Läßt sich die Ausrottung einer Art rückgängig machen? Teil 3

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Unsere Umwelt zwischen Kultur und Natur
Landschaft & Oekologie

Die in diesem Artikel vorgetragene Auffassung ist nicht unumstritten. Ich meine aber, daß die Einwände alle leicht widerlegt werden konnten. In Trepl (2007), S. 128-176 habe ich das näher ausgeführt. Hier mache ich dazu noch einige Bemerkungen, damit nicht unnötige Diskussionen entstehen.

Die Verständnislosigkeit, mit der nicht wenige Biologen dem Begriff Biospezies gegenüberstehen, hat einen Hauptgrund: den Namen. Daran wurde oft kritisiert, daß Morphospezies usw. ja auch „biologisch“ sind. Das ist richtig, aber nur ein sprachliches Problem. Viel wichtiger ist, daß Biospezies Spezies genannt werden. Das war ein Fehler, denn sie sind keine Arten. Der Begriff Art hat seit den alten Griechen in den Wissenschaften eine bestimmte Bedeutung, nämlich die oben unter „Art im Sinne einer logischen Klasse“ skizzierte. „Art“ ist ein allgemeines Klassifikationsprinzip, schlechterdings auf alles anwendbar, das aus verschiedenen individuellen „Dingen“ (die auch z. B. Gedanken oder Gedichte sein können) besteht. In der Alltagssprache wird der Begriff wohl seit eh und je im Prinzip ebenso verwendet.

Es ist sinnvoll zu sagen: Eine „Morphospezies“ ist eine Art von Lebewesen, eine Biospezies aber ist so wenig eine Art von Lebewesen, wie ein einzelnes Buch eine Art von Büchern ist. Sie ist etwas kategorial Anderes, nämlich ein einzelnes „Ding“, ein Individuum im logischen Sinne. Auch wenn man den Gegenstandsbereich, der aus Biospezies besteht, selbstverständlich in Biospezies einteilen kann (und diese z. B. nach ähnlichen Merkmalen hierarchisch ordnen kann – also nach dem Prinzip, das man bei der Bildung von Arten im Sinne logischer Klassen anwendet – oder aber nach Verwandtschaft oder nach einer Verbindung von beiden): Ein allgemeines Klassifikationsprinzip liefert der Begriff der  Biospezies nicht. Auf sich asexuell fortpflanzende Organismen kann man, wie oben gesagt, den Begriff nicht anwenden, und es ist auch gar nicht von Bedeutung, daß man die Biospezies als Basiseinheit beim Klassifizieren der biparentalen Organismen benutzen kann: Gäbe es nur eine einzige Biospezies auf der Welt (also eine von allen anderen Lebewesen reproduktiv isolierte Gruppe sich sexuell fortpflanzender Lebewesen), dann gäbe es an Biospezies gar nichts zu klassifizieren, und doch wäre der Begriff sinnvoll: es gibt ja eine.

Daß die Biospezies ein Individuum sein soll, sorgt ebenfalls für Verwirrung, denn die Biospezies besteht doch aus Individuum. Aber auch die Familie Schulze, eine Perlenkette und ein Fahrrad bestehen aus individuellen Dingen und sind doch ihrerseits individuelle Dinge: Systeme aus Teilen.

Auch wendet man gern ein, daß man die einzelne Biospezies doch nicht immer scharf abgrenzen könne. (Wie viele Prozent der „Biospezies“ sind denn wirklich „gute“ Biospezies, ohne jede Möglichkeit der Vereinigung mit anderen? Wie viele Prozent erfolgreicher Paarungen dürfen denn erlaubt sein? Was ist, wenn mit Plasmiden Gene anderer Arten in die Biospezies eingebracht werden?). Die Notwendigkeit scharfer Abgrenzung würde aber, so der Einwand weiter, daraus folgen, daß eine Biospezies ein Individuum ist. – Aber die Frage der scharfen Abgrenzbarkeit ist eine andere als die, ob etwas ein Individuum ist. Ein bestimmter Berg ist ein individuelles Ding, jedoch kann man einige Meter über der Talsohle nicht objektiv feststellen, ob man jetzt schon auf dem Berg oder noch im Tal ist. Individuen können sozusagen einen breiten Rand, einen allmählichen Übergang zu dem haben, was nicht mehr zu ihnen gehört, sie haben jedoch immer einen Kern.

Aber ist der Berg denn wirklich ein Berg, nicht nur ein Hügel? Gewiß, die Klasse der Berge/Biospezies muß definiert werden, aber wenn sie das ist, dann gibt es eine bestimmte Anzahl von Bergen/Biospezies. Die einzelne Biospezies kann man nicht definieren; darum liegt die Zahl  Biospezies fest, wenn der Begriff Biospezies definiert ist (z. B. „keinerlei Hybridisierung möglich“), während man bei Arten im Sinne logischer Klassen die einzelne Art definieren muß und darum nach Belieben z. B. 5000 oder 50.000 oder 500.000 Bakterienarten auf der Erde „erzeugen“ kann. Dem könnte man entgehen, indem man sich auf eine bestimmte Zahl und Bewertung notwendiger Merkmale einigt (z. B. 95 % übereinstimmende Gene, diese alle gleich bewertet). Aber das wäre reine Konvention. Die Einigung auf „keinerlei Hybridisierung möglich“ aber wäre nicht reine Konvention, sondern hätte eine bestimmte Theorie als Grundlage, die immerhin etwas Relevantes in der Wirklichkeit erklärt: denn vollkommen getrennte Entwicklung der Genpools ist ja die Folge.

Noch eine abschließende Bemerkung: Daß Biospezies im logischen Sinne Individuen sind, heißt natürlich nicht, daß sie in dem Sinne Individuen sind wie ein einzelner Organismus – mit allen Konsequenzen für die Ethik. Einem einzelnen Organismus kann es gut oder schlecht gehen, man kann ihm etwas antun, und die Ethiker können fragen, ob man in seinem Handeln darauf Rücksicht nehmen muß. Das ist bei Biospezies nicht der Fall.

 

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Ich habe von 1969-1973 an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der FU Berlin Biologie studiert. Von 1994 bis zu meiner Emeritierung im Jahre 2011 war ich Inhaber des Lehrstuhls für Landschaftsökologie der Technischen Universität München. Nach meinem Studium war ich zehn Jahre lang ausschließlich in der empirischen Forschung (Geobotanik, Vegetationsökologie) tätig, dann habe ich mich vor allem mit Theorie und Geschichte der Ökologie befaßt, aber auch – besonders im Zusammenhang mit der Ausbildung von Landschaftsplanern und Landschaftsarchitekten – mit der Idee der Landschaft. Ludwig Trepl

7 Kommentare

  1. @Ludwig Trepl

    »Kann das gehen? Bei einem nicht-lebenden Ding wäre absolute Identität denkmöglich , bei einem echten Individuum (Organismus) aber nicht.«

    Ich dachte dabei an den Sumpfmann von Donald Davidson. Eine Art Gedankenexperiment, für die Überlegungen, ob ausgestorbene Biospecies wiedererstehen können, ziemlich irrelevant.

    »Kein Botaniker würde sagen, daß sie [die Pflanzenspezies] ausgestorben ist: ein Same ist genauso ein normales Individuum wie ein jedes in irgendeinem anderen Stadium des Lebenszyklus.«

    Ja, man könnte aber vielleicht sagen, die Spezies sei in der freien Natur ausgestorben.

    »Ich glaube, die moderne Biotechnik läßt viele der Kategorien, mit denen wir uns die lebende Welt ordnen und von der nicht-lebenden unterscheiden, versagen.«

    Ich glaube, diese Unterscheidungen waren schon immer schwierig, und die moderne Technik setzt da nur noch eins oben drauf. Man denke nur an so etwas Banales wie Pilzsporen—deren Zustand kann doch wohl kaum als lebend bezeichnet werden. Oder ist bloße Keimfähigkeit bereits eine Form von Leben? Muss man wohl so sehen, sonst entstünde ja Lebendes aus Totem.

  2. @balanus

    „Bei wirklich absoluter Identität und kompletter Neuentstehung von ‚B‘ im Augenblick des Todes von ‚A‘ würde sich der „Doppelgänger“ zu Recht als der wahre ‚A‘ empfinden.“

    Kann das gehen? Bei einem nicht-lebenden Ding wäre absolute Identität denkmöglich , bei einem echten Individuum (Organismus) aber nicht. Denn wir denken uns einen Organismus ja so, daß er eine Repräsentation der Welt (seiner Umwelt) sozusagen in sich hat, daß diese Repräsentation Teil des Organismus ist. Und damit kann es absolute Identität bei echten Individuen aus logischen Gründen gar nicht geben: denn die Beziehungen zur Umwelt – und der Doppelgänger hat nun mal notwendigerweise einen andern Ort, damit anderen Bedeutungen zur Umwelt, und eine andere Zeit – sind in ihm und Teil von ihm. In dem Exkurs: Was ist ein Individuum? in meinem Buch „Allgemeine Ökologie Band 1: Organismus und Umwelt“ habe ich das etwas ausführlicher erläutert.
    Aber selbst wenn es einen absoluten Doppelgänger bei Organismen geben könnte: für die Frage, ob es ein Individuum zweimal geben kann, ist es unerheblich, wie es sich „empfindet“, er ist auf jeden Fall numerisch ein anderes Individuum: denn es gibt nun zwei, nicht eines.

    Der Samenbunker ist m. W. auf Spitzbergen. – Sie fragen: „Wenn nun eine Pflanzenspezies in der Natur verschwunden ist, es aber irgendwo noch Samen gibt, gilt die Spezies dann dennoch als ausgestorben?“ Kein Botaniker würde sagen, daß sie ausgestorben ist: ein Same ist genauso ein normales Individuum wie ein jedes in irgendeinem anderen Stadium des Lebenszyklus. – Problematisch werden all diese Dinge erst mit der Technik: Ist ein erfrorenes Individuum tot, wenn man es mit moderner Technik wieder lebendig machen könnte? Ich glaube, die moderne Biotechnik läßt viele der Kategorien, mit denen wir uns die lebende Welt ordnen und von der nicht-lebenden unterscheiden, versagen.

  3. @Ludwig Trepl

    Sorry, ich hatte irgendwie aus den Augen verloren, dass Sie ja schrieben:

    Sie [die Biospezies] ist etwas kategorial Anderes, nämlich ein einzelnes „Ding“, ein Individuum im logischen Sinne.

    Im „logischen“ Sinne! Damit erledigt sich mein obiger Einwand. Wenn auch an anderer Stelle das „logisch“ eingefügt gewesen wäre, also so: “Daß die Biospezies ein logisches Individuum sein soll, sorgt ebenfalls für Verwirrung,…“, wäre meine Verwirrung vermutlich ausgeblieben.

    »Wenn ein echtes Individuum stirbt und ein völlig identisches neu entsteht, dann ist es doch nicht dieses Individuum, sondern ein Doppelgänger.«

    Bei wirklich absoluter Identität und kompletter Neuentstehung von ‚B‘ im Augenblick des Todes von ‚A‘ würde sich der „Doppelgänger“ zu Recht als der wahre ‚A‘ empfinden.

    Wenn ein Klon sich entwickelt, entsteht natürlich ein neues Individuum. Das würde auch für eine auf diese Weise neu entstandene Biospezies gelten.

    Bei der zerlegten und wieder neu zusammengebauten Uhr verhält sich das anders. Man könnte sagen, mit der Zerlegung bleibt für die Uhr die Zeit stehen. Nach der Wiederherstellung läuft sie weiter, als wäre nichts geschehen. So etwas funktioniert mit sich entwickelnden Lebewesen nicht (bei der Kryokonservation bleibt zwar auch die Zeit (fast) stehen, aber die Strukturen bleiben dabei erhalten und werden nicht zerstört).

    Irgendwo in Grönland (glaube ich) werden im Eis Samen von Pflanzen gebunkert. Wenn nun eine Pflanzenspezies in der Natur verschwunden ist, es aber irgendwo noch Samen gibt, gilt die Spezies dann dennoch als ausgestorben?

  4. @ Balanus

    Sie fragen sich, „was eine solche Einschränkung [Fortpflanzungsgemeinschaft und Fortpflanzungisolation hat nur für gemeinsam lebende Populationen Sinn] für den ontischen Status der Biospezies als natürliche Entität bedeutet. Wird mit jeder neuen Generation die Biospezies in leicht geänderter Form jeweils aufs Neue geschaffen?“
    Das kann man wohl nicht sagen. Jedes empirische individuelle Ding, z. B. ein Stein, bleibt über die Zeit nicht gleich. Er verliert z. B. ständig Moleküle. Daß wir sagen, es ist immer noch dieser individuelle Stein, bedeutet nur, daß er die Definition nach wie vor erfüllt. Wenn er schmilzt oder wenn er so klein geworden ist wie ein Staubkorn, werden wir nicht mehr sagen, daß es „dieser Stein“ ist. – Ich glaube, man kann es so sagen: Die Einheit über die Zeit hin wird bei der Biospezies durch die Abstammung, die immer lückenlose Generationenfolge hergestellt, und in jedem Moment ist die Biospezies gegen andere reproduktiv isoliert. Ob Individuen der „jungen“ Biospezies von denen der „alten“ Biospezies reproduktiv isoliert wären , berührt die Einheit der Biospezies als ein über eine gewisse Zeit existierendes individuelles Ding nicht.
    „Bei Perlenketten und Fahrrädern hängen die individuellen Teile physisch zusammen und bilden ein funktionales Ganzes, also ein individuelles Ding.“
    Das ist für ein individuelles Ding im logischen Sinne nicht erforderlich. Es muß nur irgendwelche Beziehungen geben, die ich prinzipiell nach Belieben wählen kann. Ein Berg ist ein individuelles Ding, ein Gebirge, das aus völlig beziehungslos nebeneinander herumstehenden Bergen besteht, aber auch, ebenso ein Gruppe von Häusern, die keine Beziehung zueinander haben als die Nähe im Raum (sie bilden das individuelle Ding „Siedlung S“). Ja, selbst Leute, die über die Welt verstreut sind und voneinander nichts wissen, können ein individuelles Ding namens Familie sein, ob nun durch Abstammung oder durch Heirat und Adoption verbunden oder wie auch immer. – Ein Gebirge ist ein individuelles Ding. Eine Berggruppe am Rande diese Gebirges kann Teil desselben sein oder aber ein eigenes Gebirge, ein eigenes individuelles Ding, das kann ich einfach definieren. Meine Gründe können geologischer Art sein, aber auch kulturgeschichtlicher, und ich kann auch einfach würfeln.

    Ich glaube, Sie unterscheiden drei Dinge nicht richtig: (a) individuelles Ding („Ding“ ist irgendwie schief) im logischen Sinn (im Unterschied zur Klasse im logischen Sinn), (b) Durch Funktionen oder Ursache-Wirkungs-Beziehungen definierte Systeme, (c) „echte“ Individuen.
    Den Unterschied zwischen (a) und (b) einerseits und (c) andererseits hat man auf verschiedene Weisen zu beschreiben versucht, etwa durch die Unterscheidung von zufälliger und wesentlicher Individualität oder auch von phänomenalem und substantiellem Sein. Es handelt sich bei (c) um das, was die Systemtheoretiker „selbstreferentielle Systeme“ nennen, Organismen sind das prominente Beispiel. Sie grenzen sich selbst gegen die Umwelt ab (ich habe nicht die Freiheit, einem Organismus nach Belieben räumlich abzugrenzen, also z. B. den Kopf wegzudefinieren), sie bleiben über die Zeit absolut identisch (was vor 1 Jahr einen Organismen betroffen hat, hat genau diesen Organismus betroffen, auch wenn die Moleküle, die betroffen waren, gar nicht mehr zu ihm gehören; wenn ein Ereignis einen Stein betroffen hat, aber das betroffene Stück inzwischen abgesplittert ist, kann ich nicht mehr sagen, ob es „dieser“ heute vor mir liegende Stein war, der betroffen wurde, oder das abgesplitterte Stück). Und dieses „echte“ Individuum trägt sozusagen eine Repräsentation der Welt (seiner Umwelt) in sich. Es gibt noch mehr, was man da anführen könnte.
    Ein solches „echtes“ Individuum ist eine Biospezies zweifellos nicht. Eine interessante und für mich ungeklärte Frage ist, ob sie ein Individuum im Sinne von (a) oder von (b) ist. Besonders Ernst Mayr betonte ja immer den Systemcharakter des Genpools. Durch ihn ist zweifellos ein systemarer Zusammenhang da, den eine bloße Abstammungsgemeinschaft asexueller Organismen nicht hat. Bei jeder Rekombination und jeder Mutation muß sozusagen darauf Rücksicht genommen werden, was alles an Genen in dem Genpool vorhanden ist. Jedes Gen muß zu den anderen Genen des Genpools passen, sonst verschwindet es nach einiger Zeit wieder. Aber wie ist es, wenn die Biospezies in geographische getrennte Teile zerfällt? Dann gibt es diesen Genpool als realen, systemaren Zusammenhang nicht mehr, die Biospezies ist nur noch eine potentielle Paarungsgemeinschaft. Ist sie dann nur noch ein Individuum im Sinne von (1), d. h. eines, das nur durch eine (beliebige) Definition zu einem Individuum geworden ist, so wie die o.g. Berggruppe am Rande eines größeren Gebirges?

    Auf etwas Interessantes hat mich eben auf einer Tagung ein Philosoph aufmerksam gemacht, das meine Argumentation durcheinanderbringen könnte. Wenn ein echtes Individuum stirbt und ein völlig identisches neu entsteht, dann ist es doch nicht dieses Individuum, sondern ein Doppelgänger. So habe ich auch bezüglich der Wiederherstellbarkeit der Biospezies argumentiert. Aber nun dieser Fall: Jemand bringt seine Uhr zum Urmacher und wenn er wiederkommt, liegt sie in Teile zerlegt in der Werkstatt zerstreut. Er wird sagen: meine Uhr gibt es jetzt nicht mehr. Wenn er aber wiederkommt und sie ist wieder zusammengebaut, wird er sagen: das ist meine Uhr. Es gibt also Fälle, da kann ein individuelles Ding aufhören zu existieren und doch wiederentstehen. Was bedeutet das im Falle der Biospezies?

  5. Ist die Biospezies ein Individuum?

    @Ludwig Trepl:

    »„Der Begriff der Fortpflanzungsgemeinschaft und damit der Fortpflanzungsisolation hat nur in Bezug auf gleichzeitig lebende Populationen Sinn“«

    Zu diesem einleuchtenden Schluss bin ich auch gekommen. Wobei ich mich dann schon frage, was eine solche Einschränkung für den ontischen Status der Biospezies als natürliche Entität bedeutet. Wird mit jeder neuen Generation die Biospezies in leicht geänderter Form jeweils aufs Neue geschaffen? Das muss man wohl so sehen, wenn man den kontinuierlichen Wandel der Biospezies nicht außen vorlassen will.

    Aber es gibt noch einen Punkt, der mich an dem Status der Biospezies als individuelles Ding zweifeln lässt. Sie schreiben:

    Daß die Biospezies ein Individuum sein soll, sorgt ebenfalls für Verwirrung, denn die Biospezies besteht doch aus Individuum. Aber auch die Familie Schulze, eine Perlenkette und ein Fahrrad bestehen aus individuellen Dingen und sind doch ihrerseits individuelle Dinge: Systeme aus Teilen.

    Zunächst einmal ist die Familie Schulze in meinen Augen kein „Individuum“ und auch kein System aus Teilen. Ihr Status als „Familie“ existiert nur auf dem Papier.

    Bei Perlenketten und Fahrrädern hängen die individuellen Teile physisch zusammen und bilden ein funktionales Ganzes, also ein individuelles Ding. Wenn ich das Fahrrad in seine Einzelteile zerlege, dann gibt es kein Fahrrad mehr. Das heißt, die Art der Beziehung der individuellen Teile untereinander entscheidet darüber, ob aus der Summe der Teile ein individuelles Ganzes oder ein System wird.

    Unsicher bin ich mir bei Formationen wie Rinderherden, Vogelschwärmen oder Insektenstaaten. Hier gibt es zwar auch keine physischen Beziehungen der Individuen untereinander, aber das individuelle Verhalten der Einzeltiere resultiert in der Bildung eines Schwarms, einer Herde, eines Staates oder eines Rudels. Ähnlich eigentlich wie bei Familie Schulze, bloß ohne Kontrakt. Kann ein Menschen- oder Gänsepaar ein individuelles Ding sein? Von außen betrachtet erkennt man die innere Bindung zwischen den beiden Individuen ja nicht, man sieht nur irgendwelche Interaktionen und zieht daraus seine Schlüsse. Deshalb neige ich zu der Annahme, dass auch Herden und dergleichen Gebilde im strengen Sinne keine individuellen Dinge sind.

    Auch ein Baum besteht, wenn man so will, aus mehreren individuellen Teilen, Wurzel, Sprossachse, Blätter. Die Sprossachse weist Verzweigungen auf. Sind diese Äste und Zweige auch individuelle Dinge? Wo hört der Ast auf, wo beginnt der Zweig? Vielleicht sind diese Unterscheidungen der Sprossachse in Stamm, Äste und Zweige doch bloß ein menschliches Konstrukt, so wie die willkürliche Kategorisierung der Oberflächenstruktur der Erde in Berge und Täler.

    Welcher Art sind nun die Beziehungen zwischen den Individuen einer Biospezies? Physische Beziehungen existieren im Regelfall nicht, soviel ist sicher. Was die Individuen einer Biospezies miteinander verbindet, ist, dass sie Träger eines bestimmten Typus von Keimzellen sind. Diese Keimzellen passen zusammen wie Schraube und Mutter, die zusammengeschraubt eine funktionale Einheit bilden, ein einfaches System, die Schraubverbindung eben.

    Bilden nun die Behältnisse, die Schrauben oder Muttern mit M6-Gewinde enthalten (und nur diese enthalten können), eine natürliche Entität, sind sie ein individuelles Ding, das von anderen Behältnissen mit anderen Schrauben und Muttern zu unterscheiden ist?

    Angenommen, es gäbe androide Roboter, die selbst neue androide Roboter des gleichen Typs produzieren könnten. Würde dieser Robotertypus allein durch diese besondere Fähigkeit zu einer Entität, zu einem individuellen Ding?

  6. @ Balanus

    Das ist in der Tat ein verzwickter Fall, aber die Verzwicktheit betrifft nicht die Frage, ob Biospezies Individuen sind, sondern das Kriterium der Paarungsgemeinschaft. Ich habe dieses Beispiel (bei mir: „Wenn es zwischen einer Fischart und den Menschen nie zu einer Aufspaltung in Biospezies gekommen wäre, müßte man dann nicht Fische und Menschen zu einer Biospezies rechnen, obwohl sie sich zweifellos nicht paaren können?“) in dem im Artikel zitierten Buch von mir etwa auf S. 154 ff. ausführlicher diskutiert. Und zwar habe ich die Frage im Rückgriff auf das ebenfalls im obigen Artikel zitierte Buch des Kladisten Willmann im wesentlichen mit dem Argument „Der Begriff der Fortpflanzungsgemeinschaft und damit der Fortpflanzungsisolation hat nur in Bezug auf gleichzeitig lebende Populationen Sinn“ beantwortet.

    Daß es Biospezies als individuelle Dinge gibt, sieht man am besten, wenn man zunächst den kladistischen Idealfall nimmt (den es in der Realität hinreichend ähnlich gibt): Eine Biospezies spaltet sich in zwei, und bis zur nächsten Aufspaltung ändert sich nichts in einer Weise, daß Individuen dieser Biospezies mit anderen nicht mehr paarungsfähig wären. Dann hat man zwei klare zeitliche Grenzen: die beiden Aufspaltungsereignisse, und alle Individuen, die zu der betroffenen Population gehören, sind untereinander erfolgreich paarungsfähig . Wenn es nun im Laufe langer Zeiten größere Änderungen hinsichtlich der Paarungsfähigkeit gibt, so, daß die einen sich mit den anderen nicht mehr paaren könnten, wenn sie gleichzeitig lebten, so kann man in der Tat keine scharfe Grenze finden, der Übergang ist ein allmählicher, sondern muß die Grenze ziehen, und sie ist immer willkürlich. Aber ist das etwas anderes als die Grenze zwischen verschiedenen Zuständen iegend eines anderen individuellen Gegenstands, der sich im Laufe seines Daseins verändert? Man könnte doch sagen: Die Biospezies wird „erzeugt“ dadurch, daß reproduktive Isolation einer Population zu anderen Populationen entsteht. Dann kann (muß aber nicht) die Population, die nun eine Biospezies ist, sich verändern eventuell auch so, daß reproduktive Isolation gegenüber den Individuen früherer Stadien der Biospezies bestünde. Sie bleibt aber damit immer noch ein individuelles, historisches Ding.

    In bestimmtem Sinne ist ein individuelles Ding (zumindest wenn es kein Individuum im engeren Sinn ist, d. h. ein Organismus, bzw. eine Monade) sicher auch eine „gedankliche Schublade“: Dieses Ding wird vom Beobachter aufgrund einer Definition abgegrenzt. Es ist nur vor dem Hintergrund einer bestimmten Definition so, daß ein Berg ein Berg ist und nicht ein Hügel und daß der Berg 50 oder nicht erst 100 m über der Talsohle beginnt. Und ob etwas eine Biospezies ist oder vielleicht zwei, hängt von der Definition ab (ob man z. B. vollständige Isolation verlangt). Aber doch ist unabhängig davon eine Biospezies ein individuelles Ding, so wie eine bestimmte Erderhöhung ein individuelles Ding ist, egal wo man die Grenze zur Talsohle und zwischen Berg und Hügel festlegt.

    Aber bei der gedanklichen Schublade, die eine logische Klasse ist, handelt es sich um einen ganz anderen Fall. Die Klasse „Stühle“ ebenso wie eine Morphospezies kein individuelles Ding.

  7. Lieber Herr Trepl, ihre Bemerkungen zur Vermeidung unnötiger Diskussionen umfassten nicht bestimmte Aspekte der Zeit bei der Entstehung der Arten. Nun denn, in Teil 2 des Beitrags schreiben Sie:

    Jede Biospezies ist damit ein individuelles historisches Phänomen, ein empirisches Ding, keine gedankliche Schublade.

    Wenn eine Biospezies keine gedankliche Schublade ist, wie kommt es dann, dass es (im Normalfall) keine natürliche (biologische) Grenze zwischen zwei zeitlich aufeinander folgenden Biospezies gibt, sondern nur eine gedachte?

    Wenn wir für irgend eine beliebige Säugetierbiospezies zeitlich zurückgehen, in Schritten, die klein genug sind, um die jeweilige Ahnengeneration noch sicher zur gleichen Biospezies zählen zu können, dann haben wir es immer mit der gleichen Biospezies zu tun.

    Womöglich gibt es doch nur individuelle Organismen, die, wenn sie von der gleichen Art (im weitesten Sinne) sind, sich untereinander verpaaren und Nachkommen zeugen können. Ende und aus. Alle weitergehenden Überlegungen münden m. E. in gedankliche Schubladen.

    Danke für Ihre anregenden Beiträge!