Werden bei uns die Arzneimittel knapp?

BLOG: Babylonische Türme

Vom Nutzen und Missbrauch des Verständigungsmittels Sprache
Babylonische Türme

Die Wochenzeitung „DIE ZEIT“ ist eine Bastion seriöser Berichterstattung (meistens jedenfalls). Jetzt lese ich in der Onlineausgabe: „Lebenswichtige Medikamente in Deutschland werden knapp. Und niemand weiß, welche Arznei als nächstes fehlen wird“. Politik und Pharmaindustrie, heißt es weiter, reden das Problem klein.

Müssen unsere Ärzte also damit rechnen, Patienten nicht mehr angemessen behandeln zu können, weil wir einfach keine Medikamente mehr bekommen? Das wären Zustände, wie man sie sonst nur aus Kriegsgebieten in der dritten Welt kennt. Das macht mir schon Sorgen, also habe ich dazu etwas recherchiert.

Zunächst einmal: Das Problem existiert wirklich. Bisher ist in Deutschland aber wohl noch kein Fall aufgetreten, dass Patienten einen lebenswichtigen Wirkstoff nicht mehr bekommen konnten. Jetzt gibt es aber Krankheiten, bei denen die Wirkstoffzubereitung (in der Fachsprache heißt das Galenik) fast genauso wichtig ist wie der Wirkstoff. Patienten mit einem Mangel an Schilddrüsenhormonen sind normalerweise auf eine bestimmte Menge eines bestimmten Medikaments eingestellt. Sie wissen aus langer Erfahrung, wie viel sie davon nehmen müssen. Bei jeder Umstellung auf einen anderen Hersteller muss die richtige Dosierung neu bestimmt werden, auch wenn die Menge des Hormons, gemessen in Milligramm, gleich ist. Und ausgerechnet die Schilddrüsenhormone waren in den letzten Jahren immer wieder knapp. Die Apotheken konnten das gewohnte Mittel nicht beschaffen, und den Patienten ging es einige Wochen lang nicht gut, bevor sie mit dem Wechsel auf das neue Mittel klarkamen.

Man sollte die Größenordnung des Problems nicht unterschätzen: Nach einer Information des Forschungsministeriums sind etwa ein Drittel aller Deutschen zumindest zeitweilig auf die regelmäßige Belieferung mit Medikamenten angewiesen. Ja, wir sind eine kranke Nation! Aber anderen geht es auch nicht besser, und zumindest England und die USA schlagen sich ebenfalls mit dem Problem von Engpässen bei der Medikamentenversorgung herum.

Es fehlen nicht so sehr die teuren und seltenen Wirkstoffe, sondern die Allerwelts-Medikamente. In den USA gab es sogar eine zeitweilige Knappheit an sterilen Kochsalzlösungen! Auch die Apotheken sind alarmiert. Im Januar sprach Hans Rudolf Diefenbach, der stellvertretende Vorsitzende des Hessischen Apothekerverbandes von „untragbaren Zuständen“.

Warum Engpässe?

Jahrzehntelang hat niemand davon gehört, dass wichtige, aber billige Medikamente der Grundversorgung nicht lieferbar waren. Erst seit etwa fünf Jahren häufen sich die Berichte. Sind wir vielleicht anspruchsvoller geworden? Könnte es sein, dass wir früher einfach gedacht haben: „Na gut, unser Apotheker kann nicht immer alles haben. Wir müssen nehmen, was er liefern kann“? Oder liegt es an der gigantischen Anzahl von Medikamenten? Es gibt immerhin mehr als 48000 rezeptpflichtige Arzneimittel. 2007 waren es übrigens erst 35800. Vielleicht sind auch die rigorosen Rabattverträge der Kassen schuld? Viele Kassen schließen einen Exklusivvertrag mit einem Pharmaunternehmen, das dann einen bestimmten Wirkstoff zu sehr günstigen Konditionen liefern muss. Wenn es aber nicht liefert, fehlt das Mittel plötzlich, weil auch andere Hersteller einen Bogen um den deutschen Markt machen. Schließlich können sie ihr Konkurrenzprodukt hier nicht mehr absetzen.

Der ZEIT-Artikel sieht die Schuld hauptsächlich bei der zunehmenden Konzentration der Produktionsstandorte. Drücken wir es drastischer aus: Oft genug wird der eigentliche Wirkstoff des Medikaments an nur noch ein oder zwei Orten weltweit hergestellt, und die liegen in Indien oder China. James Aylott, Sales Director bei Kent Pharmaceuticals in England, erklärte das Problem am Beispiel von Penicillin. „Es gibt nur eine Quelle des Wirkstoffs (Active Pharmaceutical Ingredient – API) in der ganzen Welt und die ist in China. Ich brauche ein Jahr um dieses API von China in meine Fabrik zu bekommen und es für die Produktion vorzubereiten. Wenn also [einer meiner Konkurrenten] ausfällt … wie kann ich dann reagieren, wenn ich ein Jahr Vorlauf habe?”, fragte er. Auch in Deutschland ist das Problem durchaus bekannt. 2011 schrieb die Pharmazeutische Zeitung:

In Asien hergestellt, in Ungarn oder Rumänien verpackt, in Malta kontrolliert, zum Schluss nach Deutschland transportiert: Solche »Reiserouten« sind für Arzneimittel längst keine Ausnahme mehr.

Ein Produktionsstillstand einer einzigen Fabrik in China oder Indien kann einen wichtigen Wirkstoff auf Monate hinaus in der ganzen Welt knapp werden lassen. Das ist die Kehrseite der Globalisierung!

Was soll man also tun?

Das Grundproblem ist kaum lösbar, denn man kann nicht in jeder Region eine eigene Produktion aufbauen. Das würde Jahre dauern und sehr viel Geld kosten. Selbst die Einrichtung einer „nationalen Reserve“ wäre schwierig, weil die meisten Wirkstoffe nicht allzu lange halten. Sie müssten also ständig entsorgt und neu beschafft werden. Auch das wäre teuer, besonders wenn man mehrere hundert Wirkstoffe vorhalten will. Könnte man vielleicht eine Produktion aufbauen, die verschiedenste Wirkstoffe „On Demand“ herstellen kann? So wie ein Buch erst bei Bestellung ausgedruckt wird, würde eine Art chemische Universalfabrik Wirkstoffe erzeugen, sobald sie knapp werden. Ich bin kein Chemiker, aber auch das stelle ich mir sehr schwierig vor, schon weil jeder Stoff in höchster Reinheit und unter genau kontrollierten Umständen erzeugt werden muss. Dazu kommen noch die Auflagen der Behörden und Genehmigungen. Man brauchte dazu Experten mit überragenden Fähigkeiten. Sie müssten aber bereit sein, den größten Teil ihrer Arbeitszeit mit Trockenübungen zu verbringen, um im Notfall kurzzeitig als Feuerwehr einzuspringen.

Was immer man auch versucht, kostet auf jeden Fall viel Geld und wird das Gesundheitswesen weiter aufblähen. Ein System, das immer alle vollständig versorgt, gibt es nicht zu Nulltarif. Entweder sind wir bereit, das zu bezahlen, oder wir müssen mit den Lücken leben.

In jedem Fall sollten wir uns aber Gedanken machen, wie wir einen wirklich ernsten Ausfall überbrücken können. Was passiert, wenn beispielsweise die einzige Produktionsstätte für Penizillin abbrennt und ein halbes Jahr ausfällt? Früher oder später müssen wir mit einem Ausfall rechnen, und dann sollten wir vorbereitet sein.

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Martina Grüter ist Medizinerin und befasst sich seit 2001 der angeborenen Prosopagnosie, einem erblichen Defizit in der Gesichtserkennung und Verarbeitung. Das Thema hat ihr gezeigt, wie vielschichtig die Verarbeitung von Informationen im Gehirn sind und wie wenige Erkenntnisse wirklich gesichert sind. Sie ist affiliert am Lehrstuhl für allgemeine Psychologie und Methodenlehre der Universität Bamberg und arbeitet mit Wissenschaftlern an mehreren deutschen Universitäten an verschiedenen Forschungsprojekten.

4 Kommentare

  1. Ein 3D-Drucker für die galenische Zubereitung von Medikamenten, deren Grundstoff man im Tiefkühler des Spitals selbst lagert wäre doch die perfekte Lösung. Der eigentliche Wirkstoff, beispielsweise Insulin oder Penizillin ist wohl meist im tiefgekühlten Zustand fast unbeschränkt haltbar. Die Zusatzstoffe, die die Aufnahme des Medikaments (beispielsweise im Darm) beeinflussen und die über den Zeitverlauf der Dosiskurve bestimmen, sind dagegen meist weniger gut haltbar und müssen zudem auf den Patienten (Körpergewicht, Alter, Geschlecht) abgestimmt werden. Doch diese galenischen Zusatzstoffe sind oft ähnlich selbst für ganz verschiedene Grundwirkstoffe.
    Die Steuerungssoftware eines 3D-Medikamentendrucker würde also die galenischen Anforderungen und den Grundstoff als Input erhalten und dann das Medikament zubereiten.

    Ein 3D-Medikamentendrucker für den Hausgebrauch wie im verlinkten Video (BBC) dargestellt ist allerdings nicht das was ein Krankenhaus braucht. Da gelten schon höhere Qualitätsmassstäbe.
    Ein Problem könnte wohl sein, dass die Pharamfirmen befürchten werden, dass ihr lukrativer Markt zerstört wird.

    • Ein 3D-Drucker für die galenische Zubereitung von Medikamenten, deren Grundstoff man im Tiefkühler des Spitals selbst lagert wäre doch die perfekte Lösung.

      Ohne jetzt in dieses Horn stoßen zu wollen:
      -> http://www.welt.de/wirtschaft/article130570280/Technik-wird-jeden-Zweiten-in-Deutschland-ersetzen.html

      Aber so wie der zunehmende Einsatz von Technik oder Technologie an bestimmten Stellen Arbeitsplätze kostet, wird er an anderer Stelle Arbeitsplätze schaffen. (Wenn nicht reine Maschinenwelten, die womöglich noch die politische Macht ergreifen werden, gemeint sind, dies eher spaßeshalber angemerkt. [2])
      Aus bestimmter Sicht ist er alternativlos.

      Auf den WebLog-Artikel bezogen könnte von Herstellungs- oder Allokations-Problemen [1] ausgegangen werden, Arzneimittel betreffend,
      Ein nachvollziehbares Thema.

      Herr Holzherr, und auch nur weil sich derartige Nachricht von Ihnen häuft: Stellen Sie sich “3D-Drucker” bitte nicht als perfekte Fabrikationseinheiten vor, die Geschäftsmodelle überschreiben.

      MFG
      Dr. W

      [1] ein bekannter Topic
      [2] man wäre hier auch schnell bei den Terminator-Filmen, auch sehr interessant btw

  2. 3D-Parma-Drucker kommen, glaubt man dem Artikel Pharma develops 3D vision
    Gerade die zunehmende Bedeutung personalisierter Medizin erzwingt eigentlich eine optimale Zubereitung von Pharmaka. Der folgende Abschnitt des verlinkten Artikels geht speziell auf die zunehmende Bedeutung personalisierter Medizin ein:

    For instance, Shaban Khaled et al from the University’s School of Pharmacy report in the International Journal of Pharmaceutics how they used a 3D printer to make complex, sustained-release tablets that met and on some variables exceeded the characteristics of a commercially-available product.

    The researchers believe that the pharmaceutical industry will have to embrace new ways to manufacture drugs as current approaches – in which they are almost universally manufactured at large centralised plants via processes essentially unchanged in concept for well over a century – will not be able to cope with the shift towards personalised medicine.

  3. James Aylott, Sales Director irrt, wenn er sagt „Es gibt nur eine Quelle des Wirkstoffs (Active Pharmaceutical Ingredient – API) in der ganzen Welt und die ist in China. Ich brauche ein Jahr um dieses API von China in meine Fabrik zu bekommen und es für die Produktion vorzubereiten”.

    Der gute Mann sollte einmal bei Sandoz Austria (früher Biochemie Kundl) nachfragen:
    Sandoz deckt zwei Drittel der weltweiten Produktion an Penicillin V ab und dies schon seit Jahrzehnten (das säurestabile Penicillin V wurde 1951 in Kundl entdeckt). Sandoz produziert Wirkstoffe zur eigenen Weiterverarbeitung, aber auch für zahlreiche Kooperationspartner, ist führender Anbieter von Antibiotika wie Penicilline, Cefalosporine, Makrolide oder Clavulansäure.

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