Innenwelt und Außenansicht

BLOG: Die Natur der Naturwissenschaft

Ansichten eines Physikers
Die Natur der Naturwissenschaft

Ich muss so um die 10 Jahre alt gewesen sein, als ich zum ersten Mal darüber nachdachte: Warum bin ich gerade so jung und warum sind andere heute alt? Warum kann man nicht beides zur gleichen Zeit sein? Warum bin ich es, der in dieser speziellen Situation mit diesen Eltern gerade hier an diesem Ort lebt, warum bin ich nicht ein Kind der Nachbarn. Eine ähnliche Frage hat sich wohl jeder schon gestellt – sie begleitet uns ein Leben lang und stößt uns immer wieder auf, auch wenn wir nicht vor dem Spiegel stehen: Warum bin ich es gerade, der als diese spezielle Person in dieser bestimmten Situation lebt.

Vom Standpunkt eines Naturalisten ist die Sache trivial: Wenn lebende Wesen im Zuge der Evolution sich so weit entwickelt haben, dass sie ein Bewusstsein ihrer selbst erlangt haben, also nicht nur planvoll in der Welt agieren sondern sich auch noch dabei beobachten können, dann muss wohl jedes dieser Wesen – wann immer es lebt und unter welchen Umständen auch immer – irgendwann auf solche Gedanken kommen. Es hat ja Philosophen gegeben, die diese Tatsache als einzig verlässliches Indiz für ihre Existenz gehalten haben: cogito, ergo sum.

Von außen gesehen gibt es also kein Problem – aus der Perspektive des bewussten Wesens stellt sich aber die Frage und sie ist unbeantwortbar. Ihre Selbstbezüglichkeit lässt keine Antwort zu.

Innerhalb eines jeden Systems gibt es eben Fragen, die nicht zu beantworten sind. Dieses bewusst gemacht zu haben, ist ein Verdienst des Mathematikers Kurt Gödel. In seinem berühmten Unvollständigkeitssatz von 1931 zeigt er, dass es in "genügend reichhaltigen" formalen Sprachen (mathematischen Systemen)  immer Aussagen gibt, die man weder beweisen noch widerlegen kann, die man also im Rahmen der gegebenen formalen Sprache nicht weiter auf etwas Bekannteres oder Evidenteres zurückführen kann. So wundere ich mich nicht mehr, dass es so etwas  in unserem menschlichen Leben auch gibt – reichhaltig genug ist ja wohl.

So ist als die Tatsache, dass ich es bin, der so ist wie ich, auch nur einfach hinzunehmen. Von meiner Innenwelt aus gesehen kann ich diese Frage nicht beantworten. Es reicht, wenn ich pragmatisch vorgehe und versuche, das Beste daraus zu machen.

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Veröffentlicht von

Josef Honerkamp war mehr als 30 Jahre als Professor für Theoretische Physik tätig, zunächst an der Universität Bonn, dann viele Jahre an der Universität Freiburg. Er hat er auf den Gebieten Quantenfeldtheorie, Statistische Mechanik und Stochastische Dynamische Systeme gearbeitet und ist Autor mehrerer Lehr- und Sachbücher. Nach seiner Emeritierung im Jahre 2006 möchte er sich noch mehr dem interdisziplinären Gespräch widmen. Er interessiert sich insbesondere für das jeweilige Selbstverständnis einer Wissenschaft, für ihre Methoden sowie für ihre grundsätzlichen Ausgangspunkte und Fragestellungen und kann berichten, zu welchen Ansichten ein Physiker angesichts der Entwicklung seines Faches gelangt. Insgesamt versteht er sich heute als Physiker und "wirklich freier Schriftsteller".

10 Kommentare

  1. Bequemlichkeit

    Bequemlichkeit ist eine schlechte Ausrede, um nichts zu tun. Denn es ist gerade ein Kennzeichen des gesunden Menschen, dass wir versuchen, neues Wissen zu erwerben und/oder ungelöste Fragen zu lösen.

    Die Frage, was Bewusstsein bzw. das ICH-Empfinden ist und wie es entsteht – gehört zu den großen Fragen der Philosophie, der Gehirn- /Gedächtnisforschung. Also wirklich kein Thema zum Zurücklehnen.

    Z.B. ist es interessant, dass für unser Gehirn sein eigener Lebenslauf mit Erinnerungen etwa ab dem 6. Schwangerschaftsmonat beginnt – während wir unter Lebenslauf meist nur das verstehen, was wir bewusst erinnern können (ab dem 2.-5. Lebensjahr).

  2. Ausbildung des Bewusstseins als Emergenz

    Muss jedes Lebewesen ab einer gewissen Entwicklungsstufe zu einem Bewusstsein seiner selbst gelangen? Vielleicht. Trotzdem erklärt das noch nichts. In Verallgemeinerung des hier besprochenen Phänomens spricht man von Emergenz, wenn
    sich auf der Makroebene eines Systems spontan neue Eigenschaften oder Strukturen herausbilden, die auf dem Zusammenspiel dieser Elemente beruhen, sich aber nicht unmittelbar auf die Eigenschaften der einzelnen Systemelemente zurückführen lassen. (Kursiver Teil aus Wikipedia-Defintion für Emergenz)

    Heute kann man wohl die ganze Evolution von selbstorganisierenden chemischen Systemen zu belebten Zellen, komplexen Vielzellern und schliesslich zum Menschen sehr wohl verstehen und naturwissenschaftlich erklären. Die jeweils neu auftauchenden Fähigkeiten dieser Lebewesen überraschen jedoch so stark, dass sich der Begriff Emergenz aufdrängt.

    Der Begriff Emergenz ist schon etwas älter, hat aber jüngst immer weitere Verbreitung gefunden. Sogar Informatiker bedienen sich des Begriffs um beispielsweise ihre Überraschung über das unerwartete Potential von den in C++ vor kurzem eingeführten Schablonen auszudrücken.

  3. Ich tippe mal, dass sie Selbstreflexion eine Begleiterscheinung der Modellierung der Welt im Gehirn ist. Für erfolgreiches Handeln muss nicht nur die Umwelt sondern auch das Ich mit seinen Zielen und Bedürfnissen modelliert werden. Dass in dem derart komplexen System alle mögliche Phänomene auftreten ist dann auch nicht verwunderlich.

  4. Unzulässige Fragestellung

    Ich finde diese Fragestellung eigentlich wenig spannend, da mir die Antwort eindeutig scheint. Denn wie die Forschung mittlerweile eindeutig zeigt, ist ein Dualismus von Körper und Geist nicht aufrechtzuhalten. Die Psychologie belegt zudem, dass unsere Persönlichkeit und Psyche untrennbar mit unserer Biographie, unseren Erlebnissen, Erfahrungen, verbunden ist. Wir, als jene Personen, die wir im Moment sind, existieren daher nur im Kontext unseres Körpers und unseres Lebens. Würde man an diesem Kontext etwas ändern – insbesondere drastische Dinge wie unter gänzlich anderen Umständen aufwachsen -, wären wir nicht wir im jetzigen Sinn, sondern anders und in diesem Sinne auch andere.
    Die Frage ist also vergleichbar mit der Frage, was nördlich des Nordpols sei: Die Fragestellung impliziert eine unzulässige Annahme. Wir sind wir. In jedem anderen Kontext wären wir nicht wir, sondern andere. Das ist nebenbei etwas, was so gut es möglich ist, auch in der Psychologie bereits untersucht worden ist. Trotz sehr vieler Gemeinsamkeiten unterscheiden sich eineiige Zwillinge in ihrer Persönlichkeit messbar – insbesondere, wenn sie getrennt aufwachsen.
    Grundsätzlich läuft die Antwort natürlich auch auf “es ist, wie es ist” hinaus, ist durch ihre Untermauerung aber meines Erachtens nach nicht unbefriedigend.

    Martin Holzherr:
    Ihr Zusatz zu C++ hat mich doch sehr verwundert. Templates waren bereits vor der Standardisierung von C++ in der Sprache enthalten und selbstverständlich auch seit dem ersten Sprachstandard. “Vor kurzem eingeführt” ist also mindestens irreführend. Ich habe in diesem Zusammenhang auch noch nie den Begriff Emergenz im hier verwendeten Sinn gehört, was eine kurze Google-Suche auf den ersten Blick zu erhärten scheint. Informatiker werden den Begriff viel eher im Zusammenhang mit dem Game of Life und ähnlichen emergenten Phänomen verwenden.

  5. @ alle

    Ich fürchte, ich habe mich nicht deutlich genug ausgedrückt. Dass unser Bewusstsein als Emergenz gedeutet werden kann, scheint inzwischen wohl vielen plausibel, schon gar einem Physiker, der die Emergenz aus der Physik komplexer Systeme bestens kennt und sie dort sogar auf mathematischer Ebene beschreiben kann. Und dass es gerade die spannende Aufgabe ist, diese Vorstellung der Emergenz des Bewusstseins konkreter belegen zu können, ist auch klar (von wegen Bequemlichkeit).
    Ich wollte an den Unterschied zwischen Innensicht und Außensicht erinnern und das dabei auftretende Problem mit dem Gödelschen Unvollständigkeitssatz in Verbindung bringen und erwartete eigentlich Kommentare dazu. Auch wenn Sie das Bewusstsein wirklich eines Tages wirklich als Emergenz nachgewiesen haben, werden Sie Ihre Innensicht behalten und die entsprechende Frage wieder stellen und nicht beantworten können – es sei denn so, wie ich es als Naturalist schon getan habe.

  6. Innensicht

    Wenn eine bewusste Selbstreflexion über das, was das “Ich” eigentlich ist, was man ist, nicht mit dem vereinbar ist, was Sie Innensicht nennen, so erläutern Sie diese doch bitte noch einmal.
    Denn ansonsten gilt doch, dass die Frage nach dem Warum zunächst die Frage nach dem Was erfordert, was wiederum zu der von mir gegebenen Antwort auf die Frage nach dem Warum führt.
    Läuft ihre Fragestellung stattdessen auf das Warum der eigenen, konkreten Existenz hinaus? Auch hier würde ich darauf verweisen, dass die Frage eine unzulässige Annahme enthält, wonach die (eigene) Existenz einen internal gegebenen Grund haben müsse. Sinn, aber auch Ursachen, liegen jedoch nie in der Existenz als solche, sondern werden external attribuiert. (Das Sitzen ist nur deshalb der Sinn eines Stuhls, weil Menschen ihm diesen Zweck zuschreiben.)
    Aus diesem Grund ist jedes Warum – egal ob nach Sinn oder Ursache – immer nur unter Einbeziehung externer Faktoren zu beantworten. Niemals aus sich selbst heraus. Die Unbeantwortbarkeit ist dann jedoch nicht auf das formale System der Fragestellung zurückzuführen, sondern auf die Unzulässigkeit der Frage innerhalb des Systems.

  7. Äpfel und Birnen

    Wenn man die menschliche Sicht der Innen-/Außenwelt mit logischen Überlegungen der Mathematik überdenken will, so sind das zwei verschiedene, nicht kompatible Systeme.

    Die Mathematik braucht für sinnvolle Beweise/Gegenbeweise ein absolut logisches und nachvollziehbares Denksystem.
    Der Mensch dagegen ist ein organisches System, dessen größter Überlebensvorteil seine Fehlerhaftigkeit ist.

  8. @Stefanp

    Mir geht es nicht darum, wie ich im Augenblick der Reflexion bin, sondern darum, dass ich ein “Ich-Gefühl” habe, dass ich mich überhaupt als ein “Jemand” erlebe. Die augenblickliche biographische Situation ist da nicht relevant. Unter der Annahme, dass Bewusstsein ein emergentes Phänomen ist, können wir doch folgern, dass durch die Evolution selbstbezügliche Systeme entstehen können. Diese (nämlich wir) sind wieder daran interessiert, dieses Entstehen, insbesondere die Bedingungen für eine solche Entstehung zu verstehen. Man kann dieses Phänomen “Entstehung selbstbezüglicher Systeme” also als Außenstehender studieren und aber selbst ein Mitglied dieser Systeme sein – mit all den Beschränkungen, die es bei solchen Systemen geben kann.
    Die Verknüpfung mit dem Gödelschen Unvollständigkeitssatz ist ja auch nicht neu. Ich habe mich daran erinnert, dass ich vor gut 30 Jahren das Buch “Gödel, Escher, Bach” von Douglas Hofstetter gelesen habe. Es hatte damals Kultstatus. Mit Daniel Dennett hat er 1981 unter dem Titel “Einsicht ins Ich” noch eine Sammlung “klassischer” Texte zu dem Thema nachgeschoben. Mich interessiert nun, welche Bedeutung man dieser Verknüpfung heute noch beimisst. Mir ist diese irgendwie plausibel, weiter habe ich aber darüber noch nicht nachgedacht. Mit dem Stichwort “Metzinger, Gödel” findet man aber, wie ich gerade feststelle, mit Google eine Fülle von Bemerkungen zu dieser Verknüpfung, sogar ein Seminar darüber unter http://www.informatik.uni-freiburg.de/…ics.html.
    Ich bin Ihnen dankbar dafür, dass Sie sich mit meiner Antwort nicht zufrieden gegeben haben und so bei mir weitere Recherchen anregen. Ich habe auch den Eindruck, dass wir gar nicht so weit aus einander liegen in unseren Ansichten, nur aus verschiedenen Gebieten mit unterschiedlichen “Sprachspielen” kommen.

  9. Radikal umdenken

    Ich schließe aus der Diskussion: Innerhalb unserer Erfahrungs- und Denkwelt kommen wir offenbar nicht weiter. Daraus ist doch eher zu schließen: Offenbar ist die eigentliche Wirklichkeit des Menschen so, dass sie nur als Spiegelung im Fühlen, Denken, Handeln erfahrbar ist – exakt umgekehrt zur atomaren Ebene. Und diese eigentliche Wirklichkeit enthält alles, was wir für sinnvoll, objektiv, gerecht, gut, schön halten, als reale geschichtliche Wahrscheinlichkeiten (also nicht bloß als Ideen oder sonstige transzendente Vorstellungen). Der schöpferische, auch zeitlich bestimmte Akt des Einzelnen, aber auch aller Völker ist, diese Wahrscheinlichkeiten so gut wie möglich zu spiegeln. Wo dies der Fall ist, sind wir uns “sicher”, ist etwas “optimal”, “objektiv” usf. Wenn wir nun um diese wüssten, dann könnten wir auch unsere Geschichte verstehen – energetisch.

  10. Antworten

    … die Frage “Warum bin ich es gerade, der als diese spezielle Person in dieser bestimmten Situation lebt”, ist ja in dem Sinne auch falsch, als zuvor die grundlegende Frae “Wer bin ich?” beantwortet werden muss.

    Und die ist prinzpiell beantwortbar; nur ist die Antwort, besser das “Wissen”, keine “Aussage”, weil sie nicht abbildbar ist, in welcher Form auch immer, also auch nicht gedanklich.

    Sie hat übrigens mit Selbstbezüglichkeit zu tun.

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