Organische Physik

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

In der Physik sind Kräfte abstoßende oder anziehende Zentralkräfte. Gibt es doch darüberhinaus noch eine um die Ecke spukende „Lebenskraft“? Es ist ein langer Weg bis Theorie und Emperie in einer wissenschaftlichen Disziplin zusammenfinden.

Neulich hörte ich von einem Gelöbnis „die Wahrheit geltend zu machen“. Ein Kollege zeige diese Folie (unten) in seinem Übersichtsvortrag „Dynamische Krankheiten: eine historische Perspektive mit einem Blick auf die Zukunft“ (Dynamical diseases: a historical perspective with an eye to the future, von John Milton).

Soweit ich es zurückverfolgen konnte, ist dieses Gelöbnis von Ernst Wilhelm Brücke (unten links) und Emil du Bois-Reymond (oben rechts) ursprünglich abgelegt worden und später erst sind Hermann von Helmholtz (oben links) und Carl Ludwig (unten rechts) dazugestossen.

Brücke und ich, wir haben uns verschworen, die Wahrheit geltend zu machen, daß im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind, als die gemeinen physikalisch-chemischen; daß, wo diese bislang nicht zur Erklärung ausreichten, mittels der physikalisch-mathematischen Methode entweder nach ihrer Art und Weise der Wirksamkeit im konkreten Fall gesucht werden muß, oder daß neue Kräfte angenommen werden müssen, welche, von gleicher Dignität mit den physikalisch-chemischen, der Materie inhärent, stets auf nur abstoßende oder anziehende Componenten zurückzuführen sind.

Diese vier wurden als „Berliner Schule“ bezeichnet sowie auch, wie auf der Folie, als “Helmholtz School of Medicine. Wobei Emil du Bois-Reymond sicher die wesentliche Triebfeder in der Medizin war. Den viern war ihr eigener Gruppenname wahrscheinlich reichlich egal, sie versuchten den Begriff der “organischen Physik” zu prägen, um damit die Physiologie als Teilbereich der Physik zu etablieren.

Messen ja, erklären nein

Was wurde daraus? Sie vertrieben zunächst einmal erfolgreich das Konzept der „Lebenskraft“ und damit den Vitalismus (vgl. aber hier). Die Physiologie wurde außerdem eigenständiger, sie wurde aus der “Umklammerung der Anatomie” gelöst, wie es Uwe Heinemann als Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Emil du Bois-Reymond ausdrückte. Die Physiologie blieb allerdings der Physik lange fern. Zumindest waren physikalisch-mathematische Methoden zunächst wenig erfolgreich um physiologische Mechanismen und damit die Ursache biologischer Funktionen zu erklären. Was nicht heißt, dass physikalisch-experimentelle Methoden zu dieser Zeit nicht vermehrt aufkamen. Messen konnte man einiges. Helmholtz nutzte z.B. seine Messungen über den organischen Stoffwechsel, insbesondere Prozesse der Gärung, Fäulnis und Verwesung für den Energieerhaltungssatz in der Thermodynamik. Die Physik wurde also zunächst stärker von der Medizin beeinflusst als umgekehrt. Allein das erstaunt eigentlich.

Theorie und Experiment sind in der Physiologie eben nicht zeitgleich voran geschritten, also anders als in der Physik, die meist parallel zu neuen Experimenten auch fundamentale mathematische Theorien aufweisen konnte. Die Umsetzung dieses Erfolgsrezept in der Physiologie sollte lange auf sich warten lassen.

Theorie und Experiment finden nicht zusammen

Erst hundert Jahre später, um 1952, entstand das mathematische Modell für Nervenzellen von Alan Lloyd Hodgkin und Andrew Fielding Huxley (der neulich erst verstarb) auf der Grundlage präziser neuer Messungen. In den 1970er Jahren wurden dann mathematische Modelle für Nervenzellverbünde von Hugh R. Wilson and Jack D. Cowan aufgestellt, die dem Experiment voraus waren! Außerdem wiesen in dieser Zeit Uwe an der Heiden, Leon Glass und Michael C. Mackey darauf hin, dass eine enge Beziehung zwischen dem mathematischen Gebiet der nichtlinearen Dynamik und dem zeitlichen Verlauf einiger Krankheiten existiert. Dies führte zum Konzept der „dynamischen Krankheit“. In diesem Fall gab es also zunächst unabhängig voneinander eine parallele Entwicklung von Theorie und Experiment (wobei wir empirische Untersuchungen bei Krankheiten nicht Experimente sondern vornehm klinische Studien nennen).

Lücken verfestigen sich

Entscheidend scheint mir zu sein, dass Theorie und Experiment lange nicht zusammengefunden haben. Natürlich gibt es weitere Beispiele und nicht nur die oben genannten. Das Fick’sche Diffusionsgesetz ist sicher prominent zu nennen (s. Lehrbuch “Mathematical Physiology“). Doch auch heute haben wir noch riesige Lücken im theoretischen Fundament der Physiologie. Diese sind so groß, dass die meisten sie nicht als Lücken sondern Grenze der Physiologie empfinden. Dieses Missverständnis spiegelt sich zum Nachteil einer Weiterentwicklung des Faches Physiologie in den Hochschulen wider, wo es in Deutschland bis heute keinen Masterstudiengang Physiologie gibt, also einen Studiengang, der die systematisch wissenschaftliche Ausbildung in Physiologie in den Vordergrund stellt!

Vielleicht bleiben diese Lücken, es sind trotzdem Lücken nicht Grenzen einer Disziplin. Ich kann heute mehr denn je ohne zu zögern die Physiologie als organische Physik bezeichnen auch wenn es reichen würde, die Physiologie als eigenständige Naturwissenschaft, die der Biologie schon längst entwachsen ist, anzusehen.

Aus den Lücken folgt nicht zwangsläufig Raum für eine „Lebenskraft“ sondern die Tatsache, dass die Systeme so komplex werden, das mathematische Modelle ein Probleme haben können: Niemand hat uns versprochen, dass diese Modelle „kleine“ mathematische Modelle sind. Damit meine ich Modelle mit sehr wenigen Freiheitsgraden, die vollständig alle anderen versklaven (so nennt man es wirklich). Deswegen ist in dem Gelöbnis auch kein Widerspruch im Sinne eines „heiligen“ Eides zu sehen sondern die Erkenntnis trotz eingeplanten Misserfolges weiter in dieser einen Richtung zu suchen.

Emil Du Bois-Reymond und Ernst Wilhelm von Brücke waren übrigens Gründungsmitglieder der physikalischen Gesellschaft zu Berlin aus der dann die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) wurde. Für das bald aktuelle Oktoberheft  der DPG-Mitgliederzeitschrift „Physik Journal“ beschreibe ich mathematische Modelle der Migräne, die man in dieser Tradition als dynamische Krankheit auffassen kann: also als organische Physik.

Nachtrag 25.9.2012

Gerade sah ich, dass das Video des oben erwähnten Vortrages mittlerweile online ist.

 

Dank

Dieser Beitrag entstand auf meiner von Mitacs unterstützten Kanada-Reise, wo ich mit Leon Glass, Michael Mackey, Hugh Wilson und vielen weiteren über die Geschichte ihrer Entdeckungen reden konnte. Vorab habe ich mit John Milton über diese historische Perspektive diskutiert. Mein Dank gilt ihnen für viele Anregungen, die ich hier in dem Beitrag einbrachte.

© 2012, Markus A. Dahlem

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

49 Kommentare

  1. Lorentzkraft

    Der Streit um die Deutung der elektrischen Phänomene war damals noch nicht abgeschlossen. Die Beobachtungen an geschlossenen Strömen waren aber nach Biot-Savart in Newton’scher Manier auf Anziehung und Abstossung zurückgeführt worden. Das war nicht einfach, sondern eine große geistige Leistung, die erst mit Maxwell überholt wurde.
    Hut ab vor den Pionieren! Ihre Revolution ist noch nicht abgeschlossen.

  2. Eid & Physiologie

    Schön, einmal so einen historischen Beitrag zu lesen.

    Ich erinnere mich, zumindest einmal einen Professor für Physiologie kennengelernt zu haben, der auf seine alten Tage damit anfing, sich für Leib-Seele-Philosophie zu interessieren. Ob man dafür nun einen eigenen Studiengang braucht oder nicht, oder ob das Fach in der Biologie gut aufgehoben ist, das wage ich nicht zu beurteilen.

    Den Eid finde ich dann aber doch recht komisch: Wenn man Glück hat, dann entdeckt man einmal eine Wahrheit; womöglich wird man das aber noch nicht einmal wissen. Eine Wahrheit “geltend” zu machen scheint mir aber für einen Naturforscher nicht die geeignete Aufgabe zu sein.

  3. @Stephan Schleim: Weniger ist mehr

    Die Wahrheit ist: Es gibt kein Hinterzimmer, es braucht kein Hinterzimmer und keine Magie, sondern “no other forces than the common chemical/physical ones are active within the organism” und nicht nur innerhalb des Organismus, sondern innerhalb der Welt.

    Wir können die Welt und ihre Phänomene nur erklären, wenn sie zusammengesetzt ist aus Dingen, die wir bereits kennen und verstehen oder die wir kennen und verstehen lernen können.
    Die Ablehnung des Elan vital bedeutet die Ablehnung von Wundern.

  4. “Gelöbnis”

    Das “Gelöbnis” liest sich zwar wie die feierliche Präambel zu einem ‘Physiologischen Manifest’, stammt aber ganz schlicht aus einem Brief von Emil du Bois-Reymond an Eduard Hallmann, datiert vom Mai 1842. Vgl. [hier], S. 108.

    Dass einer der genannten Herrschaften einen Eid darauf geschworen hat, ist wohl kaum passiert. Und wenn doch, dann eher um sich über die Apologeten der “Lebenskraft” lustig zu machen.

  5. Gelöbnis

    Danke für den Quellenhinweis! Heute würde man das wohl ein Forschungsprogramm nennen. Eine moderne Variante wäre die “bayesian conspiracy”. Beim Kampf um knappe Mittel sind gleichgesinnte Mitstreiter überaus hilfreich.

  6. @Holzherr: Weniger ist zu wenig

    Die Wahrheit ist: Es gibt kein Hinterzimmer, es braucht kein Hinterzimmer und keine Magie, sondern “no other forces than the common chemical/physical ones are active within the organism” und nicht nur innerhalb des Organismus, sondern innerhalb der Welt.

    Das ist “die Wahrheit” und das wissen wir schon im Voraus, quasi aus per Offenbarung; und das nennen Sie dann Wissenschaft? Interessant.

    Wir können die Welt und ihre Phänomene nur erklären, wenn sie zusammengesetzt ist aus Dingen, die wir bereits kennen und verstehen oder die wir kennen und verstehen lernen können.

    Das ist nicht nur falsch, sondern auch absurd.

    Die Ablehnung des Elan vital bedeutet die Ablehnung von Wundern.

    Quark – und die Forschungsfrage der Vitalisten ist noch gar nicht beantwortet. Wenn man sich einmal ernsthaft mit dem Problem beschäftigt, anstatt sich über die Dummheit der Vitalisten zu amüsieren, dann versteht man das vielleicht auch (und zwar durch Studium und nicht das Reduzieren von irgend etwas auf etwas anderes).

    Ich stimme @HF zu: Nennen wir es ein Forschungsprogramm.

  7. .

    Bin gerade erst zurück, daher die späten Antworten:

    @Karl Bednarik Die Lorentzkraft ist aber doch von gleicher Dignität. Und über Koordinatentransformationen müssten wir da auch nochmal reden.

    @Stephan Schleim: “Eine Wahrheit geltend zu machen” ist vielleicht einfach die Ausdrucksform von damals. Ich denke, Sie waren von dieser Aussage überzeugt ob fehlenden Beweises anderer Kräfte und wollten diese für sie wahren Aussage auch vertreten.

    @Chrys: Danke für den Hinweis. Ich habe das in Kanada nur oberflächlich recherchiert. “Soweit ich es zurückverfolgen konnte” war wirklich als Einschränkung gemeint und wurde hoffentlich nicht so gelesen, dass ich es sehr weit getan hätte.

  8. @Stephan Schleim: Wahrheit = Glaube

    Wer eine Wahrheit verkündet, verkündet oft einen Glauben. Die obige Helmholtz School of Medicine glaubt, dass auch in der Biologie und Medizin die gleichen Kräfte wirken wie in der unbelebten Welt.
    Dahinter steckt die Überzeugung, dass man keine völlig neuen, in Physik und Chemie unbekannten Dinge benötigt um auch das Leben zu erklären.
    Dieser Glaube könnte falsch sein. Ohne Not sollte man aber nicht Kräfte und Wirkungen postulieren, die man noch gar nicht kennt. Vielmehr versuch man in der Naturwissenschaft zuerst einmal die Erscheinungen mit dem momentanen Wissen zu erklären. Erst wenn dieser Versuch offensichtlich scheitert, muss man sich etwas neues einfallen lassen.

    Dazu hat sich in einer Anekdote auch Richard Feynman geäussert:

    “Some years ago I had a conversation with a layman about flying saucers — because I am scientific I know all about flying saucers! I said “I don’t think there are flying saucers’. So my antagonist said, “Is it impossible that there are flying saucers? Can you prove that it’s impossible?” “No”, I said, “I can’t prove it’s impossible. It’s just very unlikely”. At that he said, “You are very unscientific. If you can’t prove it impossible then how can you say that it’s unlikely?”

    But that is the way that is scientific. It is scientific only to say what is more likely and what less likely, and not to be proving all the time the possible and impossible.

    To define what I mean, I might have said to him, “Listen, I mean that from my knowledge of the world that I see around me, I think that it is much more likely that the reports of flying saucers are the results of the known irrational characteristics of terrestrial intelligence than of the unknown rational efforts of extra-terrestrial intelligence.” It is just more likely. That is all.”

  9. @Holzherr: Reduktionen spärlich

    In Julian Huxleys Schriften über Evolutionären Humanismus finden Sie Beispiele für einen erfolgreichen und einflussreichen Naturforscher, der es nicht als Problem ansah, dass es jeweils eigene physikalische, chemische, biologische, … kulturelle Kräfte und entsprechend auch Gesetze gibt, die sich nicht reduzieren lassen.

    Dahinter steckt die Überzeugung, dass man keine völlig neuen, in Physik und Chemie unbekannten Dinge benötigt um auch das Leben zu erklären.

    Es gibt aber sehr wenige Beispiele für derart gelungene Reduktionen – im Gegenteil haben wir stets neue wissenschaftliche (Sub-)Disziplinen, anstatt dass alte auf die Physik reduziert würden.

    In diesem konkreten Fall ist es eben nicht damit getan, lebende Zellen zu analysieren, in ihre Bestandteile zu zerlegen und diese wieder zusammenzusetzen. Entweder ist also die Analyse unvollständig, gibt es eben doch eine eigene Lebenskraft oder gibt es noch eine andere Erkenntnishürde.

    Schließlich erfüllt die Eigenschaft “lebendig” eine Vielzahl von Erklärungsfunktionen, auch ohne dass man die Physik dafür bemühen müsste.

    Du Bois-Reymond zählte die Frage zu einem der großen Welträtsel – war sie jedoch eines der unlösbaren oder nicht? Ich habe das Buch gerade nicht zur Hand.

  10. P.S. du Bois-Reymond und die Welträtsel

    Ah, in einem eigenen Aufsatz habe ich die Antwort gerade gefunden:

    Wie Lebendiges aus Nicht-Lebendigem, Empfindendes aus Nicht-Empfindendem oder Denkendes aus Nicht-Denkendem entsteht, sah der Physiologe du Bois-Reymond (1818-1896) schon im 19. Jahrhundert als drei von sieben großen Weltratseln an (1880/1974). Die letzten beiden der hier genannten hielt er sogar fur prinzipiell unlosbar, was er in seiner beruhmten „ignorabimus“-Rede ausfuhrte (1872/1974).

    du Bois-Reymond, E. (1872/1974). Uber die Grenzen des Naturerkennens. In ders., Vortrage uber
    Philosophie und Gesellschaft, S. 54-78. Hamburg.

    du Bois-Reymond, E. (1880/1974). Die sieben Weltratsel. In ders., Vortrage uber Philosophie und
    Gesellschaft, S. 159-188. Hamburg.

  11. @Schleim: Reduktion später möglich

    “Vielleicht bleiben diese Lücken, es sind trotzdem Lücken nicht Grenzen einer Disziplin.”
    Neue Gesetze, die sich nicht ohne weiteres zurückführen lassen auf bekanntes gibt es in jeder neuen Disziplin. Das widerspricht aber nicht der Annahme, dass die Gesetze von Phyisk und Chemie auch das Lebendige erklären können. Mit der Zeit, mit dem Fortschritt im Fachgebiet schliessen sich immer mehr Lücken.

  12. Vitalismus

    Die Ignorabimus-Rede sollte man zwar als Grenze der Erkenntnis sehen, sie steht nicht aber im Widerspruch zu einer Position gegen den Vitalismus. Außerdem muss man bei dieser Debatte um die Erkenntnistheorie den wissenschaftspolitischen Kontext von du Bois-Reymond einbeziehen. Dazu schrieb ich mal was.

    Du Bois-Reymond verstand sich nämlich als Wissenschaftler und Unternehmer, als einen neuen Typ der Bourgeoisie. Als solcher wollte er die Entwicklung der Physiologie weiter voran treiben, nicht allein eigenständig als Teilgebiet der Physik. Er wollte ganz konkret in Berlin ein physiologisches Institut im Stil eines Fabrik-ähnlichen Grossbetriebes entstehen lassen. [mehr dazu lesen].

    Letztlich müsste man nun über Emergenz diskutieren, was ja schon viel auf SciLogs geschah. (Links bitte suchen, vor allem bei Josef Honerkamp). Für einen Vitalismus in ursprünglichen Sinn, sehe ich absolut keinen Bedarf.

    Der Vitalismus lebt, so sagt Anthony R. Cashmore in seinem Antrittsartikel für PNAS*, im Konzept des freien Willens, an dem wir so hängen. Aber solche neuen Definitionen brauchen den alten Begriff nicht. Das verwirrt eher.

    *Anthony R. Cashmore, The Lucretian swerve: The biological basis of human behavior and the criminal justice system, PNAS, 107: 4499–4504, (2010)

  13. Reduktion

    Warum regt man sich über die Frage nach der Reduzierbarkeit so sehr auf? Es besteht ein großer Unterschied zwischen der Reduzierbarkeit im Allgemeinen und der tatsächlichen Ausführung dieser Reduktion; das ist schon bei der Himmelsmechanik so. Die Physiologen haben hundert Jahre warten müssen, bis die Reduktion der Lebensvorgänge auf die Biochemie auch praktisch gelang. Wenn nach neuen Medikamenten gesucht wird, braucht man sowohl die Beobachtung am lebenden Tier als auch die Computermodelle, mit denen z.B. das Bindungsverhalten an einem Rezeptor verbessert werden soll. Theoretische Fragen nach Reduzierbarkeit stellen sich in der Praxis nicht. Bei dem letzten Welträtsel, der Frage nach der Reduzierbarkeit des Bewusstseins, stehen Theorie und Praxis noch aus. Zur Beschreibung der Farbe “rot” oder der “A”-Haftigkeit eines Umrisses stehen die adäquaten Hilfsmittel noch nicht zur Verfügung. Die Simulation von Gehirnen ist eine Holzhammermethode, über die Kritiker der Reduktion lächeln mögen, aber sie ist ja kein Endzweck, sondern ein heroischer Versuch, die harte Nuss zu knacken.

  14. Beschreibung

    Die Aufgabe der Physik ist es, die Welt zu beschreiben, und nicht, die Welt zu erklären.

    —-

    Die Festigkeit von Holz stammt hauptsächlich von Cellulosefasern.

    Die Cellulosefasern bestehen aus Glucosemolekülen.

    Die Glucosemoleküle bestehen aus Kohlenstoff-, Sauerstoff-, und Wasserstoff-Atomen.

    Die Atome bestehen aus Elektronen und Atomkernen.

    Die Atomkerne bestehen aus Protonen und Neutronen.

    Die Protonen und Neutronen bestehen aus up- und down-Quarks.

    Na, ja, die Elektronen und die up- und down-Quarks, die sind dann eben einfach da.

    It’s turtles all the way down.
    (Stephen Hawking)

    An der Lorentzkraft ist interessant, dass sie sowohl quer zur Ladungsbewegung, als auch quer zum Magnetfeld wirkt.

  15. @Holzherr: genau

    Das widerspricht aber nicht der Annahme, dass die Gesetze von Phyisk und Chemie auch das Lebendige erklären können.

    Genau! Es ist eben eine Annahme – reden wir weiter darüber, wenn es so weit ist (und wir dann noch leben).

  16. Grundlagen

    Die Frage ist doch: wenn wir es nicht erklären können, folgt daraus, dass wir in den Grundlagen etwas noch nicht erkennen (etwa etwas nicht-physikalisches) oder ob wir ausgehend allein von diesen Grundlagen nicht den komplexen Aufbau verstehen, der aber ohne prinzipiell neue Kräfte auskommt.

  17. @HF: keine Aufregung

    Hier regt sich keiner auf – Debatten über die Reduzierbarkeit der Welt sind meiner Erfahrung nach jedoch häufig von eingeengten geistigen Horizonten und schlechter Philosophie geprägt.

    Oppenheim und Putnam haben schon 1958 über The unity of science as a working hypothesis geschrieben, die Einheitswissenschaft, und griffen dabei auf Forschung aus den 1930er Jahren zurück, eine Idee des Wiener Kreises (Unity of Science).

    Die Wissenschaft hat sich aber keinesfalls in dieser Richtung entwickelt, sondern stets zu mehr Vielheitswissenschaft. Reduktionen sind die Ausnahmen, nicht die Regel; und mit jeder geschlossenen Lücke tun sich mehrere neue auf.

    Die Physiologen haben hundert Jahre warten müssen, bis die Reduktion der Lebensvorgänge auf die Biochemie auch praktisch gelang.

    Das kann nur jemand schreiben, der keine Ahnung vom Thema hat. Dass Sie mit diesem Fehlschluss aber nicht allein sind, habe ich bereits in meinem Artikel über den Vitalismus erklärt.

  18. Keine Lücke für Lebenskraft

    Auch hier ist die Frage wohl: was sowohl mit “praktischen gelingen” also auch einer “Reduktion” gemeint ist.

    Trotzdem sollte man keinesfalls den Eindruck erwecken, wir suchen aktuell nach einer Lebenskraft, weil wir dafür eine Lücke sehen.

    Darin sind wir uns doch alle einig, oder?

  19. @Markus: Erklärung

    Ja, daraus, dass wir etwas (beispielsweise die Eigenschaft “lebendig”) noch nicht vollständig erklären können, lässt sich nicht viel schlussfolgern – aber jedenfalls genauso wenig, dass wir es prinzipiell naturwissenschaftlich erklären können, wie dass wir es prinzipiell nicht naturwissenschaftlich erklären können.

    Von einer eigenen Naturkraft würde man wohl ausgehen, wenn sich mit der Annahme derselben mehr Beobachtungen erklären ließen als ohne; und es dadurch nicht zu massiven Widersprüchen mit anderen gut bestätigten Theorien käme. Oder hast du einen besseren Vorschlag?

    Das ist beim Leben meines Wissens nicht der Fall und man sucht ja weiter nach den vollständigen molekularen Mechanismen desselben. Insofern handelt es sich eben um ein laufendes Forschungsprogramm und keine zu verkündende Wahrheit. Daher stimmte ich dir auch zu, dass es sich beim Zitat mehr um eine Redeweise handelt.

  20. @Stephan

    “Von einer eigenen Naturkraft würde man wohl ausgehen, wenn sich mit der Annahme derselben mehr Beobachtungen erklären ließen als ohne; und es dadurch nicht zu massiven Widersprüchen mit anderen gut bestätigten Theorien käme.”

    Das trifft es in der Tat sehr gut.

  21. Sherlock:das Analytisch-rationale Denken

    Sherlock Holmes forensische Arbeitsmethode, die ausschließlich auf detailgenauer Beobachtung und nüchterner Schlussfolgerung beruht ist eine überspitzte Beschreibung einer Arbeitsmethode, die auch ein Naturwissenschaftler hat.
    Absolute Sicherheit gibt es kaum je in der Naturwissenschaft. Vielmehr gilt der Spruch Sherlock Holmes: “Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag.”
    Das Unmögliche ausschliessen heisst eben Spuk, Magie und Zauber ausschliessen. Sherlock Holmes nimmt genau so wie jeder Naturwissenschaftler an, dass alles mit rechten Dingen zugeht und dass das Wahrscheinlichste dem Erfahrenen die Erklärung liefert oder wie Richard Feynman gesagt hat:“It is scientific only to say what is more likely and what less likely”.

    Stephan Schleim denkt scheinbar in diesem Punkt völlig anders. Dass es auch anders sein könnte als man auf den ersten, zweiten und den ins Detail gehenden Blick meint, ist für ihn das Wichtige: (Zitat) “Genau! Es ist eben eine Annahme – reden wir weiter darüber, wenn es so weit ist (und wir dann noch leben).”
    Es ist so: Wir könnten von Geistern und Biestern umgeben sein, die aber immer nur am Werk sind, wenn wir nicht hinsehen. Das könnte so sein, genau so gut wie alles eine Illusion oder Computersimulation sein könnte. Doch das anzunehmen, bringt einem nichts.

  22. @Martin Holzherr

    Das Unmögliche ausschliessen heisst eben Spuk, Magie und Zauber ausschliessen.

    Eigentlich heißt dass eben nur, das was unmöglich (weil widersprüchliche) ist, auszuschließen. Spuk, Magie und Zauber sind ja erst mal nur Wörter. Wörter die schon so angelegt sind, dass wir dies natürlich (!) ausschliessen. Die Frage nach der Notwendigkeit einer Naturkraft hat aber doch Stephan Schleim gut gestellt.

    Die Antwort darauf mag zur Zeit strittig sein.

  23. Wieder die Holzherr-Methode

    Beispielsweise einmal ein Argument dafür zu liefern, warum eine zusätzliche Naturkraft unmöglich ist, das würde die Diskussion weiterbringen; aber dafür muss man ja klar denken und das ist anstrengend.

    Die zum Teil historisch ernsthaft entwickelten Versuche, für Leben eine zusätzliche Naturkraft anzunehmen, als wilden Schamanismus abzutun, drückt nicht nur eine moderne Arroganz aus – hinterher ist man immer klüger oder, wie es in Groningen heißt, achteraf kijk je de koe in de kont (hinterher schaust du der Kuh in den Hintern) –, sondern bringt die Diskussion noch auf ein RTL-Niveau, auf dem ich nicht diskutieren möchte.

    Die wissenschaftshistorisch interessierte Leserin möge sich einmal damit beschäftigen, welche alchemistischen Vorstellungen beispielsweise Isaac Newton und seine Zeitgenossen damals hatten – die probierten auch u.a. mit Pferdemist einen Homunculus zu erschaffen. Nicht, dass man als Neunmalkluger Jahrhunderte später darüber lacht, sondern dass man es versucht und die Pferdemisttheorie nach genügend gescheiterten Versuchen aufgibt, das ist wissenschaftliches Vorgehen.

  24. @Stephan

    Mit Pferdemist einen Homunculus zu erschaffen war doch naheliegend. Manfred Eigen hat in dieser Tradition es dann mit molekularer Selbstorganisation versucht. Das Scheitern sagt aber wenig im allgemeinen und gar nichts im besonderen über die Notwendigkeit einer fehlenden Kraft.

    Eine zusätzliche Kraft zu postulieren ohne Not, das ist wie Du ja schreibst, schlicht unwissenschaftlich. Und siehst Du irgendwo diese Not? Wenn ja, wo?

  25. Netwon nochmal

    Bevor wir aneinander vorbei reden, ich (und du Bois-Reymond wohl auch) meine eine Kraft mit der Einheit Netwon = kg·m·s−2

  26. Newton, Ampere, Oerstedt, Biot,Savart

    Die deutsche Entdeckung eines Zusammenhangs zwischen galvanischen Strömen und Magnetfeldern war für die französischen Anhänger Newtons sehr irritierend. Eine Querkraft, die das dritte Axiom verletzt. Es bedurfte erheblicher Anstrengungen der französischen Analytiker, diesen Spuk zu vertreiben. Die vorläufige Lösung war das Biot-Savartsche Gesetz, dass nur eine orientierungsabhängige Anziehung oder Abstoßung zwischen kurzen Stromelementen beinhaltet. Helmholtz kannte diese Debatte natürlich.

  27. @Markus: neue Kräfte

    Eine zusätzliche Kraft zu postulieren ohne Not, das ist wie Du ja schreibst, schlicht unwissenschaftlich. Und siehst Du irgendwo diese Not? Wenn ja, wo?

    Im Prinzip stimme ich dir zu – aber als Wissenschaftler darf (oder muss) man doch Hypothesen formulieren und testen dürfen. Wann das nötig ist und wann nicht, da werden die Meinungen auseinander gehen und wissen wir oft erst hinterher, wer Recht hatte.

    Die entscheidende Frage ist doch, wie man mit seiner Hypothese umgeht, wenn man sie nicht bestätigen kann. Dann kann es unwissenschaftlich werden.

    Nehmen wir einmal das Beispiel Hans Berger (1873-1941): Er hat nach einer “psychischen Energie” gesucht, um die Probleme zu lösen, an denen sich auch heute noch die kognitive Neurowissenschaft abarbeitet. Offenbar war er nicht der Überzeugung, mit den bestehenden Kräften und Gesetzen der Physik das Leib-Seele-Problem sowie das harte Problem des Bewusstseins lösen zu können.

    Hat Berger “psychische Energie” gefunden? Nein; aber auf dem Weg dorthin hat er eben mal das EEG entwickelt.

    Ergo: Wenn man diese Versuche in ihrem historischen Rahmen und wissenschaftlichen Kontext sieht, dann erscheinen sie gar nicht so dumm, wie manche hier tun.

    Auch die Vitalisten haben sich eines Problems angenommen, das sich bis in die heutige Wissenschaft fortpflanzt, auch wenn der Vitalismus allgemein aufgegeben wurde. Das Problem, was Leben ist, ist geblieben, theoretisch sowie empirisch.

  28. @ Markus Dahlem

    „Eine zusätzliche Kraft zu postulieren ohne Not, das ist wie Du ja schreibst, schlicht unwissenschaftlich. Und siehst Du irgendwo diese Not? Wenn ja, wo?“

    In der Physik werden ständig neue „Entia“ eingeführt und ausprobiert. Im Gegensatz zur landläufigen Vorstellung ist das also ein ganz normales Vorgehen.

    Jedoch braucht man gar keine „neuen“ Kräfte. Denn es gibt ja bereits ein „Leib-Seele-Problem“. Warum dieses nicht erweitern zum „Materie-Leben-Problem“ und als dasselbe betrachten.

    Und um da auch noch einen draufzusetzen: Wir könnten dasselbe Problem noch einmal erweitern, und dann hätten wir noch die Evolution mit drin, und könnten endlich die unselige Selektionstheorie loswerden. Und dass alles, ohne ein neues Problem und neue Entia zu haben, außer denen, die ohnehin schon diskutiert werden.

    Toll, nicht?

  29. Naturphilosophie um 1840

    Die Bestrebungen von Emil du Bois-Reymond und seinen “Mitverschwörern” nach wissenschaftl. Methodik lassen sich nur vor ihrem zeitgenössischen Hintergrund wirklich bewerten. Der Zeitgeist war in jenen Tagen auf eine Weise durch Naturphilosophie geprägt, wie es uns praktisch unvorstellbar ist. Wer sich einmal einen Eindruck davon verschaffen will, kann im “Lehrbuch der Naturphilosophie” von Lorenz Oken blättern (3. Aufl. 1843), das die Bayerische Staatsbibliothek online gestellt hat.

    http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10076222-5

  30. @fegalo

    In der Physik werden ständig neue „Entia“ eingeführt und ausprobiert. Im Gegensatz zur landläufigen Vorstellung ist das also ein ganz normales Vorgehen.

    Ich spreche hier von einer Kraft, also eine Wechselwirkung zwischen Materie. Eine solche Entität einzuführen ist schon etwas sehr spezielles. Dass dies ständig ausprobiert wird, kann man nun wirklich nicht sagen. Und wenn dann doch, ist es bisher immer gescheitert. Das es ausgerechnet das Leben ist, das uns einmal dazu zwingt, halte ich für sehr unwahrscheinlich.

    @Chrys Danke für den Hinweis!

  31. Ich bezog mich auf eine Formulierung des bekannten Rasiermessers, das den Begriff „entia“ verwendet, eine andere nennt „principia“, aber ich denke, alle wissen, was gemeint ist, nämlich sowohl Kräfte als auch substantielle Bestandteile der Welt. In der Physik sind sowohl die dunkle Materie als auch die dunkle Kraft solche „Entia“ bzw. „Principia“, ebenso die Strings, das Multiversum bzw. die anderen Universen darin, die kosmologische Konstante, die Quarks, Antimaterie, Higgs-Bosonen, die Schwache Wechselwirkung und vieles mehr – da kommt im 20. Jhd. einiges zusammen.

    Ich vermute, dass man in der Biologie da etwas konservativer ist, weil sich Hypothesen nicht so streng auf den Prüfstand stellen lassen.

    Dennoch können wir die Existenz von Bewusstsein kaum abstreiten (auch wenn manche es versuchen), und alle Behauptungen und Ankündigungen einer Reduktion desselben auf chemisch-physikalische Prozesse im Gehirn kommen keinen Millimeter voran. Wenn wir mal annehmen, dass man also mit diesem Ansatz schlicht die falsche Spur verfolgt – wäre dann der Gedanke so abwegig, dass das Ereignis „Leben“ ebenso irreduzibel auf chemische Prozesse sein könnte wie Bewusstsein? Und da wir Bewusstsein nur an Lebendigem feststellen, könnte es ja schlicht als eine Erscheinungsform dieses gleichermaßen unverstandenen Ereignisses betrachtet werden. Schließlich gibt es z.B. im Phänomen der Intentionalität, des „Aus-Seins-auf“ schon auf biologisch niederer Ebene dasselbe Rätsel zu bestaunen, vor dem ratlose Hirnforscher angesichts der planenden Intelligenz im Unterschied zur passiven Datenverarbeitung von Rechenmaschinen stehen.

    Bewusstsein ist keine physikalische Erscheinung, die sich mit irgendeinem Messverfahren nachweisen oder quantifizieren ließe. Selbiges gilt für „Leben“.

    Es mag dem Diskussionsstand von 1840 entsprechen, dass man Lebenskraft neben die physikalischen Kräfte stellt, welche auf die Materie wirken, aber auch in der Theorie des Vitalismus hat man den Energieerhaltungssatz von Robert Mayer (1842) nicht ignoriert. Die Explananda einer Theorie des Lebendigen sind nicht chemischer Natur, sondern solche Ereignisse wie zielgerichtetes Wachstum, das auch Störungen kompensiert, die Einheit eines Organismus, der aus Billionen Zellen besteht, sein Streben (bei Tieren), Wahrnehmung und eine aktive Reaktion darauf, Fortpflanzung und noch vieles andere.

    Die Rede ist also nicht von einer „Kraft“, welche zwischen Materieteilchen wirkt, kausalen Prinzipien unterworfen ist, und in den Forschungsbereich der Naturwissenschaft fällt, sondern um ein völlig anderes „Prinzip“, welches mit unglaublicher Robustheit und Dranghaftigkeit auftritt, und vollkommen un-physikalische (im Sinne von: den aus physikalischer Sicht erwartbaren Abläufen entgegenstehende) Phänomene hervorbringt.

    Ich wundere mich schon mein Lebtag darüber, wie sehr diese Inkongruenz zwischen Augenschein und naturwissenschaftlicher Standardbeschreibung der Welt ignoriert und beiseitegeschoben wird.

    Und ich kann nicht glauben, dass dieses Verdrängen des Offensichtlichen bei gleichzeitig hartnäckigem Scheitern der Durchführung des angekündigten Erklärungsprogramms Ewigkeitswert hat.

    Darum plädiere ich dafür, intelligenten und kreativen vitalistischen Ansätzen wieder eine Chance zu geben.

  32. @fegalo

    Warum Leben (oder Bewusstsein) als eine Reduktion auf einzelne chemisch-physikalische Prozesse denken? Es ist etwas emergentes, aber dazu braucht es im Prinzip nur Physik — ja wahrscheinlich nur Mathematik (sicher bin ich mir diesbezüglich nicht, es fühlt sich nur so an, haha kleiner ernst gemeinter Scherz am Rande).

  33. @ Markus A. Dahlem

    Wie, Sie können Emergenz „fühlen“?

    Wow, das ist mal was Neues!

    Nein, ich halte nichts von dem Konzept der Emergenz. Emergenz ist eine black box, in der man ein Problem versteckt hat, um einen wissenschaftlich klingenden Namen darauf zu schreiben, so als wäre damit die Lösung erfolgt.

    Das Konzept der Emergenz ist vermutlich genau für dieses Problem (Leben und Bewusstsein) erfunden worden. Später hat man es ausgeweitet, um dieses Phänomen als verbreitet und trivial auszugeben. Aber der Philosoph Peter Janich hat diese Augenwischerei schon trefflich analysiert

    http://www.velbrueck-wissenschaft.de/pdfs/peterjanich.pdf

  34. @ Markus A. Dahlem (Nachtrag)

    Inwiefern hilft uns das Konzept der „Emergenz“ zum Verständnis von „Intentionalität”?

  35. Wie schon zuvor: Worte kann man leicht Mitverstehen. Vergessen wir den Begriff Emergenz.

    Nehmen wir Temperatur. Die können wir zwar heute durch Bewegung in gewisser Weise reduzieren, aber muss dass immer so sein? Temperatur ist ein rein makroskopisches Phänomen ohne das ich neue Entitäten in die Physik einführen muss.

    Temperatur mag man als Entität selber verstehen, sie ist in meinem Verständis aber einer (emergente) Eigenschaft von grundlegendem.

    (Und mit “fühlen” meinte ich meinen neoplatonische Reduktion auf Mathematik. Diese fühle ich eher als wahr denn dass ich meinen rechten Arm (den schwächeren) dafür geben würde.)

  36. @ Markus A. Dahlem

    Danke für das Stichwort.

    Temperatur ist ein quantifizierender Begriff für das primäre Sinneserlebnis der Kälte oder Hitze. Diese sind mentale Phänomene, keine physikalischen. Die Reduktion bestand darin, dass wir die Ursache für das, was wir sinnlich fühlen und im ersten Schritt über ein Thermometer zu objektivieren lernten, später als eine molekulare Bewegung erkannten.

    Wo genau fand jetzt die Reduktion statt? Ganz bestimmt nicht vom Sinneserlebnis auf die Molekularbewegung! Denn das GEFÜHL der Temperatur wurde in keiner Weise auf irgendetwas reduziert, da es gar kein physikalisches Ereignis ist, genauso wenig wie der Schmerz, wenn man sich verbrennt, oder das Zittern, wenn man friert.

    Jenseits der sinnlichen Temperaturempfindung wird Temperatur immer mit der Anzeige eines Thermometers gleichgesetzt. Und nur dies ist die physikalische Betrachtungsweise.

    Also: Keine Spur von Emergenz innerhalb der Physik, sondern nur eine Variante des Leib-Seele-Problems (Molekularbewegung – Hitzeempfinden)

    (den Satz in Klammern habe ich nicht verstanden. Aber ich bin auch Linkshänder)

  37. T

    Halte ein! Da muss ich aber hart widersprechen. Wärme und Temperatur mögen als Wörter mal mit dem Perzept zusammen gegangen sein. Aber allein der lineare Zusammenhange mit der Ausdehnung sollte Dich misstrauisch gemacht haben.

    Gehen wir in die statistische Physik, sehen wir schnell, das T als Lagrange-Parameter herausfällt. Ach, wie sag ich’s einfach. Morgen vielleicht mehr. Damit du es mir heute nicht glauben musst.

  38. @ Markus A. Dahlem

    Moment, wir kommen gerade vom Hölzchen aufs Stöckchen. Das Thema war Vitalismus, und die Alternativ“theorie“ Emergenz.

  39. wenig Freiheitsgrade

    Nee, T ist das Paradebeispiel. Wirklich. Hätte ich auch ohne Deine Anmerkungen gerne angebracht.

    Leben wie T sind Dinge, die erst makroskopisch entstehen, ohne dabei irgend etwas besonderen postulieren zu müssen. Leben ungleich wie T scheint sich aber nicht auf wenig Freiheitsgrade reduzieren zu lassen (um den Beitrag aufzugreifen).

  40. @fegalo

    Was Peter Janich da bekrittelt, ist “Emergenz à la Achim Stephan”, und was der Herr Stephan unter Emergenz versteht, muss uns nicht bekümmern.

    Wie Markus Dahlem schon am Beispiel erläutert hat, von Emergenz lässt sich reden in der Situation zweier hierarchisch geordneter Beschreibungsebenen (Bsp. makro-/mikroskopisch), wo auf der oberen Ebene Begriffe eingeführt werden, die auf der niederen nicht definiert sind. Solche Begriffe sollen emergent (relativ zur niederen Ebene) heissen. Das ist schon alles. Dabei wird insbesondere noch nichts zur Reduzierbarkeit eines emergenten Begriffes auf die niedere Begriffsebene gesagt.

    Strenggenommen ist also nur von “emergenten Begriffen” zu reden, etwas salopp vielleicht auch von “emergenten Phänomenen” wenn klar ist, was gemeint wird. Aber nicht von “emergenten Eigenschaften“, was Staphan ausgiebig tut und dafür von Janich m.E. berechtigt in den Hintern getreten wird. Philosophen reden nun mal gerne von “Eigenschaften” (emergent, supervenient, superdupervenient, ..,), und eigentlich immer dann, wenn ihnen gerade kein besseres Wort einfällt.

  41. @ fegalo: Kraftausdrücke

    “[…] wäre dann der Gedanke so abwegig, dass das Ereignis „Leben“ ebenso irreduzibel auf chemische Prozesse sein könnte wie Bewusstsein?

    Ich persönlich halte den Gedanken nicht für abwegig, im Gegenteil er ist für mich sehr nahe liegend. Das zeigt sich ja schon allein daran, dass er sehr häufig geäußert wird und dies schon seit geraumer Zeit.

    Das Problem mit reduktiven Erklärungen ist weit verbreitet in den Naturwissenschaften und ein Erfolg, die bestehenden Lücken schließen zu können, ist nicht garantiert. Einige der offenen Fragen beschreibt Brigitte Falkenburg in ihrem Aufsatz “Was heißt es, determiniert zu sein? – Grenzen der naturwissenschaftlichen Erklärung” (In: Philosophie und Neurowissenschaften, Hrsg: Dieter Sturma, Suhrkamp, 2006). Sie erwähnt vier Beispiele aus unterschiedlichen Bereichen:

    a) Von der Teilchenphysik zur Kern- und Atomphysik

    Auf welche Weise tun sich Quarks und Gluonen zu dynamisch gebundenen Systemen wie dem Proton oder Neutron zusammen?

    b) Von Atomen und Molekülen zu Gasen, Flüssigkeiten und Festkörpern

    Warum ist ein makroskopischer Atomverband lokalisiert, im Gegensatz zu einem einzelnen Elektron oder Proton?

    c) Von der Kosmologie zum Begriff des Weltalters

    Wie erklärt man, dass es ein einheitliches Universum mit einheitlicher Geschichte und einem gemeinsamen Ursprung gibt?

    d) Von Genen zu Organismen, von Neuronen zum Bewusstsein

    Ein Organismus – bestehend aus Atomen, Molekülen, Proteinen, Genen – wie kommt er als solcher zustande und funktioniert?
    Kennen Sie ein Kriterium an dem wir uns orientieren könnten, welche der Lücken noch zu schließen sind?

    Was wäre der Vorteil, zu jeder dieser offenen Fragen eine Kraft zu postulieren, die die jeweilige Lücke schließen soll? Hätten wir dann eine akzeptable Erklärung, die weitere Forschung überflüssig und nutzlos erscheinen ließe?

    Wären die postulierten Kräfte alle in einer Kategorie? Wenn wir für die Beantwortung von d) eine Lebenskraft unterstellen, wären die anderen Kräfte – a) Bindungskraft, b) Lokalisierungskraft, c) Einheitskraft – in der gleichen Kategorie oder bildet Lebenskraft eine Kategorie für sich selbst?

    “Emergenz ist eine black box, in der man ein Problem versteckt hat, um einen wissenschaftlich klingenden Namen darauf zu schreiben, so als wäre damit die Lösung erfolgt. Das Konzept der Emergenz ist vermutlich genau für dieses Problem (Leben und Bewusstsein) erfunden worden.”

    Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das, was sie über die Emergenz vermuten, auch auf das Konzept der Lebenskraft zutrifft.

    Die Hybris der Menschen ist omnipräsent und hat verschiedenen Facetten. Bei vielen Naturwissenschaftlern und Humanisten sieht man: Die einen haben überzogene Vorstellungen, was sie erklären können, die anderen haben überzogene Vorstellungen von dem, was sie sind.

  42. @ Chrys

    „von Emergenz lässt sich reden in der Situation zweier hierarchisch geordneter Beschreibungsebenen (Bsp. makro-/mikroskopisch), wo auf der oberen Ebene Begriffe eingeführt werden, die auf der niederen nicht definiert sind. Solche Begriffe sollen emergent (relativ zur niederen Ebene) heissen. Das ist schon alles.“

    Schön wär’s, wenn das alles wäre. Das wäre in der Tat eine saubere Verwendung des Begriffs, und es würde sich dann herausstellen, dass wir ihn gar nicht bräuchten. In der Physik braucht man ihn auch nicht, und glaube nicht, dass er heutzutage etwa in der phys. Forschung verwendet wird. Eher hat es den Anschein, als wolle man den Kollegen in der Hirnforschung oder in der Evolutionsbiologie beispringen, wo dieser Begriff nämlich ursprünglich eingeführt wurde: um das plötzliche Auftreten von neuen Eigenschaften zu begründen, die sich aus den vorgeblichen Bestandteilen nicht ableiten lassen, und an denen materialistische Rekonstruktionen scheitern. Die Behauptung ist im Falle des Lebens oder des Bewusstseins eben weit mehr als nur ein Umgang mit Begriffen.

    So ist etwa Intentionalität typisch für tierisches Leben, jedoch nicht formulier- oder rekonstruierbar in physikalischen Begriffen. Niemand kann verstehen, wie in Organismen, die nichts weiter sein sollen als komplex organisierte Materie, Intentionalität zustande kommen kann. Also vermutet man einfach einen geheimen Mechanismus von hoher Komplexität, der aufgrund unbekannter Wechselwirkungen und dergleichen einen tatsächlichen Qualitätsumschlag bewirkt – zum Beispiel vom Nichtleben zum Leben oder von Nichtintentionalität (Passivität) zu Intentionalität aus molekularen Prozessen oder vom Nichtbewusstsein zum Bewusstsein aus Nervenprozessen im Gehirn.

    Ich weiß, dass Sie einen „sauberen“ Begriff von Emergenz verwenden, aber mit dem können Sie in der Biologie gar nichts anfangen, denn man möchte sich schlicht über die Probleme hinwegmogeln.

  43. …Brigitte Falkenburg (…) erwähnt vier Beispiele aus unterschiedlichen Bereichen:
    a) Von der Teilchenphysik zur Kern- und Atomphysik
    Auf welche Weise tun sich Quarks und Gluonen zu dynamisch gebundenen Systemen wie dem Proton oder Neutron zusammen?
    b) Von Atomen und Molekülen zu Gasen, Flüssigkeiten und Festkörpern
    Warum ist ein makroskopischer Atomverband lokalisiert, im Gegensatz zu einem einzelnen Elektron oder Proton?
    c) Von der Kosmologie zum Begriff des Weltalters
    Wie erklärt man, dass es ein einheitliches Universum mit einheitlicher Geschichte und einem gemeinsamen Ursprung gibt?

    a) müssen Sie Physiker fragen, b) betrifft das allgemeine Rätsel der Quantenphysik, das ich leider heute abend auch nicht lösen kann, bei c) verstehe ich nicht, worin die Frage besteht: denn erstens wissen wir gar nicht, ob es ein solches Universum gibt, noch verstehe ich, was daran erklärungsbedürftig wäre.

    d) Von Genen zu Organismen, von Neuronen zum Bewusstsein
    Ein Organismus – bestehend aus Atomen, Molekülen, Proteinen, Genen – wie kommt er als solcher zustande und funktioniert?

    Vielleicht ist das bereits die falsche Frage: Sie suggeriert, dass Lebewesen das Ergebnis einer Zusammenstellung von Materie sind, wie man eine Maschine aus irgendeinem Material baut, und die dann funktioniert.

    Im Unterschied zu einer Maschine ist ein Lebewesen jedoch nicht aus etwas anderem zusammengesetzt, sondern die Materieelemente (Moleküle), in die man ein Lebewesen sezieren/analysieren kann, sind vollkommen identisch mit dem Wesen selbst.
    Ein Atom ist nicht auf dieselbe Weise ein „Bestandteil“ eines Lebewesens wie das Stück Holz bei einem Webstuhl.

    Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das, was sie über die Emergenz vermuten, auch auf das Konzept der Lebenskraft zutrifft.

    Ein Konzept der Lebenskraft ist wissenschaftlich allemal heikel, gar keine Frage.

    Wenn man es verwendete, dann nur unter deutlichster Klarstellung seiner wissenschaftstheoretischen Stellung.

    Mit dem Konzept der Lebenskraft verlassen wir den Bereich strenger Naturwissenschaft, denn es gehört in den Bereich der Metaphysik. “Lebenskraft” könnte innerhalb der Naturwissenschaft höchstens etwas wie ein Regulativ oder ein heuristisches Prinzip darstellen. Allerdings glaube ich, dass es hochgradig fruchtbar wäre, der derzeitigen einseitig materialistischen Interpretation eine vitalistische als Konkurrentin an die Seite zu stellen, allein schon, um der durch den Materialismus verursachten Phänomenblindheit innerhalb der Wissenschaft entgegenzuwirken.

  44. @fegalo

    »In der Physik braucht man [den Emergenzbegriff] auch nicht, und glaube nicht, dass er heutzutage etwa in der phys. Forschung verwendet wird.«

    Siehe dazu [Emergence: Non-living, physical systems]. Einen Schlüssel zum Verständnis des Interesses der Physik an Emergenz liefert sicherlich das Essay von Philip W. Anderson, “More is different“, das auch im wiki verlinkt ist.

    Die Philosophen reklamieren beim Emergenzbegriff wohl eine eigene Tradition und drehen ihre Pirouetten dann oft meilenweit entfernt von den Konzepten, die in den exakten Wissenschaften damit verknüpft sind. Die Gefahr besteht durchaus, dass der Begriff durch uneinheitliche Verwending völlig zerschlissen und letztlich unbrauchbar wird.

    Aus wissenschaftl. Sicht braucht es keine nebulösen Emergenztheorien, es geht eigentlich um das generelle Verständnis von “pattern formation in dynamical systems“. Und wenn Sie nach einem Prinzip fragen, gemäss dem jegliche Form und Gestalt, Information und Organisation in die uns wahrnehmbare Welt kommen, dies ist der Weg. Der einzig erkennbare Weg, auf dem sich die Wissenschaft solchen Fragen wie etwa der nach dem Entstehen von Leben oder Bewusstsein sinnvoll nähern kann. Antworten lassen sich aber, wenn überhaupt, immer erst erwarten, wenn man auf einem Weg hinreichend weit vorangekommen ist.

    Ein élan vital, der obskure Kräfte oder Stoffe behauptet, ist wissenschaftl. heute nicht mehr plausibel. Allenfalls die Organisationsmuster, die für Lebensprozesse als charakteristisch erkannt werden, könnte man so bezeichnen, wenn man unbedingt will. Das wäre dann eine Art informationstheoretischer élan vital, und die Naturphilosophen des 18. und 19. Jhdts. wären davon möglicherweise ein wenig enttäuscht.

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