringer. Aber das ist nicht das Gesetz des Kapitalismus.
    Zu 2. Wir sind die Beherrscher der Natur und haben dafür zu sorgen, dass sie auch mit immer mehr Menschen funktionieren kann. Bei Vukanen, Erd- und Seebeben mit Tsunamis… sind wir allerdings noch recht hilflos. Wir können solche Gebiete weitgehend meiden oder Schutzmauern errichten.
    Wenn Sie der Meinung sind „(bisher kein Leben außerhalb des Planeten festgestellt…)“ dann konnte das Prof. S. N. Kramer schon 1956 in „History Begins at Sumer“ in Auswertung der über 70.000 sumerischen Keilschrifttafeln ganz anderes feststellen, Auszug unter https://scilogs.spektrum.de/…10-05-18/lilith-und-lolth
    Klaus Deistung @ Michael Blume @ Michael Khan vom 04.06.2010, 01:09.

    In Ihrem letzten Absatz sind wir ja einer Meinung.

  18. @ Michael Blume @ Wizzy

    Eine sprunghafte Wendezeit scheint sich auch anzubahnen, wenn es um die religiöse Evolution der Papstmeinung geht, wie sie hier zitiert wird: Wer zur Hölle will schon in den Himmel? In Verbindung mit der Nahtodesforschung ergibt sich eine neue Sicht, wie ich herausgefunden habe: http://www.science-shop.de/artikel/1042087 .

  19. @Wizzy

    Zustimmung – dass etwas evolutionär erfolgreich ist, bedeutet noch lange nicht, dass wir es als gut, richtig oder wahr befinden müssen. Die Evolutionsforschung kann uns aber helfen zu verstehen, warum bestimmte Traditionen erfolgreicher sind als andere, welche Bedürfnisse angesprochen werden etc.

    Ganz ähnliche Sorgen macht sich z.B. auch der (bekennend säkulare) Politikwissenschaftler Eric Kaufmann:
    https://scilogs.spektrum.de/…e-earth-von-eric-kaufmann

    Wobei ich anmerken würde, dass moralischer Absolutismus keineswegs nur in Religionen auftritt, sondern auch z.B. in nationalistischen, sozialistischen oder humanistischen Gewändern. Am Samstag haben sich z.B. gebildete Säkulare bei der damaligen DDR-Führung für den Mauerbau “bedankt”!
    http://www.welt.de/…gt-Danke-fuer-die-Mauer.html

    Wenn diese Menschenverachtung auch von Links und in humanistischen Gewand daher kommt, so bedeutet dies selbstverständlich nicht, dass jeder linke Demokrat, Humanist und z.B. Sozialdemokrat damit zu identifizieren wäre! Und ebenso sollten m.E. nicht evangelikale Fundamentalisten als “die” Vertreter “des Christentums” oder extremistische Muslime als Sprecher “des Islams” ausgegeben werden.

    Demokratie und Menschenrechte scheinen m.E. auf Basis fairer Differenzierung und der immer neuen Verständigung der Dialogbereiten zu funktionieren. Dagegen werden in einer pluralen Gesellschaften zwar immer wieder Extremisten anrennen, aber kaum Mehrheiten erringen.

  20. @Michael Blume

    Ja, schön wäre es, wenn die Fundamentalisten eine Minderheit blieben. Wobei ich mich durchaus frage, ob das Heilige Buch daran nicht einen gewissen Anteil hat – immerhin findet man darin auch wahrlich starken Tobak.

    Außerdem stelle ich die These auf, dass fundamentalistische Subgruppen eine höhere Reproduktionsrate ihrer Mitglieder aufweisen als gemäßigte Strömungen einer Religion. Allerdings verlieren diese Gruppen auch Nachwuchs an die gemäßigte Seite – durch Annahme von Ideen und Anschauungen aus der Mehrheitsgesellschaft insbesondere in der Jugendzeit eines Mitglieds -, gegebenenfalls sogar mehr als sie hervorbringen, so dass die Bilanz nicht einfach zu ziehen ist.

    Einzig denke ich, dass eine größere Krise der westlichen Gesellschaften dem Extremismus – religiöser und auch anderer Sorte – Vorschub leisten könnte.
    In den Staaten ist das vielleicht mit der Tea-Party-Bewegung bereits im Gange, wobei – so meine ich – es vom weiteren Verlauf der dortigen Krisenbewältigung abhängt ob die Tea Party weiter an Fahrt gewinnt.

    Grüße, Wizzy

  21. @Wizzy

    Ja, da bin ich sehr weitgehend Ihrer Meinung.

    Außerdem stelle ich die These auf, dass fundamentalistische Subgruppen eine höhere Reproduktionsrate ihrer Mitglieder aufweisen als gemäßigte Strömungen einer Religion.

    So ist es, deutlich zu sehen beispielsweise an den Geburtenraten in den USA. Deshalb stirbt dort auch der Kreationismus nicht aus – diese haben einfach so viele Kinder (was eine informative Ironie ist…)
    https://scilogs.spektrum.de/…ionen-reproduktionserfolg

    Allerdings verlieren diese Gruppen auch Nachwuchs an die gemäßigte Seite – durch Annahme von Ideen und Anschauungen aus der Mehrheitsgesellschaft insbesondere in der Jugendzeit eines Mitglieds -, gegebenenfalls sogar mehr als sie hervorbringen, so dass die Bilanz nicht einfach zu ziehen ist.

    Wobei verbindlichere Gemeinschaften eher mehr Mitglieder behalten als liberalere. Selbst bei den Amish ist die Bleiberate bei den strengen Old Order Amish deutlich höher als bei liberaleren Varianten. Allerdings sind fundamentalistische Varianten eben auch sehr rigide und normalerweise nur auf enge Nischen ausgelegt. Spätestens, wenn die Gemeinschaften darüber hinaus wachsen, verändert dies auch die Gemeinden wieder. So waren die Methodisten früher eine sehr fromme und starre Gruppe innerhalb des evangelischen Spektrums, heute haben viele methodistische Gemeinschaften Pfarrerinnen und Bischöfinnen.

    Einzig denke ich, dass eine größere Krise der westlichen Gesellschaften dem Extremismus – religiöser und auch anderer Sorte – Vorschub leisten könnte.
    In den Staaten ist das vielleicht mit der Tea-Party-Bewegung bereits im Gange, wobei – so meine ich – es vom weiteren Verlauf der dortigen Krisenbewältigung abhängt ob die Tea Party weiter an Fahrt gewinnt.

    Wieder Zustimmung. Deswegen würde ich mir wünschen, dass sich mehr Leute wissenschaftlich und neugierig mit Licht & Schatten religiöser Traditionen befassen, statt nur entweder alles zu verdammen oder alles zu feiern. Denn wie auch immer sich unsere Gesellschaft ändern wird – ob und wie konstruktiv es zwischen Religion(en), Gesellschaft(en) und Wissenschaft(en) in Zukunft zugeht, liegt m.E. auch an uns.

  22. @Michael Blume

    Ich fände es schade, wenn mein Einwand untergänge, da ich schon glaube, dass es stimmt. Denn durch Ausgrenzungen und “Lästereien” bestätigen sich Gruppen und funktionieren kooperativer. Die Aussage seid fruchtbar und mehret euch, funktioniert nur, wenn die Gruppe untereinader ein starkes Vertrauen hegt. Ich habe dieses Verhalten bei vielen Frauen erlebt, dass diese einen kooperativen Weg durch Diskriminierung suchen. Es ist primitv und mir wird auch übel davon, aber es hat immer noch Bestand und vor allem Wirkung!

  23. @ Michael Blume

    „Deswegen würde ich mir wünschen, dass sich mehr Leute wissenschaftlich und neugierig mit Licht & Schatten religiöser Traditionen befassen…“
    Nun frage ich mich, wann beginnen religiöse Traditionen? Die jüdische Religion – und damit auch unser AT gehen von 3760 v. Chr. aus – und strengläubige Juden zählen unsere Jahre dazu und haben jetzt das Jahr 5971 http://de.wikipedia.org/…J%C3%BCdischer_Kalender .
    In diese Zeit fallen auch die Hochkulturen von Sumer, Ägypten, Griechenland… mit ihren vielen Göttern. Ich war neugierig und fand konkrete Hinweise bei Prof. Kramer, worum es so viele Götter – empirisch fassbare Entitäten – waren.
    Auch das Enuma Elisch – Texte aus der Umwelt des Alten Testaments (TUAT) – ist voll davon. Die Tradition der Eingott-Religionen beginnt also schon mit der Thora. Um vor Jesus setzten sich dann die Eingott-Religionen durch…

  24. @Tim

    Ja, da sehe ich keinen grundlegenden Dissens, deswegen habe ich es auch so stehen lassen: Religiöse Überzeugungen ermöglichen kooperativ (und damit ggf. auch reproduktiv) erfolgreiche Gemeinschaften, wobei der Zusammenhalt nach innen mit einer Aus- und Abgrenzung nach außen einher geht.

    Diese Mechanismen sind zum Beispiel hier beschrieben:
    http://www.blume-religionswissenschaft.de/…n.pdf

    Oder auch, am Beispiel der Amish, hier:
    http://www.blume-religionswissenschaft.de/…y.pdf

    Beste Grüße!

  25. @Tim

    “Denn durch Ausgrenzungen und “Lästereien” bestätigen sich Gruppen und funktionieren kooperativer. Die Aussage seid fruchtbar und mehret euch, funktioniert nur, wenn die Gruppe untereinader ein starkes Vertrauen hegt. Ich habe dieses Verhalten bei vielen Frauen erlebt, dass diese einen kooperativen Weg durch Diskriminierung suchen. Es ist primitv und mir wird auch übel davon, aber es hat immer noch Bestand und vor allem Wirkung!”

    So ist das nun mal, eine Gruppe, die alle umfasst, ist keine Gruppe, denn es gibt niemanden mehr, der nicht unter sie fällt. Und je größer die Gruppe, umso mehr böswillige Individuen enthält sie.
    Ob man sich jetzt als Sozialdemokrat gegen die Tea-Pary, als Wissenschaftler gegenüber den Laien oder als (angeblich) nicht diskriminierender Mann gegen die bösen, diskriminierenden Frauen abgrenzt (;-)), es läuft im Grunde darauf hinaus, dass man bestimmte Verhaltensweise radikal ablehnt.

    Oft genug werden auch Gruppen diskriminiert, die aus ethischen Gründen eine bestimmte, “abnorme” Verhaltensweise präferieren. Vegetarier oder Veganer zum Beispiel oder Pazifisten.

    Jetzt stellt sich mir, @Blume, die Frage, was zuerst da ist. Wurde z. B. das Schweinefleischverbot erlassen, ums ich abzugrenzen oder lehnte man das Schweinefleisch ab und wurde dann ausgegrenzt?

  26. @ Michael Blume

    Hier eine „Rückinformation“ zum Bloganfang „…durchschnittlich höhere Kinderzahl religiös vergemeinschafteter Menschen…“ – In der Ostsee Zeitung – Das OZ Wahl-Mobil on Tour! – stellt heute (16.08.11 S.5) eine Wählerin den Politikern die Frage: „Liebe Politiker, für junge Menschen sind eigene Kinder Luxus. Was tun Sie, damit wieder mehr Familien mehr Kinder bekommen?“
    Damit wäre Deutschland im Umkehrschluss keine Gemeinschaft „…religiös vergemeinschafteter Menschen…“ Und nun können wir meinen Kommentar vom 14.08.2011, 18:39 vergleichen.

  27. @Zyniker: Gruppen & Gebote

    Gut beobachtet, danke! Wobei ich – ich denke, da stimmen wir überein – anmerken würde, dass diese In-Out-Group-Prozesse auch bei nichtreligiösen Gruppen greifen. Man denke z.B. an die “Brights”, die mit dieser Selbstbezeichnung als Helle, Schlaue, Erleuchtete selbstverständlich auch eine Abwertung der Religiösen als Nicht-Brights implizieren.

    Innerhalb religiöser Gruppen kommen halt die Effekte dazu, dass a) die Kooperationsregeln als Lehren der Überempirischen (der Ahnen, der Gottheit o.ä.) überliefert und geglaubt werden und b) dass geglaubt wird, dass diese Überempirischen die Einhaltung der Regeln auch überwachen und im Dies- oder Jenseits lohnen und strafen können.

    Jetzt stellt sich mir, @Blume, die Frage, was zuerst da ist. Wurde z. B. das Schweinefleischverbot erlassen, ums ich abzugrenzen oder lehnte man das Schweinefleisch ab und wurde dann ausgegrenzt?

    Wenn sich Religionsgemeinschaften formieren, entwickeln sie normalerweise schon von sich aus Abgrenzungsmechanismen wie Kleidungs-, Speise- oder Symbolgebote, die zwischen der heiligen Gemeinde und der unerlösten Welt eine Unterscheidung ermöglicht und den Glaubenden etwas abverlangt. (Man denke hier z.B. auch an die Zeugen Jehovas, die das Symbol des Kreuzes verwarfen.)

    Aber auch Abgrenzungen von außen können aufgegriffen und dann positiv uminterpretiert werden: So waren die Bezeichnungen als Shaker & Quäker ursprünglich Spottbezeichnungen, Protestanten in Frankreich mussten ihre Kirchen lange Zeit “Tempel” nennen, Juden durften im christlich gewordenen römischen Reich bzw. islamischen Ländern nicht mehr aktiv missionieren etc. Solche Fremdzuschreibungen sind dann bisweilen auch positiv in die eigene Identit integriert und als Abgrenzung verwendet. Letztlich sind es also immer wieder auch Wechselwirkungen, so dass man sich die Geschichte je der einzelnen Gebote genauer anschauen muss. Das Schweinefleischverbot besteht z.B. bereits im Judentum, wurde im Bereich des Christentums weitgehend aufgehoben und im Islam wieder aufgegriffen. Vgl.
    https://scilogs.spektrum.de/…lime-kein-schweinefleisch

    “Und wenn Sie glauben, dieses Bedürfnis (nach Abgrenzung durch Speisegebote) hätten nur Religiöse, empfehle ich den Besuch einer Veranstaltung von Menschen, die auf Rohkost schwören, Kohlenhydrate, Weißbrot oder Industriezucker ablehnen, McDonalds als Auswuchs des aus ihrer Sicht zu zügelnden “US-Imperialismus” boykottieren, sich als Vegetarier oder Veganer organisieren u.v.m. Einander relevante Überzeugungen zu signalisieren und sich über diese mit Gleichgesinnten zu verbinden ist Teil unseres Menschseins. Und damit auch Teil unserer religiösen Traditionen.”

  28. @Michael Blume

    Entschuldige voraus für meine Fehler, da Deutsch nicht meine Muttersprache ist.
    Zu analysieren Erfolg eines weltanschaulichen Systems aus der Sicht der Geburtenrate bedeutet, gehen wirklichen Ursachen des Erfolgs aus dem Weg. Welche Religionen haben sich verbreitet durch Populationswachstum? Es passierte durch Gewalt und/oder durch die Reize dieses Systems. Auch durch essentielle Eigenschaft des Menschen, sein Wissen mitzuteilen, seine Glaube auch anderen überzeugen.
    Was sagt uns die Korrelation der Fruchtbarkeit mit Religiosität? Wie sieht die Fruchtbarkeit (und gleich Religiosität) in Vergleich mit der Bildung, Einkommen, Wohnumfeld (Stadt, Land) aus? Es gibt ein schönes Beispiel aus Medizin. Das erhöhte Cholesterin ist ein guter Indikator für ein erhöhtes Risiko des HKI und Arteriosklerose. Aber kausale Wirkung durch Studien nicht bestätigt. Es gut möglich, die beiden sind Symptome einer Wirkung.
    Auch müssten Sie erklären, was ist das Merkmal Religiosität. Ist es ein Veranlagung Dogmatiker zu sein, ist es eine Spiritualität des Menschen? Ist es nicht allgemeiner Merkmal des Menschen sich Ideale zu bilden? Ich weiß nicht was mit den Tabelle von Vance, Maes und Kendler ausgedruckt werden soll? Es sieht für mich unseriös aus. Auch nicht religiöse Menschen haben ein Drang jemanden zu idealisieren, wenn es auch ein Egoismus ist (Anspielung an Egoistischen Gen von ihnen sehr geschätzten Richard Dawkins). Ich bin selbst in einem atheistischen Land aufgewachsen. Man kann nur staunen, wie viele überzeugte leninisten, stalinisten nach dem Zusammenbruch Ihrer Ideale den Weg in der Kirche gefunden haben. Oder denke ich an kreischenden Mädchen-Fans, die ihre Musik-Idole mindestens ansehen wollen.
    Ich interessiere mich sehr für die Evolution, sowohl allgemeine als biologische. Ich denke, wir werden nie richtig Evolution verstehen, wenn wir uns die Selbständigkeit der zivilisatorischen Evolution nicht anerkennen. Auch biologische Evolution hat die Naturgesetze nicht außer Kraft gesetzt. Die Zelle nur weiß mit den e/m Ladungen, mit chemischen Reaktionen umzugehen. Auch die Zivilisation hat biologische Gesetze nicht aus dem Kraft gesetzt. Sie weiß es aber zu kanalisieren, die Schränke zu setzen um zu lenken. Die Gemeinschaft hat ein Wertsystem, ein Rechtsystem, das Einem einer ihm gefallene Frau auf der Straße „besteigen“ nicht zulässt.
    Wenn auch die Expansion einer Religion zum Teil durch Bevölkerungswachstum passiert, die Evolution einer Religion, die eine Variabilität hervorbringt, werden sie kaum durch Vermehrung erklären können. Oder glauben sie wirklich, auch hier Gene involviert sind?!

  29. @Irena Pottel

    Herzlich willkommen auf den Chronologs und vielen Dank für die guten Fragen!

    Selbstverständlich gehe ich nicht davon aus, dass Kinderreichtum der einzige Faktor für die Ausbreitung einer religiösen Tradition sei – er ist “nur” ein sehr wichtiger und in vielen Fällen entscheidender. Und er verknüpft die biologische und kulturelle Evolution von Religiosität sowie Religionen.

    Einen kostenlosen Einführungsartikel (“Homo religiosus”) in die Evolutionsforschung zu Religiosität finden Sie hier:
    http://www.gehirn-und-geist.de/artikel/982255

    Und eine ganze Auswahl von religionsdemografischen Studien, die selbstverständlich auch Faktoren wie Bildung und Einkommen erkunden hier:
    http://www.blume-religionswissenschaft.de/….html

    Einen umfassenden Überblick über das Forschungsgebiet bietet unser Buch “Gott, Gene und Gehirn”, das ich mit dem Biologen Rüdiger Vaas gemeinsam verfasste:
    https://scilogs.spektrum.de/…ce-shop.de/artikel/969531

    Und selbstverständlich haben Sie die Möglichkeit, hier auf dem Blog herum zu surfen und sich verschiedenste Beiträge anzuschauen. Danke für Ihr Interesse, gerne freue ich mich auch auf einen regen, inhaltlichen Austausch.

  30. Guter Text, gutes Video

    Aber bitte entschuldigen Sie die Ungefuld… Wann dürfen wir bei N.d.G. mit Ihrem nächsten Blogpost rechnen?

  31. @Zyniker

    Ich denke der Mensch ist noch nicht adaptiv genug, um von seinem Gruppendenken los zu kommen. Nichts desto trotz, sind wir aktiv an dieser Entwicklung beteiligt und können dies beobachten, z.B. wie wir immer toleranter, Anderen gegenüber werden, auch wenn wir Menschen, dafür schmerzhafte Erfahrungen machen müssen.

    Jetzt stellt sich mir, @Blume, die Frage, was zuerst da ist. Wurde z. B. das Schweinefleischverbot erlassen, ums ich abzugrenzen oder lehnte man das Schweinefleisch ab und wurde dann ausgegrenzt?
    In so einer Formulierung aufgestellt, wirkt für mich die Reihenfolge doch eher irrelevant, da wir beides annehmen können, es sei denn Ihnen ist nicht das menschliche Verhalten wichtig, sondern der tatsächliche geschichtliche Hintergrund von Bedeutung.
    Ich meine, durch neue Einwirkungen in die Welt des Menschens, muss der Mensch anpassungsfähig die nächste Hürde meistern. Erst wenn es sich als nützlich erweist, entsteht m.E. ein empirischer Konsens der durch Adaption weitergeben wird. Dabei ist eine kreative Intelligenz unerlässlich!
    Was ich nur spannend finde ist, dass bestimmte Motivationen einfach konstant in unserer Welt bleiben und nicht verschwinden. Stattdessen entstehen neue Vielfalten, die im Kampf ums dasein einen Platz auf dieser Erde suchen.
    Was ich persönlich unterstütze, ist ein Glaube, der kreative Möglichkeiten zulässt, dennoch kann er sich auf Erfahrung und dessen Nützlichkeit berufen. Ich denke unsere Emotionalität ist die, die uns kontrolliert. Denn alles wird im Gehirn zunächst verarbeitet und kommt als subjektives Produkt heraus, über das wir dann erst verfügen.
    Wenn wir also meinen, dass sich unsere Logik richtig anfühlt, dann ist auch hier ein evolutionärer Hintergrund für zuständig. Somit ist, wenn alles zufällig entstanden ist oder ich persönlich gehe davon aus, dass ich mit meinen menschlichen Möglichkeiten keinen verständlichen Weg erkenne, jede Meinung nur ein temporärer Zustand. Trotzdem müssen wir weiter machen um zu existieren, vielleicht um die Welt zu verbessern. 🙂

  32. Warum hat D so wenig Kinder?

    Hier gab es eine klare Antwort bei ZDF Frontal am 16.08.2011: http://frontal21.zdf.de/…/0,1872,8320615,00.html D steht in Europa ganz hinten, droht „auszusterben“. Es liegt auch am historisch gewachsenen Familienbild, das ja auch die Kirsche stützt – der Mann verdient das Geld, die Frau ist zu Hause hinter dem Herd und versorgt die Kinder. Nun haben wir schon seit vielen Jahren auch durch Studium hoch qualifizierte Frauen und Mütter. Wenn die 6-12-jährigen Kinder ganztägig betreut würden, könnten 470.000 Mütter arbeiten. In den alten Bu-Länden sind es real nur 28% aber in den neuen Bu-Ländern 73% Kinder, die ganztags betreut werden. Besonders schlimm ist das Problem bei alleinerziehenden Frauen. Der Betreuungs-Notstand entstand nicht überraschend.
    Der BGH fordert, dass Frauen wieder arbeiten sollen, wenn die Kinder 3 Jahre alt sind – wie das aber realisiert werden soll – die noch vielen organisatorischen Schwierigkeiten zu überwinden – da schweigen sich der BGH und „frauenfeindliche“ Richter aus.

    Sich in D Kinder anschaffen – bleibt eine individuelle Herausforderung. D können wir so wegen der äußerst niedrigen Kinderzahl nicht zu einer Gruppe „religiös vergemeinschafteter Menschen“ zählen.

    Einen Tag später hieß es im ZDFzoom: „Der Preis der Liebe – Das Dilemma der Kinderbetreuung“
    http://zoom.zdf.de/…lt/31/0,1872,8249823,00.html Fazit u. a.: wenn eine hoch qualifizierte Frau arbeiten will, muss sie ihre Kinder von einer illegale Ausländerin schwarz ganztägig betreuen lassen. Da wiehert der Amtsschimmel… Theorie und Praxis sind manchmal eine weit offene Schere!

  33. @Tim

    Schweinefleisch und Religion – es gab auch Aussagen, dass das „fette“ Schweinefleisch in der warmen Gegend nicht so gut für die Menschen ist, deswegen das Verbot(?). Auch wenn heute der Islam weltweit verbreitet ist – einmal eingeführt…
    Die jüdischen Knaben werden heute schon jung beschnitten – ein Zeichen der Verbindung mit Gott – heißt es. Ich habe mal „meinen“ Urologen gefragt – wenn es nach ihm ginge, würde er aus hygienischen Gründen alle Männer beschneiden – die Frauen müssen es oft „ausbaden“. Nun mag in der wasserarmen Gegend das Problem größer sein als hier.

  34. @Michael Blume

    Nochmal einige Worte zu deiner oft zitierten Rowthorn-Studie:

    1. Ich hoffe du behälst immer im Hinterkopf, dass die Studie keinerlei Aussage über die Realität trifft, da sie von sehr vielen theoretischen Annahmen ausgeht. Rowthorn sagt es selber

    “In all of the models we consider, religious predisposition (‘religiosity’ for short) is determined by a single gene. This is unlikely to be true in practice, but without this simplification the analysis would be intractable.”

    2. Rowthorn geht in seiner Annahmen also von einem einzigen Gen aus, dass für das Merkmal der Religiosität verantwortlich sei. Wir beide hatten uns aber schon in früheren Blogposts darauf geeinigt, dass so ein komplexes Verhaltensmerkmal – wenn überhaupt – polygen sein muss, wie es für solche Traits ausschließlich der Fall ist. Es widerspricht in seiner Annahme also deinen eigenen Worten, trotzdem nimmt du es als Beweis dafür, dass Religiosität eine genetische vererbbare Komponente besitzt.

    Wie passt das zusammen?

    3. Das Paper liefert keinen einzigen tatsächlichen Beweis, dass der Religion Gene zugrunde liegen. Genetische Analysen schauen so garantiert nicht anders aus! Ich denke auch nicht, dass Rowthorn irgendwelche Kandidatengene aufdecken wollte, aber du benutzt diese Studie dazu, solch eine Aussage zu treffen

    “[…]und übereinstimmend Belege für die genetische Veranlagung auch dieses Merkmals gefunden.[…]”

    Kandidatengene deckt man nicht dadurch auf, dass man irgendwelche Vererbungsmodelle berechnet, sondern muss in diesem Fall das Exom von religiösen und nicht-religiösen Menschen sequenzieren und vergleichen. So würde man einen eindeutigen Hinweis darauf bekommen, ob es “Religionsgene” gibt oder nicht, was DER Beweis schlechthin wäre. Hat bisher aber noch keiner gemacht.

    Ich bitte dich daher wirklich: Interpretiere nichts in die Studie hinein, was sie nun wirklich nicht leistet.

  35. @Sebastian R.

    Danke für Deinen Kommentar.

    Zum Inhaltlichen: Die Rowthorn-Studie ist eine nette Rechenübung, aber selbstverständlich gehen weder Bob noch ich oder sonstwer in der Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen von “einem” Religionsgen aus. Wir haben es hier eindeutig mit einer polygenen Veranlagung zu tun – wie bei Intelligenz, Sprachfähigkeit, Musikalität usw. auch.

    In keinem dieser Fälle ist bislang die vollständige Entschlüsselung der zugrunde liegenden Gensequenzen gelungen, wenn auch manchmal Funde wie FOXP2 (Sprache) oder VMAT2 (Spiritualität) durch die Medien gingen. Als gängiger und ausreichender Beweis für eine genetische Veranlagung gelten vielmehr Zwillingsstudien – und genau solche verlinke ich oben, von Rowthorn o.ä. ist in diesem Blogpost bewusst gar keine Rede.

    Wir können uns m.E. entscheiden, ob wir die vorliegenden Befunde aus Genstudien, Zwillingsstudien, Hirnforschung und natürlich Ethologie für Intelligenz, Musikalität, Sprachfähigkeit, Religiosität usw. als ausreichend anerkennen, um von einer genetischen Grundlage dieser Merkmale zu sprechen oder nicht. Was mich aber nicht überzeugt sind Stimmen, die je nach persönlichen Vorlieben das eine oder andere Merkmal aus der Betrachtung ausgrenzen wollen. Wer nach dem heutigen Kenntnisstand biologische Grundlagen von Intelligenz bejaht kann m.E. biologische Grundlagen von Religiosität nicht mehr gleichzeitig abstreiten. Für Darwin war klar, dass auch Religiosität eine angeborene und vererbbare Grundlage haben musste – und alle Befunde, die wir haben, geben ihm Recht.

  36. @Tim

    Eigentlich wollte ich den Videochat mit David Sloan Wilson erst in ein paar Tagen vorstellen, aber nun bin ich schon “aufgeflogen”… 😉

    Wo hast Du den Hinweis denn gefunden?

    Also gut – David hat mich für sein kommendes “Evolution – This View of Life”-Projekt gewonnen. Und zum Start und Spaß haben wir uns einen Chat gegönnt.
    http://www.youtube.com/watch?v=3kHMMJx1umU

    Mehr dazu in Kürze auf NdG. 🙂

  37. „Mini-Babyboom in Deutschland“

    Aus Wiesbaden kam der heutige Beitrag in der Ostsee Zeitung: „Mit dem Mini-Baby-Boom steigt die Geburtenziffer auf den höchsten Wert seit 1990, als die Frauen im Mittel 1,45 Kinder bekamen.“ (2009 waren es 1,36) „Nach dem dramatischen Geburtenknick seit dem Mauerfall kommen in den neuen Bundesländern schon seit 2008 mehr Kinder pro Frau zur Welt als im Westen.“ – „Am auffälligsten unterscheiden sich Deutschland Ost und Deutschland West in Hinblick auf die Kirchlichkeit: In den alten Bundesländern sind rund 70% der Menschen Mitglied in einer christlichen Kirche, in den neuen Bundesländern jedoch nur 24%.“ http://www.buergerimstaat.de/4_00/ostwest07.htm
    Die aktuelle Kinderstatistik in Deutschland widerspricht einer „…durchschnittlich höhere Kinderzahl religiös vergemeinschafteter Menschen.“
    Der Mini-Baby-Boom reicht aber nicht, um die Bevölkerungszahl in Deutschland wieder steigen zu lassen, da müssten es schon über 2 Kinder pro Frau sein. Das wird aber sehr schwierig, denn wir sind: „Arm an Kindern, reich an Armen“ http://www.tagesschau.de/…d/kinderstudie106.html .

  38. @Michael Blume

    Mein Kommentar an dieser Stelle kommt so spät, weil mir der angesprochene Zusammenhang als extrem komplex erscheint und ich auch nichts anderes zu bieten habe als einige Hinweise auf diese Komplexität.

    Zunächst einmal (es ist zwar nicht genau das Thema, es stört mich aber schon die ganze Zeit): Die hier vorherrschende Definition von Religion als den Glauben an überempirische Akteure (Ahnen, Geister, Götter) ist zwar nützlich, wird aber problematisch, wenn sie global auf alle Kulturen und damit auch auf uns unbekannte Lebensweisen vor 30 000 Jahren projiziert wird. Das Problem dabei ist der personale Aspekt dieser Akteure. Was eine Person auszeichnet, ist eine gewisse Entscheidungsfreiheit: Ein Gott, ein Ahne kann, vielleicht innerhalb gewisser Grenzen, nach Gutdünken belohnen, strafen oder untätig bleiben.

    Es gibt aber Kulturen, in der die überempirischen Kräfte zum allergrößten Teil apersonaler, sozusagen naturgesetzlicher Art sind (deshalb empfinden sie diese Menschen auch gar nicht als überempirisch). Ein Beispiel ist das hinduistische Karma, ein anderes die Vorstellungen der Maori von Mana (man verzeihe mir, dass ich schon wieder die Maori bringe, aber das ist die einzige nichteuropäische Kultur, die ich näher und auch aus erster Hand studiert habe). Mana, die alles entscheidende Kraft der Ahnen, wird nach einer rigiden, von den Ahnen nicht manipulierbaren, Erbfolge an die Nachkommen weitergegeben; die Ahnen werden zwar hoch geehrt, greifen aber nicht als selbstständige Akteure in den Weltenlauf ein. Das Insistieren auf personale Akteure kommt m.E. einfach aus der eigenen religiösen Prädisposition der Forscher. Der extrem gewagte Schluss von Grabbeigaben des Neandertalers auf seinen Glauben an überempirische (personal in den Weltenlauf eingreifende) Akteure ist für mich nicht anders zu erklären.

    Zum Thema selbst: Was die Sache so komplex macht, ist das Zusammenspiel dreier Faktoren: (a) Die genetische Prädisposition des Individuums zur Religiosität, (b) die religiöse Gemeinschaft mit ihrer hohen Reproduktionsrate und schließlich (c) die Religion selbst.

    Zunächst einmal lässt sich ein Szenario entwerfen, in dem (a) und (c) überhaupt keine Rolle spielen. Entscheidend ist (b), eine Gruppe mit rigider Sozialkontrolle, entweder autoritär oder durch Gruppenzwang. In einigen dieser Gruppen gehört eine hohe Geburtenrate zur Gruppennorm (Amish), in anderen nicht (Shaker). Die letzteren sterben aus, die ersteren vermehren sich überdurchschnittlich.

    Um hier (c) ins Spiel zu bringen, müssen zusätzliche Voraussetzungen gemacht werden, etwa der folgenden Art: Religionen neigen, im Unterschied zu anderen Ideologien dazu, eine hohe Geburtenrate zu fordern. Und/Oder: Hohe Sozialkontrolle funktioniert am besten mit religiöser Unterfütterung. Und/Oder: Religiöse Gemeinschaften sind tendenziell stabiler als andere, so dass ein anderes Reproduktionsverhalten erst einmal relevant wird. Und/Oder: Diese Stabilität wird von den Mitgliedern auch subjektiv empfunden, so dass sie mit mehr Zuversicht Kinder in die Welt setzen. Keine dieser Voraussetzungen (außer vielleicht der ersten) ist ohne Plausibilität, aber sie müssten isoliert und getestet werden.

    Noch schwieriger wird es für mich, wenn (a) einbezogen wird und damit die evolutionäre Fitness erst einmal ins Spiel kommt. Ich sehe hier nur die folgende Argumentation: Die Gründer einer religiösen Gemeinschaft sind vermutlich mit einer hohen genetischen Prädisposition zur Religiosität ausgestattet. Tendenziell werden sich die Mitglieder eher untereinander verheiraten und damit diese Prädisposition weitergeben. Bei einer Heirat außerhalb dieser Gruppe wird mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit das betreffende Mitglied aus der Gruppe ausscheiden und damit die Prädisposition „rein“ erhalten. Diese Argumentation scheint mir relativ schwach zu sein, aber ich bin auf diesem Gebiet kein Spezialist.

    Noch unklarer wird für mich das Bild, wenn ich den Zusammenhang zwischen (a) und (c) ansehe, zwischen der Religiosität eines einzelnen Menschen, seinem Glauben und der Auswirkung auf die evolutionäre Fitness. So war z.B. Martin Luther sicher mit einer Religiosität ausgestattet, die die seiner katholischen Gegenspieler bei weitem übertraf. Letzten Endes führte aber sein Entwurf einer freieren Glaubensgemeinschaft dazu, dass der rigidere Katholizismus mit seinen massiven Verboten zur Verhütung für eine gewisse Zeit fortpflanzungsmäßig die Oberhand und damit die höhere „evolutionäre Fitness“ hatte.

    Wie versprochen: Nur Fragen, keine Antworten.

  39. @Michael Blume

    Es war reiner Zufall, ich war auf Youtube suchend nach Videos, die mit dem Thema Religion zu tun haben, (auch den P. Vogel Schrott habe ich mir angeschaut). 🙂
    So bin ich dann auf dieses gestoßen und war positiv überrascht. Gruß

  40. @Eric Djebe

    Vielen Dank für Ihre Anmerkungen, die auf einem sehr hohen Niveau angesiedelt sind und die Möglichkeiten der Blog-Kommunikation (mit notwendig knappen Posts) ausloten.

    Zur Definition von Religiosität hatte ich hier schon einen eigenen Beitrag:
    https://scilogs.spektrum.de/…e-definition-von-religion

    Zum Thema (vermeintlich) apersonaler Religionen plane ich dann auch einmal einen eigenen. So geht die verwendete Definition gerade nicht auf Vorprägungen der beteiligten Forscher zurück, sondern sowohl auf Darwin, auf kulturvergleichende Befunde wie auch z.B. Ergebnisse der Hirnforschung, nach denen personale und apersonale “Kommunikation” auch ganz unterschiedlich bearbeitet wird, vgl.
    http://www.blume-religionswissenschaft.de/…1.pdf

    Natürlich halte ich es aber für absolut möglich, dass irgendwann noch eine bessere Arbeitsdefinition gefunden würde – und bin für Vorschläge immer dankbar!

    Vom Niveau Ihrer Argumentation und Ihres Interesses her würde ich Ihnen auf jeden Fall “Gott, Gene und Gehirn” empfehlen – nicht (nur), weil ich das mit-geschrieben habe, sondern weil wir hier natürlich in der Tat von komplexen Zusammenhängen sprechen, wie bei der Evolution von Sprache(n) oder Musik(en) auch.
    https://scilogs.spektrum.de/…ce-shop.de/artikel/969531

    Danke, dass Sie so intensiv mitdenken und schon fast mitforschen! 🙂

  41. Du verlinkst in deinem Artikel zu einem anderen Blogpost, wo u.a. die Rowthorn-Studie zu Sprache kommt, deswegen hatte ich sie nochmal angesprochen 😉
    Was mich an der Erfassung genetischer Komponenten zu einer möglichen Ausprägung von Religiosität stört, ist, dass zwar zahlreiche Zwillingsstudien durchgeführt wurden, aber schlussendlich der entscheidende Schritt nicht vollzogen wurde. Nach Zwillingsstudien folgen nämlich, wie es in der Biomedizin üblich ist, die Suche nach Kandidatengenen bzw. Chromosomenregionen, in denen diese wohlmöglich liegen. Habe ich so eine Publikation verpasst oder gibt es sie (noch) nicht?

    Wer nach dem heutigen Kenntnisstand biologische Grundlagen von Intelligenz bejaht kann m.E. biologische Grundlagen von Religiosität nicht mehr gleichzeitig abstreiten.

    Habe ich in meinem Kommentar doch garnicht gemacht! Es gibt in meinen Augen sicherlich die einen oder anderen Gene, Genkombinationen und Allele, die bei jemandem die Ausprägung von Religiosität beeinflussen. Man darf aber nicht den Fehler machen, solche Gene “Religionsgene” zu nennen, wie es z.B. schon mit dem Schwulengen, dem Alkoholismusgen und dem Verbrechergen getan wurde. Bei allen diesen Merkmalen spielt nämlich der soziale/kulturelle Hintergrund eine wesentlich Rolle und dieser darf bei der Religiosität ebenfalls nicht vernachlässigt werden.

  42. @Sebastian R.

    Ja, da nähern wir uns wohl an. Danke auch für diesen sehr sachlichen Kommentar, auf den ich gerne näher eingehe.

    Nach Zwillingsstudien folgen nämlich, wie es in der Biomedizin üblich ist, die Suche nach Kandidatengenen bzw. Chromosomenregionen, in denen diese wohlmöglich liegen. Habe ich so eine Publikation verpasst oder gibt es sie (noch) nicht?

    Es gibt die Hamer-Studie zu VMAT2 und Spiritualität, die aber – gelinde gesagt – wohl erst einen Anfang markieren kann. Und ansonsten kann ich Dir nur Recht geben und den Biologen und Genetikern zurufen: Scheuklappen runter & mitmachen! Dass Religion eine genetische Grundlage hat, ist gesichert – aber in der Ausgestaltung ist sie sicher ebenso interessant wie Intelligenz, Lesefähigkeit o.ä. Da gibt es viel zu entdecken!

    Heute werde ich übrigens die Gelegenheit haben, beim 13. Kongress der European Society for Evolutionary Biology genau dafür zu werben. 🙂
    https://scilogs.spektrum.de/…-2011-in-t-bingen-vortrag

    Es gibt in meinen Augen sicherlich die einen oder anderen Gene, Genkombinationen und Allele, die bei jemandem die Ausprägung von Religiosität beeinflussen. Man darf aber nicht den Fehler machen, solche Gene “Religionsgene” zu nennen, wie es z.B. schon mit dem Schwulengen, dem Alkoholismusgen und dem Verbrechergen getan wurde. Bei allen diesen Merkmalen spielt nämlich der soziale/kulturelle Hintergrund eine wesentlich Rolle und dieser darf bei der Religiosität ebenfalls nicht vernachlässigt werden.

    Das sehe ich ganz genau so, Sebastian – volle Zustimmung! Wie bei Intelligenz, Sprachfähigkeit, Musikalität etc. ist ja immer zwischen der genetischen Grundlage, die ein Potential eröffnet, und den kulturellen Konkretisierungen zu unterscheiden. Wir haben es auch hier mit biokultureller Evolution bzw. Gen-Kultur-Koevolution zu tun – die also nur im interdisziplinären Zusammenspiel von Natur- und Kulturwissenschaftlern sinnvoll erforscht werden kann.
    https://scilogs.spektrum.de/…2/biokulturelle-evolution

    Und genau dafür setze ich mich ja auch ein – und werbe sowohl bei Geistes- und Kulturwissenschaftlern dafür, Ängste vor den Naturwissenschaften abzulegen wie umgekehrt bei Naturwissenschaftlern, auch die Religion als evolviertes Merkmal in den Blick zu nehmen – wie es ja bereits (der studierte Theologe) Charles Darwin selbst wegweisend tat.

  43. Bei den instinktgetriebenen Tieren ist Fitness im Sinne der Weitergabe der Gene eine ausreichende Erklärung. Aber bei der Betrachtung der menschlichen Evolution vermisse ich den Aspekt, daß jemand mit rationalem Selbstbewußtsein sich eben gerade nicht fortpflanzen möchte, weil Fortpflanzung zwar die Art erhält, aber das Wohlergehen eines Individuums sehr beeinträchtigen kann.
    Ich bezweifle, daß sich aus der tierischen instinktiven Fitness ein automatische kognitive Einstellung zur maximalen Fortpflanzung ableiten läßt.

    Die Evolution kognitiver Fähigkeiten hatte auch den Effekt, daß Frauen die Erkenntnis über den kausalen Zusammenhang gewinnen konnten, daß die Qualen des Gebärens und die Lasten der Kinderaufzucht kein unvorhersagbarer, unabwendbarer Schicksalsschlag waren, sondern die Strafe für die Kopulation.

    Ich bin davon überzeugt, daß der Wunsch vieler Frauen, Fortpflanzung zu vermeiden oder zu reduzieren, so alt ist wie diese Erkenntnis.

    Deshalb spekuliere ich:
    1. Die Evolution des versteckten Östrus und der destruktiv starken Triebe vieler Männer war die evolutionäre Antwort auf Vermeidungsbemühungen, um Frauen öfter schwanger werden zu lassen als sie das wünschen.
    2. Die Erfindung von Religionen hatte den Zweck, Frauen die Mühsal der Fortpflanzung zur Pflicht zu machen, sie bei Verweigerung mit Strafe zu bedrohen und ihnen die Wahnvorstellung zu vermitteln, sie würden nach dem Tod für Leiden belohnt.

    • Vielen Dank für die Gedanken und Spekulationen, @Maruli! Wie Sie vielleicht bereits gesehen haben, teile ich die Faszination für die philosophische Frage, warum überhaupt (weitere) Menschen geboren werden sollten, die sog. Anthropodizee.
      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/category/anthropodizee/

      Zu Ihren Thesen hätte ich eine Nachfrage und einen weiterführenden Link.

      Die Nachfrage: Wenn ich Ihre These richtig verstehe, wäre zu erwarten, dass Frauen grundsätzlich einen geringeren Kinderwunsch als Männer haben sollten. Dies ist aber zumindest in den heute untersuchten, modernen Gesellschaften gerade NICHT der Fall, im Gegenteil – hier weisen Frauen durchschnittlich höhere Kinderwünsche als Männer auf und beklagen vielmehr häufig das Fehlen geeigneter bzw. verantwortungsbereiter Partner! Empirische Daten dazu zum Beispiel hier:
      http://www.bmfsfj.de/doku/Publikationen/genderreport/4-Familien-und-lebensformen-von-frauen-und-maennern/4-3-Die-phase-des-erwachsenwerdens/4-3-3-kinderwunsch.html

      Meinen Sie, dass diese Befunde Ihre These erheblich schwächen oder gar widerlegen könnten?

      Und als Anregung einen aktuellen Beitrag von Bernd Ehlert zu einem eng verwandten Thema, mit Diskussionsmöglichkeit.
      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/charles-darwins-evolutionsbiologie-gefahr-sozialdarwinismus/

      Herzlichen Dank für Ihr lebendiges und konstruktives Interesse!

      • Meine Spekulation bezieht sich ja nicht auf die heutige Zeit, sondern auf die Koevolution von instinktivem Verhalten und rationaler Kontrolle während der weit über eine Million Jahre, seit bei Homo Erectus der Gebrauch von Werkzeugen und Feuer nachgewiesen wurde.

        Vermutlich hat es auch damals immer mal wieder Frauen gegeben hat, die Gebären und Kinderaufziehen als selbstschädigend vermeiden wollten und nicht bereit waren, ihr eigenes Wohlergehen und ihre Gesundheit zu riskieren.
        Aber bezogen auf die Lebensform der Jäger und Sammler gab es zwei Faktoren, die auch prinzipiell fortpflanzungswillige Frauen dazu motivieren konnten, nicht die maximal mögliche Anzahl von Kindern bekommen zu wollen:
        1. Die damals sehr hohe Kinder- und Säuglingssterblichkeit. Es ist ja bekannt, daß Frauen sehr unter dem Verlust eines Kindes leiden. Wenn damals eine Frau aber nicht nur ein Kind, sondern mehrere nacheinander verloren hat, dann ist es verständlich, daß sie irgendwann weiteren Schmerz vermeiden wollte.
        2. Unter den schwierigen Lebensbedingungen von jahreszeitlich bedingtem Hunger, Kälte, Migration war es für das Überleben des Nachwuchses wichtig, den Geburtszeitpunkt so zu planen, daß dann die Umweltbedingungen geeignet waren.

        Im Vergleich dazu ist die Situation heute eine ganz andere.
        1. Die Männer müssen für den Unterhalt der Kinder aufkommen und damit auch erhebliche Opfer bringen.
        2. Die Frauen können selbst entscheiden, wann sie die Kinder bekommen
        3. Wenn eine Frau zwei Kinder möchte, muß sie in der Regel auch nur zwei gebären, nicht 5 bis 10, damit zwei das Erwachsenenalter erreichen.

        Bei Schimpansen ist bekanntlich der Östrus äußerlich erkennbar. Menschen und Schimpansen habe gemeinsame Vorfahren. Mal angenommen, eine fiktive Spezies hätte sich ähnlich entwickelt wie Homo Erectus, und mit sichtbarem Östrus. Das hätten den Frauen die Möglichkeit gegeben, sich immer während des Östrus zu verstecken und so hätten sie nur noch so viele Kinder bekommen, wie sie wirklich wollten. Unter den harschen Lebensformen damals wäre die Spezies vermutlich ausgestorben.

        Nebenbei: Ich habe einen Blogeintrag geschrieben über den Zusammenhang zwischen Fortpflanzung, Gewalt und Religion.
        http://gehirnorientiert-kopfgesteuert.blogspot.de/2015/01/55-der-zusammenhang-zwischen.html

        • Vielen Dank für die Überlegungen, @Maruli!

          Das Szenario, das ich vertrete, braucht keinen “Bruch” und keine Umdrehung der Verhältnisse – demnach evolvierten Religiosität und Religionen aus ganz normalen Hirnfunktionen und übernahmen die Funktion, das gemeinschaftliche Aufziehen von Kindern (Cooperative Breeding) zu unterstützen. Frauen wären demnach nicht als dümmer oder manipulierbarer als Männer abgestempelt, sondern hätten vielmehr ihre evolutionären Interessen ebenso entfaltet wie Männer auch und die patriarchale Unterdrückung von Frauen in vielen Agrargesellschaften wäre auf die konkreten, wirtschaftlichen Bedingungen zurück zu führen. Vgl. die Publikation hier:
          http://www.blume-religionswissenschaft.de/pdf/FrauEvolutionReligionBlume.pdf

          Dort auch der Hinweis auf die hervorragende Evolutionsforscherin & Frauenrechtlerin Antoinette Brown Blackwell, die den auch bei Darwin gängigen Mann-dominiert-Frau-Szenarien mit guten, empirischen und theoretischen Argumenten deutlich widersprach.
          https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/exzellente-b-rgerwissenschaftlerinnen-jane-goodall-und-antoinette-brown-blackwell/

          • Das Sein bestimmt das Bewußtsein.

            Mein Blickwinkel ist der einer Frau ohne Fortpflanzungsinstinkt und ohne Religion.
            Meine Wahrnehmung des männlichen Fortpflanzungsinstinkts als Bedrohung ist das Ergebnis von dem Erlebnis der Ohnmacht, weil mir in jungen Jahren zuviel Anmache, Objektiviierung und Verfolgung als Freiwild zugemutet wurde.

            Ich sitze mit meinen Gedanken zwischen den Stühlen. In childfree-Gruppen interessiert sich niemand für Evolution. Und wer sich mit Evolution beschäftigt, aber eine bejahende Einstellung zur Fortpflanzung hat, für den ist mein Blickwinkel kaum nachvollziehbar.

            Ich hatte hier gepostet, weil mir der Gedankenaustausch mit Menschen fehlt, die so wie ich selbst eine geringe Instinktivität haben. Meine Spekulationen sind für mich die einzig logischen und passenden Erklärungen meiner Erfahrungen. Aber mir fehlt Feedback von jemandem, der das aus meinem Blickwinkel nachvollziehen kann.

          • @Maruli

            Interessant ist das schon, aber empirische Wissenschaft funktioniert halt anders: Empirische Befunde müssen demnach intersubjektiv nachvollziehbar sein, also unabhängig von der individuellen Erfahrung und Weltanschauung…

            Am ehesten dürften Sie bei Vertreterinnen und Vertretern der Anthropodizee fündig werden, insofern es Ihnen um den Dialog unter Gleichgesinnten geht. Religionskundlich könnten für Sie die Shaker, Skopzen oder Raelianer interessant sein, die unter ganz verschiedenen Vorzeichen die menschliche Fortpflanzung ablehnen.

            Beste Grüße, alles Gute! 🙂

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