Mehr Zensur für bessere Literatur!

BLOG: Con Text

Wörter brauchen Gesellschaft.
Con Text

In den letzten Tagen durften wir wieder den Schrei lesen ‘ZENSUUUUUUUUUUHR!!!’ – er ging durchs ganze Internet, sogar die sogenannten seriösen Medien nahmen ihn auf. Zumindest in ihren Online-Ausgaben. Dabei hatte Twitter nur ein neues Modell zur Einhaltung lokaler Gesetze angekündigt. Dazu ist eigentlich alles gesagt worden, u.a. von arschhaarzopf und Zapp; ich selbst habe etwas allgemeiner schon vor einiger Zeit darüber geschrieben.

Aber wir sind hier ja in einem Literaturblog, da interessiert uns nicht so sehr die gegenwärtige Politik, obwohl die offensichtliche Leseschwäche vieler Internetbewohner durchaus ein Thema wäre. Zensur ist ja schon ein wenig älter, auch wenn so manch Aufschrei wirkt, als wäre sie erst gestern von Facebook, Twitter, Google oder irgendeinem Landesdatenschützer erfunden worden.

Die göttliche Ordnung

Die berühmteste Zensurgeschichte ist vermutlich die des Sokrates, der angeklagt war, ein Verderber der Jugend zu sein, der sich nicht scheute, mit antidemokratischen Kreisen Umgang zu pflegen. Er wäre seinem Todesurteil entkommen, hätte er versprochen, nicht mehr zu predigen [oder fragen; was Ihnen besser gefällt]. Aber er wollte sich nicht zensieren lassen. Ergebnis: Frühzeitiges Ableben.

Sokrates’ bekanntester Schüler entwickelte ein richtiges System der Zensur in seiner Utopie über die ideale Republik; Dichter mochte er gar nicht, aber auch andere Künstler sollten nur Werke schaffen, die dem Stadtstaat dienten. Kritik sei subversiv, zerstört den Frieden.

Der römische Censor zählte nicht nur Bürger, er sorgte auch für die Moral der res publica. Auch hier ging es darum, den status quo zu erhalten, der Frieden und Wohlstand brachte. Über Jahrhunderte meinten Zensoren, so wie es ist, ist es gut, denn es geht uns ja gut. Natürlich übersahen die Mächtigen und ihre Schergen, dass sie die 1% waren, den anderen 99% ging es nicht sonderlich gut.

Massenproduktion

Wieder einmal war es die Massenproduktion von Kommunikationsmitteln, die auch bei der Zensur schnelle Fortschritte brachte. Wie im letzten Artikel kurz angedeutet, ging Heinrich VIII. in England zuerst gegen unautorisierte Bibelübersetzungen vor. In den folgenden Jahrzehnten wurden eine ganze Reihe von Gesetzen und Einrichtungen geschaffen, die ein umfassendes, mehrstufiges Zensursystem schufen. Alle Bücher mussten von der Regierung freigegeben werden, es durften nur lizensierte Drucker/Verlage veröffentlichen [die Grundlage für das Copyright].

Es waren nicht nur Könige und offizielle Kirche, die eine Zensur in England durchsetzten. John Milton, der Dichter des Puritanismus, war zwar gegen eine Vorzensur, doch eine strenge Bestrafung eines Autors nach Veröffentlichung lehnte er nicht ab.

Satirisches

Zensur hat Denker und Dichter selten davon abgehalten, kritisch zu schreiben. Sie setzten sich hin und erfanden die Metapher, die Ellipse, die Hyperbel und vieles mehr. Heinrich Heine zum Beispiel:

Die deutschen Censoren ––  ––  ––  ––
––  ––  ––  –– ––  ––  ––  –– ––  ––
––  ––  ––  –– ––  ––  ––  –– ––  ––
––  ––  ––  –– ––  ––  ––  –– ––  ––
––  ––  ––  –– ––  ––  ––  –– ––  ––
––  ––  ––  –– ––  ––  ––  –– ––  ––
––  ––  –– ––  –– Dummköpfe  ––  ––
––  ––  ––  –– ––  ––  ––  –– ––  ––
––  ––  ––  –– ––  ––  ––  –– ––  ––
––  ––  ––  –– ––  ––  ––  –– ––  ––
–– –– –– –– ––

Er benutzt hier die Auslassung so extensiv – und das ist die eigentliche Brillanz seiner kleinen Fingerübung –, dass die ausgelassenen Stellen uninteressant werden. Er kehrt damit die Ellipse, jene Figur der Auslassung, die vom Leser verlangt, das Fehlende zu ergänzen, um und konzentriert den Text auf den Kern seiner Aussage: Zensur funktioniert nicht.

Es sind vor allem die Satiren, die uns ohne Zensur abgingen. Wozu soll sich ein Schriftsteller anstrengen, stilistisch raffinierte Kritik zu äußern, wenn er direkt sagen kann

Der Erich Honecker ist so doof wie Stroh, der gehört nicht an die Spitze eines Staatswesens, sondern gedroschen!

Sicher, einige Kabarettisten machen heute genau das, einige erreichen mit ihren Invektiven ein Publikum, dessen kritische Intelligenz offenbar nur zur Dekodierung von ‘Merkel ist doof und hat eine schreckliche Frisur’ reicht. In den 1980ern in der DDR wäre das dem Publikum zu wenig gewesen. Dem Staatsapparat allerdings zu viel. Auch in der BRD der 50er und 60er Jahre hätte ein solch platter Angriff problematisch werden können.

Schweinskram

Es sind nicht nur die Satiriker, die zensiert werden, noch schlimmer dran sind jene, die etwas über die verborgenen Aspekte der Welt schreiben wollen. Seit nicht mehr Könige, sondern Kleinbürger die Geschicke vieler Staaten lenken, konzentriert sich Zensur vor allem auf Darstellungen des Sexuellen. James Joyce Ulysses, Nabokovs Lolita, D.H. Lawrence’ Lady Chatterley’s Lover waren lange Zeit verboten.

Zwei der Bücher geben Frauen ihre eigene Sexualität, verweigern sich dem Klischee der Frau als saubere Prinzessin. Es ist sicher nicht weit hergeholt, zu vermuten, dass sie auch deswegen verboten wurden. Das dritte Buch hingegen … ein alternder Mann macht sich an ein 12-jähriges Mädchen ran, heiratet sogar ihre Mutter, nur um dem Kind nahe zu sein. Er versucht, sie zu vergewaltigen. Überlegen Sie gut, ob Sie das nicht zensieren wollen.

Nachschlag

Zensur ist immer dann schlecht, wenn sie uns selbst betrifft, wenn unsere literarischen oder politischen Vorlieben eingeschränkt werden sollen. Die wenigsten haben ein Problem, andere zu zensieren. Im Falle Adolf Hitlers Mein Kampf freut sich so manch Copyright-Gegner darüber, dass der bayerische Staat eine kommentierte Ausgabe von Textauszügen zensieren kann. Ganz ohne Zensurrecht, nur über Zivilparagraphen.

Selbst gemachter Schilderbaum einer alternativen Kommune in Hamburg-Ottensen: Keine Fotos!

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?

4 Kommentare

  1. Mmmmhm…

    Im Kern besagt der Artikel ja doch auch, das Zensur nicht wirkt: Sie hat z.B. den Rechtsextremismus nicht besiegt, sondern ein Selbstverständnis als Verfolgte samt einem Markt für illegale Literatur geschaffen.

    Klar muss eine Gesellschaft Grenzen setzen, z.B. bei den Persönlichkeitsrechten anderer. Aber die Zensur abweichender Meinungen hat m.E. noch keine Probleme gelöst (und ja auch den Sturz o.g. Monarchien nicht aufgehalten), sondern nur Schwächen offenbart. Ich finde, unsere freiheitliche Gesellschaft ist längst stark genug, um auch ohne Zensur Extremisten aller Art in die Schranken zu weisen.

  2. Kontrolle der Zensur

    Zensur jeglicher Art stellt eine Gesellschaft immer vor ein (m. E. allgemein schwer loesbares) Problem: Wer kontrolliert die Zensoren?
    Einige Wenige entscheiden, was die Massen (nicht) lesen duerfen? Wer legt die Regeln fest?
    Diese Regeln koennen in einer echten Demokratie nur aus der Mitte der Gesellschaft heraus kommen. Damit muss sich die Gesellschaft aber auch mit den zu zensierenden Themen (und den Inhalten) befassen. Dies offenbart die Sinnlosigkeit von Zensur.
    (Davon unbetroffen sind natuerlich der Schutz der (persoenlichen Rechte Dritter, dies ist aber auch keine Zensur eines Themas)
    Ich stimme dem Vorkommentator zu: Eine stabile Gesellschaft braucht keine Zensur, eine stabile Gesellschaft sollte in der Lage sein, ueber jedes Thema zu diskuttieren.
    Ich denke, dass dies in Deutschland auch der Fall ist.
    Ein Beispiel? Vor ein paar Jahren gab es den Fall des entfuehrten Bankiersohnes. Ein Polizist hat den (damals vermeintlichen) Taeter unter Androhung von Folter verhoert.
    Nach Bekanntwerden entbrannte eine kurze Debatte ueber die Zulaessigkeit von Folter, die jedoch auch wieder sehr schnell (und mit klarer ablehnenden Haltung der Allgemeinheit) verebbte.
    Sollte eine Gesellschaft ein Problem haben, eine geschlossene Meinung zu finden, die von der Mehrheit aller “billig und gerecht Denkenden” getragen wird, so ist das Thema zu diskuttieren.
    Fuer Zensur bleibt da schlicht kein Platz.

  3. Ein wenig vorsichtig sollten wir bei der Bewertung historischer Abläufe schon sein. Sokrates und nicht wenig andere hat Zensur das Leben gekostet. Galileo hatte praktisch Berufsverbot, weil der katholischen Kirche das ptolemäische Weltbild besser gefiel als das kopernikanische.

    Auf lange Sicht funktioniert Zensur nicht, aber kurzfristig kann der Schaden schon erheblich sein, vor allem für den Einzelnen.

  4. Zensur hier zu politisch betrachtet

    Der Zensurbegriff wird hier in den Zusammenhang mit dem historischen Freiheitsbegriff gesehen. Die Censoren sind in dieser Sicht unter den politisch Herrschenden zu suchen.

    Doch Zensur in einem weiteren Sinn ist alltäglich und kommt in allen Abhängigkeitsverhältnissen vor, wo ein Abhängiger eine Meinung äussert oder Weltansicht an den Tag legt, die demjenigen, für den der Abhängige arbeitet, missfällt.

    Szenarien:
    1 ) Ein Journalist, der die Pläne der Regierung, die Industrie stärker zu besteuern, unterstützt, kann erleben, dass er vom zuständigen Redakteur aufgefordert wird, seinen Text zu überarbeiten, weil mehrere wichtige Inserenten gedroht haben, keine Inserate mehr zu schalten, wenn die Berichterstattung so weitergeht.
    2) Die Frau eines Wirtschaftsbosses äussert sich in privater Runde abfällig über einen Geschäftspartner. Der Wirtschaftsboss – ihr Mann – stellt sie, als er davon erfährt, vor die Wahl Scheidung oder Schweigen.

    Häufig wird in solchen Situationen von Illoyalität gesprochen. Weil Illoyalität etwas moralisch fragwürdiges ist, gibt es deshalb auch die Schere im Kopf. Mit der Schere im Kopf – also der Selbstzensur – bleibt die Loyalität erhalten und es braucht gar keinen Censor mehr.